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8. KAPITEL

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Ein von Menschen gemachter Albtraum

Dienstag, 21. Dezember

Hannover

Die nächste Person, die die Anwältin Britta Stark fand, war Emilie Wackernagel, ihre Putzfrau, eine kräftig gebaute Frau von Anfang fünfzig. Mit schnellen Schritten und geradem Rücken stapfte sie durch den kniehohen Schnee auf das Haus zu, dann stieg sie die Stufen hinauf, wobei ihr üppiger Busen atemlos wogte – und stellte fest, dass die Tür offen stand.

Emilie hielt einen Moment inne, trat dann verwundert in den Vorraum und rief: „Frau Stark?“

Keine Antwort.

Noch einmal: „Frau Stark?“

Nichts.

Die Putzfrau ging auf das Wohnzimmer zu, dessen Tür ebenfalls offen stand. Sie machte einen Schritt nach vorne, dann noch einen. Und dann sah sie sie.

Ein Geräusch, das nicht zu identifizieren war, drang aus Emilie Wackernagels Mund und wurde gleich darauf zu einem Schrei.

Sie schrie.

Und schrie.

Sie konnte einfach nicht damit aufhören.

Kriminalhauptkommissarin Charlotte Gärtner hasste es. Sie hasste es wirklich. Seit mittlerweile drei Tagen lag Hannover nun schon unter dieser verdammten weißen Decke, und es wollte und wollte einfach kein Ende nehmen. Mindestens zehn Zentimeter Neuschnee waren in der letzten Nacht noch einmal dazugekommen. Und als ob das allein nicht schon schlimm genug wäre, kam zu alldem auch noch Weihnachten hinzu, dieses völlig überbewertete Fest der Liebe.

Und der Heizkessel spielte auch nicht mehr mit. Charlotte stand in ihrem Keller und begutachtete ein paar Sekunden lang den Brenner und die stillen Rohrleitungen. Dann verlegte sie sich darauf, den Kessel anzufunkeln in der Hoffnung, ein böser Blick könnte der Anlage vielleicht Angst einflößen und sie wieder zum Laufen bringen. Bei Verdächtigen funktionierte das immerhin oft genug.

Der Heizkessel ließ sich jedoch davon nicht beeindrucken.

Laut vor sich hin fluchend stieg Charlotte die Treppe hinauf, überquerte den Flur und wickelte sich im Schlafzimmer noch einen weiteren Schal um und zog sich einen weiteren Pullover über. Dabei fiel ihr Blick in den Spiegel am Wandschrank, der eine wenig attraktive Person zeigte, die von der Natur eher wenig begünstigt war – wie sie selbst meinte. Stämmige Beine, eine korpulente Figur und streichholzkurze blonde Haare, die in alle Himmelrichtungen vom Kopf abstanden.

Charlotte Gärtner setzte nicht auf makellose Eleganz und schon gar nicht auf unnötigen Charme. Und jetzt, mit den zwei Pullovern und der dicken Jacke, in die sie sich noch zusätzlich zwängte, sowieso nicht. Um dem Ganzen – im wahrsten Sinne des Wortes – die Krone aufzusetzen, stülpte sie sich noch eine Strickmütze mit Bommel auf den Kopf. Damit konnte dann wirklich und endgültig jedes Bemühen um Stil als gescheitert angesehen werden. Sie ging zurück in den Flur, hauchte in ihre Hände und wollte gerade nach dem Hörer greifen, um den Monteur anzurufen, als das Telefon klingelte. Sie nahm ab, hörte einen Moment zu und sagte dann: „Ich komme.“

Da die Scheiben ihres BMW Z4, der eigentlich winterfest sein sollte – jedenfalls hatte der Verkäufer das behauptet, allerdings war winterfest ein relativer Begriff, wie sich nun herausstellte –, auf allen Seiten von außen und innen gefroren waren, wie sie beim Einsteigen bemerkte, kratzte Charlotte mit einem primitiven Plastikschaber ein paar Minuten lang ohne großen Erfolg an ihnen herum. Da sich ihre Finger trotz Handschuhen schon bald klamm anfühlten, begnügte sie sich mit mehreren kleinen Gucklöchern.

