Читать книгу Zarenblut - Ein Fall für Julia Wagner: Band 4 - Tanja Noy - Страница 11

6. KAPITEL

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Wahnsinnig vor Angst

Mainz

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte der Mann, der sich als Thorsten Flöter und verantwortlicher Sozialarbeiter vorgestellt hatte. Er war groß, deutlich über einen Meter achtzig, blond, mit einem Pferdeschwanz. Ein leichter Dialekt klang in seiner Stimme mit.

„Wir sind auf der Suche nach Edi Kern“, sagte Julia.

„Richtig. Sie hatten angerufen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, einen Moment zu warten? Ich bin gleich wieder da.“

„Gleich“ war, wie sich herausstellte, schamlos übertrieben. Julia und Eva mussten sich in Geduld üben.

Als Flöter endlich zurückkam, war er wieder die Freundlichkeit in Person. „Tut mir leid, dass Sie warten mussten“, sagte er. „Aber ich bin alleine, und hier ist immer eine Menge zu tun.“ Er machte eine entschuldigende Geste mit den Händen. „Kommen Sie mit.“

Während sie dem Sozialarbeiter folgten, warf Julia einen Blick in einen Aufenthaltsraum auf der rechten Seite, dessen Wände eine Tapete mit großen Blumen zierte. „Seit wann ist Edi hier?“, wollte sie wissen.

„Seit gestern. Er stand plötzlich vor der Tür und bestand darauf, dass wir ihn hereinlassen. Er befand sich in einer sehr schlechten psychischen Verfassung, und natürlich waren wir sofort bereit, ihm unsere Hilfe anzubieten. Seitdem hat er das Zimmer allerdings nicht mehr verlassen.“

Kurz darauf erreichten sie eine geschlossene Tür.

„Versuchen Sie es“, sagte Flöter. „Vielleicht redet er ja mit Ihnen.“

Der Raum war leer und nicht gerade hell erleuchtet, obwohl die Lampe an der Decke eingeschaltet war. Doch es reichte, um ein zerwühltes Bett zu erkennen, vor dem auf dem Boden mehrere scharfe Glassplitter funkelten. Und dass auf die Wand – offenbar mit Blut – das Wort Kraniche geschmiert worden war.

Und das nicht nur einmal.

Es stand da zweimal.

Dreimal.

Viermal.

Flöter blinzelte. „Was soll das bedeuten? Hat Edi das an die Wand geschrieben?“

„Was denken Sie?“, gab Julia zurück.

„Dann muss er verletzt sein.“ Der Sozialarbeiter sah sich um. „Und wo ist er jetzt? Er kann nicht aus dem Haus gegangen sein, denn dann hätte ich ihn gesehen. Also muss er sich im Badezimmer befinden.“ Er wollte zu der Tür gehen, doch Julia hielt ihn am Arm fest. „Warten Sie. Lassen Sie mich.“ Langsam bewegte sie sich auf die Badezimmertür zu, blieb davor stehen, zögerte, lauschte, aber hinter der Tür war es so still wie in einem Grab. Sie sagte: „Edi, hören Sie mich? Mein Name ist Julia Wagner. Ich möchte nur mit Ihnen reden.“

Sekunden vergingen.

Sie erhielt keine Antwort, und es kam auch niemand heraus.

Julia griff nach der Türklinke und drückte sie nach unten. Dann schob sie die Tür auf, gewappnet für alles, was sie dort erwarten könnte.

Aber da war nichts. Und niemand. Das Badezimmer war leer. Das Einzige, was herausdrang, war ein fürchterlicher Gestank, eine Mischung aus Urin und Exkrementen.

Eva, die ein paar Meter hinter Julia stand, hielt sich schnell den Schal vor die Nase. „Meine Güte!“

Julia presste sich die Hand über Mund und Nase und machte vorsichtig einen Schritt hinein.

Das Badezimmer war tatsächlich leer, aber auf dem Boden befanden sich Pfützen von Urin und Blut, und die Duschwanne war mit Kot beschmiert.

