Читать книгу Maliande - Das Geheimnis der Elben - Thea Lichtenstein - Страница 14
Kapitel 5
ОглавлениеDer Morgen brach gemächlich an. Obwohl es noch dunkel und diesig war, lärmten bereits einige Krähen, und vom Stall her erklang emsiges Rascheln und Blöken. Die Feuchtigkeit der letzten Herbstnacht hatte einen bleichen Film über Gräser und Bäume gelegt. Sie war unter die niedrigen Büsche gekrochen, wo sie sich mit dem bemoosten Boden zu einer kristallinen Schicht verband, und hing als zähe Nebeldecke über dem geharkten Kies des Hofes.
Die Bilder hinter Nahims Augenlidern bewegten sich immer schneller, überschlugen sich. Sie vermischten sich zu einem wilden Tanz, wirbelten seine Sinne durcheinander und ließen ihn im Schlaf aufstöhnen. Mit einem Mal zerstob das Durcheinander, und zurück blieb eine gleißende Leere.
Mit geschlossenen Augen wartete Nahim ab, wie sich sein rasender Atem beruhigte. Das unangenehme Gefühl, das die Bruchstücke des Traums zurückgelassen hatten, klebte hingegen so hartnäckig fest wie der schale Geschmack, der ihm den Rachen runterkroch. Das Kissen drohte seinen Kopf in die weiche Tiefe hinabzuziehen und ihn zwischen den Federn zu ersticken. Sein halb offener Mund haftete am Leinenbezug fest. Auch das Oberbett war plötzlich viel zu schwer und verwandelte sich ins Innere eines glühenden Ofens. Trotzdem verweigerten seine Glieder die geringste Bewegung. Sein Körper war wie betäubt, bleischwer grub er sich mit dem Bauch voran in die Matratze. Verführerisch lockte die sanfte Dunkelheit ihn wieder in den Schlaf.
Aber Nahim war vorerst bedient: Bilder des brennenden Monteras, ein nackter Damir, der sich eine Drachenmaske aufsetzte und Lehens lockende Stimme, die nicht ihm galt, waren mehr als genug verrückte Eindrücke für eine Nacht. Mit einem unterdrückten Stöhnen drehte er sich auf den Rücken und zwang die Augen auf. So blieb er eine Zeit lang liegen, alle viere von sich gestreckt, und lauschte den gleichmäßigen Atemzügen neben sich.
Obwohl es in der Schlafkammer noch dunkel war und sich allenfalls Schemen erkennen ließen, wandte Nahim sein Gesicht zur Seite und betrachtete Lehens Umrisse, die sich eine Armeslänge von ihm entfernt abzeichneten. Der warme Duft ihres Körpers stieg ihm in die Nase, weckte das Bedürfnis, eine Hand zu ihr wandern zu lassen. Aber er unterdrückte das Verlangen, Lehens Wange oder ihr Haar zu berühren. Er würde sie nicht wecken, sondern den friedlichen Augenblick in ihrer Nähe genießen.
So blieb Nahim liegen, bis sich die leidige Erinnerung an den letzten Abend ihren Weg in die Stille bahnte, obwohl er sie unter großer Anstrengung zu verdrängen versuchte. Er verspürte wenig Verlangen, sich diesen Morgen frühzeitig zu verderben. Deshalb arbeitete er sich unter der Decke hervor, griff nach seinem Kleidungshaufen neben dem Bett und schlüpfte auf bloßen Füßen lautlos in den Wohnraum.
Vor dem heruntergebrannten Kaminfeuer, in dem nur noch eine schwache Glut das Zimmer erhellte, schlief Borif. Als Nahim sich dicht neben seiner Schnauze auf das am Boden liegende Schaffell stellte, um in seine Hosen zu steigen, nutzte der Hund die Gelegenheit, die Zunge rasch zwei Mal hintereinander um den nackten Fußknöchel schnellen zu lassen. Nahim konnte ein angeekeltes »Brrr« nur schwer unterdrücken und funkelte Borif zornig an. Doch Borif ließ sich von derlei Zimperlichkeiten nicht beeindrucken. Er wedelte halbherzig als Versöhnungsangebot mit dem Schwanz und döste wieder ein.
Nachdem er sich noch mit Hemd und einem grob gestrickten Pullover gegen die klamme Kälte gewappnet hatte, fütterte er die Glut mit neuen Holzscheiten, bis das Feuer wieder loderte. Dann setzte er sich im Schneidersitz hin, nicht ohne vorher den eisernen Wasserkessel aufgehängt zu haben, und beobachtete andächtig das Spiel der Flammen.