Während der folgenden Fahrt erfassten immer wieder heftige Böen den Wagen und zerrten zornig an seiner Karosserie. Im Schritttempo fuhr Charlotte durch die Stadt, weil sie kaum etwas sah. Zudem musste sie immer wieder gegensteuern, um nicht auf der schneebedeckten Fahrbahn wie ein Spielzeug in die Leitplanken gedrückt zu werden. So ein Wetter hatte sie noch nie erlebt. Selbst mit einer klaren Frontscheibe hätte die Sichtweite kaum mehr als zwanzig Meter betragen. Wetterverhältnisse, die man sonst nur aus dem Fernsehen kannte. Als befände man sich irgendwo in den Alpen und nicht in Norddeutschland.

Und trotzdem, trotz der langsamen Fahrweise kam Charlotte verhältnismäßig schnell am Tatort an. Sie stieg aus ihrem Wagen und zog sich die Bommelmütze tiefer in die Stirn. Da alles um das Haus herum bereits mit rot-weißem Absperrband versehen war, war ihr keine andere Wahl geblieben, als fünfhundert Meter weiter um die Ecke zu parken und sich nun durch die heftigen Schneewehen über die Straße zu kämpfen.

Schließlich erreichte sie einen Kollegen von der Streife, der sie an der Grenze des abgesperrten Bereiches anhielt und mit reichlich Überheblichkeit in der Stimme sagte: „Wo wollen Sie hin?“ Sein Atem wogte wie Rauch in der eisigen Luft.

„In das Haus“, sagte Charlotte.

„Da dürfen Sie nicht rein. Spurensicherung.“

„Ich bin Kriminalhauptkommissarin Charlotte Gärtner. Ich darf rein.“

„Ihren Dienstausweis, bitte.“

Widerwillig suchte Charlotte in ihrer Jackentasche nach dem Dokument, und als sie es endlich gefunden hatte, wedelte sie dem Kollegen damit vor der Nase herum. „Zufrieden?“

Er warf einen Blick darauf und wurde rot. „Tut mir leid. Ich mache nur meinen Job.“

„Ist mein Kollege Tech schon drin?“

„Nein.“

„Wird er auch seinen Ausweis zeigen müssen?“

„Ja.“

„Dann ist es in Ordnung.“

Charlotte ließ den Beamten stehen und betrat gleich darauf das Haus. Im Flur sah sie sich einen Moment lang um, dann hörte sie das Rascheln von Papierüberschuhen, und im nächsten Moment kam ein Mann von der Spurensicherung zu ihr getappt. „Noble Hütte, hm?“, sagte er.

Sie wollte antworten, wurde aber von einem Windstoß unterbrochen, der ins Haus fegte.

„Würden Sie bitte die Tür zumachen?“, sagte sie zu einem der Beamten an der Tür.

Er nickte und tat es.

„Wo ist das Opfer?“, fragte sie dann in Richtung Spurensicherung.

„Im Wohnzimmer.“

Charlotte nickte und folgte dem ausgestreckten Zeigefinger.

Im Türrahmen blieb sie stehen und überriss im Bruchteil einer Sekunde folgende drei Dinge.

Das Opfer war eine Frau.

Das Opfer saß in einem Sessel.

Das Opfer hatte ein Loch in der Brust.

Es herrschte drangvolle Enge am Tatort. Allein von der Spurensicherung wuselten vier Beamte in weißen Schutzanzügen im Wohnzimmer herum. Zwei stellten Fingerabdrücke sicher, während ein dritter Fotos schoss und der vierte für die Nachwelt alles auf Video bannte.