„Was um Himmels willen …?“ Flöter sah aus, als würde er sich jeden Moment übergeben.

Jemand hatte mit einer Mischung aus Kot und Blut das Wort Kranich auf den Badezimmerspiegel geschrieben, und da der Gestank kaum auszuhalten war, zogen sie sich wieder ins Zimmer zurück. Aber auch jetzt schienen sie dem Geruch nicht entkommen zu können. Sie mussten den Raum ganz verlassen.

„Glaubst du …“, setzte Eva an und hustete. „Glaubst du, das hat Edi geschrieben?“

„Es ist anzunehmen“, gab Julia zurück.

„Dann muss er verrückt gewesen sein vor Angst. Im wahrsten Sinne des Wortes.“

„Was ist denn nur mit ihm geschehen?“ Flöter machte eine hilflose Geste.

„Ich dachte, Sie sind hier, um auf ihn aufzupassen“, wandte Julia sich an ihn. „Ist das nicht Ihr Job?“

„Er ist nicht an mir vorbeigegangen, ich schwöre es. Lieber Himmel, mir … sträuben sich die Haare im Nacken.“ Als er ihren Blick sah, erstarrte Flöter in der Bewegung. „Sie glauben doch wohl nicht, dass ich etwas damit zu tun habe?“

„Wann genau haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?“, wollte Julia wissen.

„Heute, gegen achtzehn Uhr. Ich wollte ihn zum Abendessen bewegen, aber er weigerte sich. Er wollte auf gar keinen Fall das Zimmer verlassen. Danach habe ich ihn nicht mehr … gesehen. Und ich bleibe dabei, er kann nicht …“

Das Telefon im Flur klingelte. Flöter wandte sich kurz um, dann sah er wieder Julia an. Dann erneut zum Telefon. Als er sich in Bewegung setzen wollte, sagte sie: „Verschieben Sie es auf später.“

„Aber ich muss doch …“

„Verschieben Sie es auf später. Wir müssen reden. Jetzt.“

Flöter nickte widerwillig.

Julia deutete auf die Zimmertür. „Versuchen Sie bitte, sich zu erinnern, wie sich Ihr letztes Treffen mit Edi in diesem Zimmer abgespielt hat.“

Der Sozialarbeiter konzentrierte sich. „Er saß auf dem Bett, hatte die Beine angezogen und die Arme darum gelegt. Er zitterte, hatte ganz offensichtlich Angst. Ich kam herein, und er sagte sofort, dass ich die Tür hinter mir schließen soll. Und dass ich das Licht ausmachen soll, was ich natürlich nicht getan habe.“

„Und weiter?“

„Er fragte mich, ob ich es auch hören würde.“

„Was?“

Flöter schnitt eine Grimasse. „Ein Huschen. Ein Atmen. Ich sagte ihm, dass ich nichts höre. Er sagte: Sie sind hier. Und ich fragte: Wer? Er sagte: Die Teufel. Ich sagte ihm, dass ich nicht wüsste, wovon er redete, aber wenn er das Bedürfnis hätte, mit mir darüber zu sprechen, dann wäre ich für ihn da. Er aber sagte Nein, und dann sagte er gar nichts mehr.“

Julia wartete, und als zu lange nichts mehr von dem Sozialarbeiter kam, fragte sie: „Und dann haben Sie das Zimmer wieder verlassen?“

„Ja. Was hätte ich sonst tun sollen? Er wollte ja nicht reden. Und essen wollte er auch nichts.“ Mit bleichem Gesicht starrte Flöter auf den Boden. „Ich weiß, ich hätte noch einmal nach ihm sehen müssen.“ Er schaute Julia wieder an. „Aber wenn er das Zimmer verlassen hätte, dann hätte er an mir vorbeigemusst. Ich hätte ihn sehen müssen.“

„Es sei denn, Sie waren gerade woanders“, stellte sie fest. „Waren Sie irgendwo anders? Irgendwo, von wo aus Sie den Flur nicht überblicken können?“