Als von der Schlafkammer her Geräusche zu ihm drangen, rutschte er ein wenig nervös auf dem Hosenboden herum, verfiel beim Knarren der Tür aber sofort in eine Starre.
»Guten Morgen«, erklang es vorsichtig hinter ihm, und Nahim nuschelte ein kaum hörbares »Morgen« zurück.
Lehenblieb einen Schritt hinter ihm stehen und zog das Wolltuch fester um die Schultern. Ihr lag eine scharfe Bemerkung auf der Zunge, aber das schlechte Gewissen ließ sie schweigen. Stattdessen blieb ihr Blick an Nahims offenem Haar hängen, dessen dunkle Farbe weich im Feuerschein schimmerte. Wie eine Einladung fielen einige in sich gedrehte Strähnen bis in die Kuhle zwischen den Schulterblättern. Lehen liebte diesen Anblick. Das Verlangen, die Finger über die geschmeidige Lockenpracht gleiten zu lassen, brachte unvermeidlich ihre Fingerspitzen zum Kribbeln. Doch sie konnte unmöglich ihren Arm ausstrecken und hineingreifen, so schwer ihr die Zurückhaltung auch fiel. Sie schluckte beherrscht und wandte sich ab.
Während sie Teeblätter in die Kanne streute, suchte sie krampfhaft nach Worten, mit denen sie ihre Entschuldigung einleiten konnte. Dass Nahim immer noch regungslos dasaß und ihr nicht einen einzigen Blick aus den Augenwinkeln schenkte, machte es nicht einfacher. Zu gern hätte sie sich für ein wenig Entgegenkommen von seiner Seite dankbar gezeigt, aber er bot ihr nur seine Rückansicht und beharrliches Schweigen an.
Nicht einmal der verdammte Köter hatte sie begrüßt, gerade so, als wären die beiden Herren einen Bund gegen sie eingegangen. Dann erinnerte Lehen sich an den Clog, den sie am gestrigen Abend nach Borif geworfen hatte.
Der Streit mit Nahim hatte sich gerade einem lautstarken Höhepunkt genähert, als der Hund bei der Eingangstür zu heulen angefangen hatte. Kein verzweifeltes Winseln, sondern die entrüstete Forderung, ihn umgehend hinauszulassen. Dorthin, wo Lehens überdrehte Stimme nicht mehr zu hören war. Ein prüfender Blick auf Nahims Gesicht hatte Lehen als Beweis gereicht, dass er sich ebenfalls woandershin wünschte. Hauptsache weit weg von seiner hysterischen Frau.
Da war der Clog einfach in Borifs Richtung geflogen und um Haaresbreite neben ihm gegen die Tür geknallt. Augenblicklich hatte der Hund vor Schreck das Heulen eingestellt und versucht, seinen wuchtigen Körper unter der Sitzbank in Sicherheit zu bringen. Bei dem Anblick hatte Lehen ein verzweifeltes Lachen ausgestoßen, das jedoch sogleich auf den Lippen erstarb, als sie Nahims abfälliges Schnaufen gehört hatte, die Miene kühl und unnahbar. So hatte er sie in der letzten Zeit schon häufiger angesehen ... entzaubert, mutlos.
Wie ein glühender Schürhaken fuhr Lehen die Erinnerung an diesem Morgen in den Magen, ließ sie innerhalb eines Atemzugs dunkelrot anlaufen. Dabei war einfach nur ihr Temperament mit ihr durchgegangen. Allerdings musste sie sich eingestehen, dass es in der letzten Zeit häufig mit ihr durchging. Unter der mühsam aufrechterhaltenen Fassade einer beherrschten Lehen brodelte es nämlich unentwegt, und mit jedem Tag fiel es ihr schwerer, den Zorn und die mit ihm verbundene Hilflosigkeit zu bändigen. Diese Wutattacken entfremdeten sie sich selbst immer mehr, brachten das Bild von ihrer Person in eine Schräglage. Aber es war ihr nicht möglich, den Grund für die ganze Wut zu ergründen. Wenn sie alle Sinne beisammen hatte, mied sie dieses sumpfige Gebiet deshalb auch nach Kräften und nahm sich stattdessen vor, sich künftig noch strenger am Riemen zu reißen. Was ihr jedoch selten gelang. Nahim war ihr bei diesen Stimmungsschwankungen keine große Hilfe: Anfangs hatte er versucht, ihr mit Vernunft zu kommen, dann hatte er ebenfalls zu brüllen angefangen, und mittlerweile schwieg er und bedachte sie mit diesem kalten Blick, in dem Lehen zu ihrem Entsetzen auch etwas wie Verachtung aufblitzen zu sehen glaubte. Dass Nahim sich so kampflos von ihr zurückzog, verletzte sie sehr, und diese Demütigung brachte dann noch mehr böse Worte hervor. Mittlerweile ließ Nahim sie sogar einfach stehen, wenn ihm wieder einmal ihr Ton nicht gefiel. »Ihr kläffender Ton«, wie er ihn genannt hatte. Normalerweise wäre bei diesem Gedanken abermals Wut hochgekocht, aber heute Morgen blieb sie aus. Lehen musste zusehen, wie sie mit ihrem schlechten Gewissen und der Scham über ihre eigene Ungerechtigkeit zurechtkam.