Während die Kamera aufblitzte, stellte Charlotte fest, dass das Opfer Mitte dreißig bis Anfang vierzig war und eine rote Bluse trug, die offenbar aufgerissen worden war, denn der Oberkörper war weitestgehend nackt. Die Beine waren ausgestreckt, beide Hände hingen links und rechts über die Sessellehnen. Der Mund war halb geöffnet, ebenso die Augenlider. Die Pupillen waren nach oben gerichtet, der Blick gebrochen. Es sah aus, als habe die Tote in den letzten Sekunden ihres Lebens und noch bei Bewusstsein in den Abgrund des bevorstehenden Todes geschaut und verstanden, dass nichts und niemand ihr mehr helfen würde.

„Keine schöne Sache, so kurz vor Weihnachten“, hustete eine Stimme hinter Charlotte.

Sie wandte sich um und stand einem großen, sehr dünnen Mann mit struppigem rotblondem Haar gegenüber. Seine Nase war rot, und ein kleiner Tropfen hing an der äußersten Spitze. Zusammen mit dem hellgelben Anorak, den er trug, erinnerte er auffallend an Tweety, den Vogel.

Charlotte seufzte leise. Michael Tech. Ein ganz besonderer Fall. Nicht nur, dass sie mit ihm arbeiten musste und er ihr fürchterlich auf die Nerven ging, nein, er hatte auch die lästige Angewohnheit, sich, wann immer er nervös war oder nachdachte – oder nachdachte und nervös war –, den Finger ins Ohr zu stecken, um darin zu pulen.

Glücklicherweise tat er das jetzt nicht. „Ich bin erkältet und sollte eigentlich im Bett liegen“, sagte er. „Und sprechen sollte ich eigentlich auch nicht.“

„Dann seien Sie am besten still, Herr Tech“, gab Charlotte zurück.

Nein, es verband sie wahrlich keine Liebe. Nicht einmal Freundschaft.

Noch heute erinnerte Charlotte sich mit Genugtuung daran, wie er den Fall in der Psychiatrie Mönchshof vergeigt hatte, nachdem man ihn ihr weggenommen hatte. Oh ja, das war ihr wirklich ein inneres Freudenfest gewesen. Zu gerne hätte sie noch etwas länger in dieser wunderbaren Erinnerung geschwelgt, doch sie versagte es sich, es gab jetzt Wichtigeres zu tun. „Wurde sie so gefunden?“, wollte sie wissen.

„Nein. Sie war vollständig mit einer Wolldecke zugedeckt.“

„Der Mörder hat sie zugedeckt?“

„Keine Ahnung.“

„Wer hat sie gefunden?“

„Die Putzfrau. Sie kam um kurz nach acht Uhr, wollte die Tür aufschließen …“

„Also hat sie einen Schlüssel?“

„Ja. Aber die Tür war bereits offen.“

„Wo ist die Frau jetzt?“

„Sie sitzt draußen in einem Polizeiwagen und wartet.“

„In Ordnung.“ Charlotte richtete sich etwas auf. „Ich werde gleich mit ihr sprechen. Haben Sie schon mit den Nachbarn geredet?“

„Nein.“

„Dann tun Sie es jetzt. Befragen Sie alle. Ob sie Autos oder fremde Personen gesehen haben, die nicht hierhergehören. Die Leute sollen sich den Kopf zerbrechen. Vielleicht ist ja irgendjemandem irgendetwas aufgefallen.“

Widerwillig blickte Tech in Richtung Haustür. Noch viel widerwilliger zog er den Reißverschluss seiner gelben Jacke bis ganz nach oben und brummte: „Okay.“ Kurz darauf war er an der Tür und hatte sie gerade geöffnet, als eine mittelgroße Frau von Ende fünfzig mit blondierten Strähnen und einer roten Brille von Dior auf der Nase hereinkam. Mit einem Hauch von Schärfe in der Stimme fragte sie: „Was haben wir heute?“

Dr. Hannelore Strickner, die Gerichtsmedizinerin. Eine Frau, die nicht viele überflüssige Worte benutzte. Allerdings hatte das, was sie sagte, dafür umso mehr Gewicht.