„Nein!“

„Hören Sie, niemand will Ihnen unterstellen, Sie hätten nachlässig gehandelt oder etwas falsch gemacht“, versicherte Julia. „Ich stelle diese Fragen nur, weil sie wichtig sind. Weil es wichtig ist, Edi rechtzeitig zu finden. Verstehen Sie das?“

Flöter nickte langsam. „Natürlich muss ich irgendwann auch einmal auf die Toilette. Und in andere Zimmer gehen, um nach den restlichen Bewohnern zu sehen. Das ist ja wohl ganz normal.“

„Natürlich. Hat Edi sich mit anderen Bewohnern unterhalten?“

„Nein, ich glaube nicht. Er kam ja nicht mehr aus dem Zimmer heraus, nachdem er erst einmal drin war. Und besucht hat ihn niemand. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste.“ Flöter hob beinahe verzweifelt die Hände. „Es tut mir wirklich leid. Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß.“

Julia nickte. Das war es. Alle Fragen waren gestellt. Mehr konnte sie nicht tun.

Sie verließen das Heim und hörten, wie Flöter die Tür hinter ihnen schloss.

„Ich kann das gar nicht fassen“, sagte Eva, als sie wieder im Wagen saßen. „So etwas habe ich noch nie in meinem Leben gesehen.“

„Ich auch nicht.“ Julia steckte den Schlüssel ins Zündschloss, ohne den Motor zu starten.

„Der Mann muss regelrecht krank gewesen sein vor Angst.“

„Ja.“

Eva warf Julia einen Blick zu. „Meinst du, er ist noch am Leben?“

„Ich hoffe es.“

„Aber wo steckt er jetzt? Ich meine, wo sollen wir nach ihm suchen? Mainz ist groß. Er kann überall sein.“

Julia rieb sich über die Augen. „Ich weiß es nicht. Wir brauchen einen anderen Ansatz.“ Sie drehte den Zündschlüssel und startete den Motor, machte ihn jedoch sofort wieder aus. Ein leichtes Kribbeln zog ihren Rücken hinauf, während sie beobachtete, wie Flöter aus der Anlaufstelle kam. Er schlug den Kragen seiner Jacke nach oben und eilte die Straße hinauf.

„Ist das nicht Flöter?“, sagte Eva.

„Ja.“ Julia öffnete die Tür. „Ich werde ihm folgen. Bleib du hier.“

„Warte mal!“

Aber Julia war bereits aus dem Wagen gestiegen und hatte sich in Bewegung gesetzt.

Sie folgte dem Sozialarbeiter bis hin zu einer einsamen Kleingartensiedlung. Dort lief er einen Weg entlang und schien nach einer ganz bestimmten Parzelle zu suchen. Um ein Haar hätte er sie entdeckt, als er plötzlich stehen blieb und sich umdrehte. Julia konnte gerade noch hinter einer hohen Hecke verschwinden.

Dann schien er endlich gefunden zu haben, wonach er suchte. Er blieb vor einem niedrigen Holztörchen stehen, öffnete es und verschwand im verschneiten Garten.

Julia beobachtete, wie er einen Schlüssel unter einem Stein hervorholte und kurz darauf eine Hütte betrat. Sie warf einen Blick auf die Gärten links und rechts, die ordentlich in Reih und Glied angelegt waren und hinter einem halbhohen Maschendrahtzaun lagen. Dann bewegte sie sich langsam auf das Gartentor zu, blieb wieder stehen. In der Hütte blieb es dunkel. Flöter machte kein Licht. Warum machte er kein Licht?

Vorsichtig trat Julia durch das niedrige Tor und ging auf die Hütte zu. Deren Eingang war von einer hohen Fichte bedeckt, einem ungewöhnlich großen Baum, der nicht so recht in eine Gartenkolonie passen wollte, im Sommer allerdings sicher reichlich Schatten spendete.