Mit einem Schlag wurde ihr bewusst, wie unerklärlich lange sie schon die Teekanne in ihren Händen anstarrte. Mit gespieltem Elan zündete sie einige Kerzen an und klapperte lautstark mit Geschirr und Marmeladentöpfen herum, bevor sie sich in die Nähe des dampfenden Wasserkessels wagte. Ein verhuschter Blick auf Nahim zeigte ihr, dass er die Beine angewinkelt hatte und das Kinn zwischen den beiden Knien eingekeilt lag. Der gebogene Rücken berührte sie auf unerklärliche Weise. Ehe sie selbst wusste, was sie tat, hockte sie neben ihm, schlang die Arme um seinen Hals und vergrub das glühende Gesicht in seinem Schopf.
»Es tut mir leid«, flüsterte sie kaum hörbar.
Vollkommen verblüfft, brauchte Nahim einen Moment, ehe er reagieren konnte. Ein Moment, der Lehen unerträglich lang vorkam. Gekränkte Eitelkeit wollte sie schon dazu verführen, den Versöhnungsversuch abzubrechen, da erwiderte er die Umarmung. Nicht so stürmisch, wie Lehen es sich gewünscht hätte – dafür war er immer noch zu verletzt – dennoch liebevoll genug, dass sie ein »sehr leid« hinzufügen konnte.
Nahim spürte ihren vor Anspannung bebenden Körper, ihn kitzelte die Mischung aus ihrem Duft und Jasminöl in der Nase, und in diesem Moment hätte er Lehen alles verzeihen können. Mittlerweile war er sich nicht mehr so ganz sicher, ob seine Bereitschaft, ihr zu verzeihen, eine Gabe oder eine Schwäche war. Der Streit war einer von vielen gewesen, und Nahim bemühte sich längst nicht mehr, nach dem Auslöser zu forschen. Er war das ständige Gezanke, all das Beleidigtsein und die stumme Wut so leid, dass er Lehen mit einem eindringlichen »Sch« zum Schweigen brachte, als sie zu einer Erklärung ansetzen wollte.
Er genoss den Moment, mit ihr im Arm vor dem Feuer zu sitzen. Er genoss die Ruhe und wie seine Lippen an ihrer pochenden Schläfe lagen. Er fühlte sich wie ein alter Krieger im wohlverdienten Ruhestand. Nicht einmal der Gedanke an eine leidenschaftliche Versöhnung, mit der sie für gewöhnlich ihre Streitereien beendeten, konnte ihn an diesem Morgen reizen. Und so saßen sie eng umschlungen da, während der Wasserkessel unbeirrt klapperte und Borif im Traum jaulte und mit den Pfoten strampelte.
Anisa hatte eigentlich nicht damit gerechnet, die beiden Mädchen schweigsam und auf Zehenspitzen trappelnd bis vor die Tür zu bekommen. Normalerweise wäre Fleur beim Anblick des Hauses in Kreischen ausgebrochen und losgestürmt, Alliv wie ein treuer Schatten dicht auf den Fersen folgend.
Seit wann üben sich die beiden Mädchen denn in vornehmer Zurückhaltung, fragte Anisa sich belustigt und versuchte, Fleur die Wollmütze tiefer in die Stirn zu ziehen. Doch das Mädchen schob sie sofort wieder in den Nacken und tauschte ein albernes Grinsen mit Alliv aus. Dann beobachteten sie beide gespannt, wie Anisa einen Fensterladen zur Seite schob, um ins Innere des Hauses zu linsen. Als sie nickte und »vorm Kamin« flüsterte, brach aus Alliv ein begeistertes Quieken heraus, aber sie hielt sofort die Hand vor den Mund, so dass nur noch ein leises Kichern zu hören war.