Charlotte beobachtete, wie die Ärztin auf die Leiche zuging und sie umkreiste, peinlich genau darauf achtend, wohin sie den nächsten Fuß setzte, ehe sie sich nach vorne beugte, um die Schusswunde besser betrachten zu können. Dann öffnete sie ihren Koffer und griff nach einem Thermometer, das sie unter die rechte Achsel der Toten steckte. Während sie abwartete, bis dieses die Temperatur anzeigte, überprüfte sie, ob außer der offensichtlichen Schussverletzung noch weitere Wunden vorlagen.

„Was können Sie mir jetzt schon sagen?“, fragte Charlotte nach einer, wie sie fand, angemessenen Zeit des Abwartens.

„Dass ein einziger Schuss gereicht hat“, sagte die Strickner, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen.

„Mit was für einer Waffe wurde sie getötet, was meinen Sie?“

„Sie wissen, dass ich keine Expertin auf dem Gebiet der Ballistik bin, Frau Kommissarin. Weshalb ich dazu nichts sagen werde.“

„Dann sagen Sie mir, was Sie sagen können.“

„Nun ja, die Wunde lässt auf eine kurze Distanz zwischen Opfer und Täter schließen.“

„Das heißt, sie kannten sich. Sie hat ihrem Mörder vertraut, ihn nahe an sich herangelassen.“

„So scheint es, ja.“

„Und seit wann ist sie tot?“

Die Strickner lächelte dünn. „Der unerschütterliche Glaube der Polizei an Thermometer ist immer wieder beeindruckend. Sie könnten auch die Nachbarn befragen, ob diese vielleicht einen Schuss gehört und dabei zufällig auf die Uhr gesehen haben.“

„Wir sind dabei. Bis dahin würde ich mich gerne auf das Thermometer verlassen.“

„Also schön … Leichenstarre und Totenflecken zusammen mit der Körpertemperatur …“ Dr. Strickner blickte auf das Thermometer. „Schätzungsweise ist die Frau seit gestern Abend tot. Irgendwann zwischen zwanzig Uhr und Mitternacht. Näheres kann ich erst nach der Obduktion sagen. Ich nehme an, es eilt, wie immer. Ich mache so schnell ich kann.“

Charlotte nickte.

Der Kollege von der Spurensicherung kam erneut an ihr vorbei, und sie fragte: „Wie ist der Mörder ins Haus gekommen?“

„Nichts deutet auf einen Einbruch hin“, antwortete er.

Noch ein Indiz dafür, dass Opfer und Täter sich kannten.

„Was ist das?“, fragte die Strickner und deutete auf etwas, das neben dem Sessel der Toten lag. „Das hier. Was ist das?“

„Oh“, sagte der Kollege von der Spurensicherung. „Das ist ein Knopf. Wie Sie sehen, wurde die Bluse des Opfers aufgerissen.“

„Was auf ein Sexualdelikt hindeuten könnte“, bemerkte Charlotte.

„Falls es so geplant war, hat der Mörder von seinem Plan abgelassen“, erklärte die Strickner. „Bisher spricht hier nichts für einen sexuellen Übergriff.“

„Haben Sie sonst noch etwas gefunden?“, wollte Charlotte von dem Kollegen von der Spurensicherung wissen.

„Nein. Bisher nicht“, sagte er.

„Falls sich daran etwas ändert, lassen Sie es mich bitte sofort wissen.“

„Na klar.“

„Sollte ich Rückfragen haben, rufe ich Sie an.“

„Natürlich.“

Zwanzig Minuten später wurde eine fahrbare Trage hereingerollt, und zwei Männer machten sich daran, die Tote in einen Leichensack zu hieven.

Charlotte sah ihnen einen Moment lang zu, dann setzte sie sich ebenfalls in Bewegung.

Es gab noch viel zu tun.

Sehr viel.

Zarenblut - Ein Fall für Julia Wagner: Band 4

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