Bei der Hütte angekommen, versuchte Julia durch eines der Fenster zu spähen, aber ein Vorhang verhinderte den Einblick. Also schlich sie zur Tür, legte die Hand auf die Klinke und drückte sie langsam, Millimeter für Millimeter, nach unten. Ihr Puls beschleunigte sich. Sanft schob sie die Tür auf und versuchte gleichzeitig, durch den entstehenden Spalt etwas in der dunklen Hütte zu erkennen. Und tatsächlich. Schemenhaft erkannte sie einen Menschen, der auf dem Boden kauerte und von dem sie annahm, dass es Flöter war. Überprüfen konnte sie es nicht, weil in der nächsten Sekunde etwas hinter ihr knirschte.

Julia wirbelte herum und merkte gerade noch, dass da eine weitere Person war. Dann sauste etwas auf ihren Kopf zu. Traf sie schmerzhaft. Und sie sackte in sich zusammen.

Der Schmerz war da, noch bevor die Erinnerung zurückkam, und er war heftig.

Etwas war auf sie zugerast, und zwar so schnell, dass sie keine Möglichkeit mehr gehabt hatte, diesem – was auch immer es gewesen war; angefühlt hatte es sich wie ein Felsblock – auszuweichen.

Das dröhnende Hämmern in Julias Schädel war unerträglich. Dann spürte sie, wie etwas an ihr ruckelte. Hörte eine Stimme, die ihren Namen sagte. Weit weg. Sehr weit weg.

Noch einmal ihr Name.

Und noch einmal.

Schließlich öffnete Julia die Augen, und eine neue Welle des Schmerzes schoss durch ihr Gehirn. Sie zwang sich, die Augen offen zu halten, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatte. Dann erkannte sie, dass sie auf dem Boden lag, den Kopf in Evas Schoß gebettet.

„Wo kommst du denn her?“ Vorsichtig richtete Julia sich auf.

„Ich bin dir gefolgt“, sagte Eva. „Glücklicherweise, möchte ich sagen.“

„Hatte ich dir nicht gesagt, du sollst im Wagen bleiben?“

„Willst du jetzt wirklich mit mir diskutieren?“

„Nein.“ Julia griff sich an den Kopf. „Jemand hat mir eins übergezogen.“

„Ich weiß, aber ich konnte die Person nicht erkennen. Ich habe nur einen dunklen Schatten davonlaufen sehen. Gleich darauf ist auch Flöter verschwunden. Konntest du etwas erkennen?“

„Nein.“ Julia beugte sich nach vorne und stützte den Kopf in die Hände. „Wie lange war ich weg?“

„Ein paar Minuten.“

„Prima. Und jetzt sind beide verschwunden.“

„Wieso war Flöter überhaupt in der Hütte? Was kann er hier gewollt haben?“

„Ich weiß es nicht.“ Julia hielt sich immer noch den Kopf. „Es ist ja nicht so, als ginge es in meinem Kopf nicht auch so schon drunter und drüber. Muss man dann auch noch draufschlagen?“

„Kannst du aufstehen?“, fragte Eva.

„Glaub schon.“ Als Julia wieder auf den Beinen stand, atmete sie tief durch, um neue Energie zu tanken. Es funktionierte nicht hundertprozentig, aber immerhin. „Wird schon“, sagte sie zu sich selbst. „Noch nicht ideal, aber ganz gut.“ An Eva gewandt, sagte sie: „Ich weiß, ich sollte es nicht sagen, weil es dich dazu verleiten könnte, weitere Dummheiten zu begehen, aber ich bin froh, dass du mir nachgegangen bist.“

Eva zog die Augenbrauen in die Höhe. „Willst du mir mit diesen vielen Worten etwa danken?“

„Sieht so aus.“

„Prima. Dann nehme ich dieses Highlight des Tages so hin und werde nicht weiter darauf eingehen, denn wenn ich es tue, provoziere ich, dass du es dir wieder anders überlegst und die Worte zurücknimmst.“ Sie hakte Julia unter. „Kannst du gehen?“

„Ja.“

„Sicher?“

„Ja.“

„Gut. Dann lass uns verschwinden. Ich fühle mich äußerst unwohl hier, und das nicht nur wegen der Kälte.“

Zarenblut - Ein Fall für Julia Wagner: Band 4

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