»Schön nebeneinanderstellen und ganz mucksmäuschenstill sein, bis ich das Zeichen gebe«, ordnete Anisa an. Nun hatte sie die volle Aufmerksamkeit der beiden Kinder. Einen Augenblick lang genoss Anisa diese Machthoheit, die ihr der Alltag ansonsten selten gewährte, dann riss sie mit Schwung die Haustür auf.
»Guten Morgen, guten Morgen« brüllend, stürmten sie alle drei ins Haus hinein.
Anisa steuerte gleich auf den Esstisch zu und stellte den Korb mit dem Hefezopf ab, während Nahims und Lehens überraschte Gesichter die Mädchen für ihre Mühe und Zurückhaltung bestens entlohnten. Sie kletterten ihnen, aufgeregt schwatzend und kichernd, auf den Schoß, während Borif zumindest so viel Energie aufbringen konnte, ein paar Mal zu kläffen.
»Du solltest dem Hund nicht so viel Fijenholz zu fressen geben, Lehen. Der kann ja kaum noch aus den Augen schauen«, sagte Anisa belustigt, als Lehen sich neben sie an den Tisch setzte.
Lehen zuckte schuldbewusst zusammen. »Das war unser letzter Vorrat. Du weißt ja, wie verrückt Borif nach dem Zeug ist. Da fällt es schwer, nein zu sagen.«
Obwohl Anisa gerade damit beschäftigt war, das halbe Glas Pflaumenkompott auf ihrem Stück Hefezopf zu verteilen, entging ihr Nahims zynisches Lächeln nicht. Dieser Ausdruck war ihr neu, und er wollte so gar nicht zu dem liebenswürdigen Wesen ihres Bruders passen.
Als Nahim bewusst wurde, dass Anisa ihn beobachtete, zuckte er beschämt mit den Schultern. Dann schnappte er sich einen von Allivs Zöpfen und kitzelte das Mädchen damit an der Nasenspitze.
Das gemeinsame Frühstück machte dank des ausdauernden Gezirpes der Mädchen einen fröhlichen Eindruck. Trotzdem schnürten Anisas Beobachtungen ihr die Kehle zu: Lehens Gesichtszüge wirkten abgekämpft, und die fahrigen Gesten nahmen zu, je häufiger Nahim ihren Blick mied. Um den Eindruck, den ihr Bruder machte, war es auch nicht besser bestellt – die steile Falte, die sich zwischen den Brauen eingenistet hatte, wollte überhaupt nicht mehr verschwinden. Die herabhängenden Schultern versetzten Anisa einen Stich, genau wie die Lustlosigkeit, mit der er das Gebäck auf dem Teller umherschob, um es schließlich unterm Tisch an Borif zu verfüttern. Normalerweise liebte Nahim alles, was sie aus dem Backofen hervorholte, und überschüttete sie mit Komplimenten. Bislang hatte er jedoch nicht einen vernünftigen Satz herausgebracht. Anisa ertappte sich selbst dabei, wie sie kaum die Zähne auseinanderbrachte, um mit Belanglosigkeiten die Unterhaltung am Laufen zu halten.
Dieses Frühstück entwickelte sich zu einem sonderbaren Schauspiel, in dem die drei Erwachsenen sorgsam alle möglichen Klippen, die das Beisammensein bereithielt, umschifften. Abwesend saßen sie da und gaben vor, den Unsinn zu belächeln, den die Mädchen anstellten. Gerade versuchte Alliv, unauffällig ihre mit Marmelade verschmierten Finger an Nahims Pullover abzuwischen. Lehen bemerkte die kleine Frechheit, und es stahl sich tatsächlich ein Lächeln auf ihr Gesicht. Anisa nutzte die Chance und erwiderte es.
»Wir sehen uns in der letzten Zeit viel zu selten«, sagte Anisa mit einer betont freundlichen Stimme. Sie wollte Lehen keine Vorlage liefern, um sie schroff abzuweisen. »Ich vermisse die gemeinsamen Abende vorm Kamin, wenn Balam angeheitert genug ist, um Nahim allein in seinen Weinkeller hinunterzulassen.«
Lehens Lächeln bekam einen Einschlag ins Traurige, aber auch eine Spur von Vorsicht. »Ja, mein Vater gluckt auf seinen Vorräten wie ein Zwerg auf seinem Schatz. Ich vermisse diese Abende auch«, sagte sie vage.
Derart ermutigt, wagte Anisa den nächsten Schritt. »Allehe wird nur noch ein paar Tage auf dem Trubur Hof bleiben. Du solltest uns besuchen kommen und dich wieder mit ihr vertragen.«
Unvermittelt stand Lehen auf, griff Fleur unter die Arme und zog sie schwungvoll in die Höhe. Die dunklen Locken des Mädchens flogen wild durch die Luft, als Lehen mit ihr im Kreis herumwirbelte. Erst als den beiden schwindelig war, hielt sie inne und lachte.
Während sie sich einen Schal um den Hals schlang, sagte sie leichthin: »Ich werde euch sicherlich bald besuchen kommen, aber jetzt gehen die zwei jungen Damen und ich erst einmal nachschauen, was aus unserem Staudamm vom letzten Besuch geworden ist.«
»Sie vermisst dich ... wir vermissen dich«, sagte Anisa, aber Lehen hatte ihr schon den Rücken zugedreht und war zur Tür hinaus.
Anisa wollte gerade das Wort an Nahim richten, doch auch ihr Bruder war bereits aufgestanden, um seinen Mantel überzuziehen. Anisa packte einen seiner Arme und drückte fest zu. Er versuchte, sie abzuschütteln, aber das ließ sie nicht zu.
»Ich muss raus und das Vieh füttern«, sagte Nahim mit einer erschreckend ausdruckslosen Stimme. Doch Anisa konnte auch eine Spur von Verzweiflung heraushören.
»Später«, erwiderte Anisa, hängte den Mantel zurück und führte ihren Bruder, der jeglichen Widerstand aufgegeben hatte und wieder die Schultern hängen ließ, zur Sitzbank.
Eine Zeit lang taxierten sie einander. Zu ihrer eigenen Verwunderung hielt Anisa dem störrischen Blick, mit dem Nahim sie anfunkelte, ohne zu blinzeln stand. Schließlich rieb er sich mit beiden Händen das Gesicht, als wolle er die Starre fortwischen. Dann verschränkte er die Arme hinterm Nacken und schaute zum Fenster hinaus.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, erklärte er leise.
Ein Schweigen breitete sich aus, aber es war keineswegs unangenehm. Nahim brauchte einen Moment, um die Gedanken zu sammeln, und Anisa gestand ihm den gern zu. Solange er nicht erneut fortlief oder eine undurchdringliche Maske aufsetzte, war sie zufrieden.
Nachdenklich kaute Nahim auf seiner Unterlippe herum, eine alte Angewohnheit, deren er sich gar nicht bewusst war. Schließlich schluckte er laut, und sein Blick wanderte zu Anisa hinüber, dann begann er stockend zu sprechen: »Es ist, als wären Lehen und ich in einem Strudel gefangen und würden immer weiter in die Tiefe gezogen. Ich weiß einfach nicht, woran ich mich festhalten soll, und jedes Mal, wenn ich nach Lehen greife, tritt sie nur nach mir. Ich habe wirklich versucht, ihre Wutausbrüche zu ergründen, aber es gelingt mir nicht. Diese vorgeschobenen Gründe, dieses angriffslustig Verhalten ... Das passt alles überhaupt nicht zu ihr. So kenne ich sie nicht. Allerdings bin ich mir mittlerweile auch nicht mehr sicher, ob ich sie wirklich kenne ... Wir treiben auseinander, und ich weiß nicht, was ich dagegen tun kann.«
Abwehrend hielt Nahim beide Hände vor die Brust, obwohl Anisa gar nicht vorhatte, zu einer Gegenrede anzusetzen. Anscheinend war er es nicht mehr gewohnt, mehrere aneinanderhängende Sätze zu sprechen, ohne unwirsch unterbrochen zu werden. Als Anisa weiterhin schwieg, fielen Nahims Hände erst leblos in seinen Schoß, dann krallten sie sich um die Tischkante.
»Ich behaupte ja nicht, dass unser Leben rundum wunderbar sei«, fuhr er nachdenklich fort. »Lehens Verantwortungsgefühl den Westendlern gegenüber treibt sie an die Grenzen ihrer Kraft, während ich mich irgendwie nutzlos fühle. Wir haben jetzt zwar unseren eigenen kleinen Hof, und auch auf dem Trubur Hof gibt es mehr als genug für mich zu tun, aber irgendwie kommt es mir nicht mehr so vor, als würde uns dieses Leben gemeinsam gehören. Versteh mich nicht falsch, Anisa: Ich liebe das Tal. Doch in meinem tiefsten Herzen weiß ich, dass ich wegen Lehen hier bin. Und wenn sie sich von mir abwendet, dann hat das alles keinen Sinn mehr.«
Nahims Lippen schlossen sich zu einer harten Linie, und er rieb sich erneut mit beiden Händen übers Gesicht. Dabei ging er so grob vor, dass Anisa fast die Hand ausgestreckt hätte, um ihn davon abzuhalten. Aber da ließ er auch schon die Arme sinken. Zum Vorschein kam ein Gesicht, das viel mehr von den verletzten Gefühlen und unausgesprochenen Ängsten verriet als alle Worte zusammen.
Unwillkürlich zuckte Anisa zusammen, denn der Anblick traf sie wie ein Schlag. Ihr Bruder, dem sie sich so verbunden fühlte, sah erschreckend jung und verletzlich aus. Sein Bild vermischte sich mit einer Erinnerung an das Kind, das Nahim gewesen war, als sie ihre Mutter beerdigt hatten. Er hatte damals geglaubt, etwas zu verlieren, das ihm so wichtig wie die Luft zum Atmen war, und er hatte nicht gewusst, was er dagegen tun konnte.
Anisas Gedanken überschlugen sich bei dem verzweifelten Versuch, ihm einen Rettungsanker anbieten zu können. »Vielleicht, wenn ihr beiden ein Kind bekommen würdet ...«, war das Erste, was Anisa durch den Kopf ging. Kaum hatte sie es ausgesprochen, tat es ihr leid.
Nahim legte den Kopf schief und lächelte bitter. »Ach ja, das habe ich in meiner Beschreibung unseres wunderbaren Lebens vergessen: Wie es aussieht, werden Lehen und ich uns damit abfinden müssen, dass wir keine gemeinsamen Kinder kriegen können.«
Anisa konnte sich gerade noch rechtzeitig zurückhalten, ihrem Bruder nicht vorzuhalten, warum er nie ein Wort über den unerfüllten Kinderwunsch verloren hatte. Nahim war auch so schon gepeinigt genug, er brauchte gewiss nicht noch eine Schwester, die sich über mangelndes Vertrauen ereiferte. »Ist sich Lehen als Heilkundlerin da sicher?«, fragte Anisa stattdessen mit brüchiger Stimme.
»Nein, ist sie nicht!«, zischte Nahim. »Aber wir sind nun schon über drei Jahre zusammen, und die haben wir gewiss nicht voller Zurückhaltung verbracht. Nicht bei diesen langen Winterabenden! Wahrscheinlich ist es wie bei Vennis und Mia, vielleicht liegt es in der Familie ...«
»Du gibst dir die Schuld daran?«
Da war er wieder, dieser zynische Ausdruck auf Nahims Gesicht, der ihn für Anisa in einen Fremden verwandelte. »Wie es aussieht, hat sich Lehen einen Mann angelacht, der bestenfalls als Hofverwalter für zwei Ziegen und eine Heuwiese taugt. Ich reiche ihr nicht als Lebensgefährte und scheine unfähig, eine Familie zu gründen. Und der Glanz, der mich damals als fremder Wanderer umgeben hat, ist mittlerweile wohl auch verblasst.«
»Was du da sagst, kannst du unmöglich wirklich glauben«, sagte Anisa heiser.
»Vielleicht hast du da recht, Anisa. Könnte gut sein, denn, ehrlich gesagt, habe ich nicht die geringste Ahnung, was eigentlich los ist – wie so oft in meinem Leben. Aber Lehen entfernt sich immer weiter von mir, und es gibt nichts, was ich dagegen tun kann.«
Nahim schaute seine Schwester vergrämt an. Er hatte nicht einmal mehr die Kraft, seine Verbitterung abzuschwächen, geschweige denn, sie zu überspielen. Zwar quälte ihn der Kummer in Anisas Augen, aber er war es leid, den Menschen, denen er vertraute, weiterhin ein verlogenes Schauspiel vorzuführen. Lehen und er standen vor einem Scheideweg, und er hatte das Gefühl, dass sie bereits enteilte, während er noch wie ein Idiot von einem Fuß auf den anderen trat.