Читать книгу Maliande - Das Geheimnis der Elben - Thea Lichtenstein - Страница 16

Kapitel 7

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Eine Möwe glitt dicht über der schäumenden Brandung und ließ sich, bevor die auslaufenden Wellen über den Strand leckten, vom Wind hinauftreiben, um knapp über der Kante der Steilwand hinwegzufliegen. Dann zog sie einen weiten Bogen über der Dünenlandschaft, die an vielen Stellen von mannshohen Findlingen durchbrochen wurde. Bauschig anmutendes Buschwerk aus Sanddorn und Seelavendel verlieh dem flachen Land den Anschein von Weichheit. Die wenigen Wege aus Muschelkalk liefen allesamt auf das einsame Haus am Rand der Klippe zu, die einzige menschliche Behausung im Umkreis von vielen Meilen.

Die Möwe flog einige Kreise über dem weitläufigen Steinhaus, dessen rote Dachschindeln weithin sichtbar waren. Einige Male schrie der Seevogel heiser, bevor er zum Sinkflug ansetzte, um sich eine frühe Mahlzeit im Wasser zu suchen. Dabei hätte er fast einen Mann gestreift, der in diesem Moment die Steintreppen erklomm: das Cape fest um den schmalen Körper geschlungen, die Bewegungen voller Anmut. Doch er würdigte das Tier keines Blickes. Die Möwe taumelte kurz, krächzte beleidigt, dann setzte sie ihren Flug hinaus aufs Meer fort.

Trübes Morgenlicht stahl sich durch die in Eile nachlässig zugezogenen Vorhänge und suchte sich einen Weg über allerlei Kleidungsstücke, die verstreut auf dem Boden lagen. Als das Licht schließlich das Bett erreichte, brauchte es einen Augenblick, um über die Bettkante zu springen, über die ein nackter Arm hing. Kaum hatte der Sonnenstrahl diese Distanz überwunden, tanzte er auf einer Nasenspitze, die zwischen zerwühlten Kissen hervorschaute.

Tevils verspürte ein Kribbeln und zog die Nase kraus. Dann wälzte er sich auf die Seite und verhedderte sich bei dem Versuch, eine angenehme Position zu finden, im Bettzeug. Neben ihm stöhnte jemand auf und zog die Decke mit einem Ruck zu sich. Schlagartig wurde Tevils’ Körper von eisiger Morgenfrische umhüllt, jede Spur von Behaglichkeit weggewischt, so dass an Schlaf nicht mehr zu denken war. Er rieb sich das Gesicht und warf einen Blick auf das schlafende Mädchen neben sich, das sich so eigensüchtig in die Decke gewickelt hatte, als gäbe es ihn gar nicht. Nur die dunkle Fülle ihrer Haare war noch zu sehen.

Für einen Augenblick ließ Tevils den Blick über ihre weibliche Silhouette gleiten, die sich unter der Decke abzeichnete. Dann wurde ihm bewusst, dass er dem Haarschopf und den Rundungen keinen Namen zuordnen konnte. Myrte, Birte, etwas in der Art ... Er sollte wohl besser zusehen, dass er aus dem Zimmer kam, bevor auch sie aufwachte.

Gerade als Tevils sich lautlos aus dem Bett stehlen wollte, erscholl ein kurz angebundenes Klopfen an der Zimmertür. Neben ihm zuckte Myrte-Birte merklich zusammen. Als die Tür einen Atemzug später aufflog, stieß die junge Frau einen spitzen Schrei aus, und Tevils nahm aus den Augenwinkeln wahr, wie sie sich die Decke über den Kopf zog. Vielen Dank auch, dachte Tevils empört über so viel Rücksichtslosigkeit, sich der eigenen Blöße unangenehm bewusst.

Längst hatte Kohemis im Stechschritt den Raum betreten, nur um abrupt und mit abfällig herabhängenden Mundwinkeln vor der Kleiderspur stehen zu bleiben, die aufs Bett zuführte. Mit seinem kunstvoll verzierten Spazierstock hob er einen von Myrte-Birtes Unterröcken an, nur um ihn flugs wieder fallen zu lassen. Dieser Unterrock, sagte Kohemis’ verächtliche Miene, war nur ein weiterer deprimierender Beweis für Tevils’ Geschmacksverirrung.

»Jemanden warten zu lassen ist eine bäuerische Unart«, erklärte Kohemis mit seiner präzise akzentuierten Stimme. »Und ich habe gewartet«, fügte er nach einer Kunstpause hinzu – unnötigerweise, wie Tevils fand.

»Schon so spät?«

Statt einer Antwort begann Kohemis, im raschen Takt den Spazierstock auf den Boden klacken zu lassen. Neben Tevils, der immer noch verlegen auf der Bettkante hockte, quiekte der Deckenhaufen hysterisch.

»Könntest du bitte vor der Tür warten?« Kaum waren die Worte über den Lippen, wusste Tevils, dass er einen Fehler begangen hatte.

»Warten? Auf dich?«, zischte Kohemis ihn durch zusammengebissene Zähne an.

Die nächsten Momente, in denen Kohemis ihn mit wüsten Schimpftiraden überschüttete, während er versuchte, in seine Kleider zu schlüpfen und das Heulen des Mädchens zu ignorieren, hätte Tevils gern an sich abprallen lassen. Diese Erniedrigung wollte er um Himmels willen nicht Teil seiner Erinnerung werden lassen – dort waren schon genügend peinliche Situationen verwurzelt, an denen Kohemis irritierend oft Anteil hatte. Doch je mehr Tevils sich bemühte, sich zu entspannen, desto mehr verhedderte er sich in der Kleidung und handelte sich fürs unanständige Fluchen auch noch eine Zurechtweisung ein. Kohemis beherrschte einfach formvollendet die Kunst, mit wenigen Worten und Blicken aus einem stürmischen Liebhaber einen jämmerlichen Tropf zu machen.

Tevils’ Ohren glühten nach wie vor rot, als der halbe Vormittag schon längst vorbei war und er immer noch auf dem Übungsplatz nahe der Brandung stand. Schilf umwuchs das Oval des Sandplatzes, und er strich mit einem Seufzen über die niedrige Mauer, die ein Stück weiter die Düne hinauf in eine Steintreppe überging. Oben im Haus herrschte um diese Tageszeit emsiges Durcheinander, und für gewöhnlich genoss Tevils es, durch Küche und Gesindestube zu streifen, auf der Suche nach Leckerbissen und Unterhaltung. Von beidem trennten ihn an diesem dunstigen Vormittag Welten, und darüber war er alles andere als glücklich.

Obwohl der Übungsplatz von dem mannshohen Schilfkranz geschützt wurde, wehte vom Meer her ein eisiger Wind. Trotzdem klebte Tevils das Hemd nass geschwitzt am Rücken. Seine Oberschenkelmuskulatur schmerzte vor Erschöpfung, weil Kohemis ihn immer wieder in die Grundstellung zwang. Verbissen kniff Tevils die Lippen aufeinander, als ihm das Gewicht des Übungsschwertes ein Reißen im Nacken einbrachte.

Doch wie es aussah, war so bald keine Gnade von Kohemis zu erwarten. Mit kerzengerader Haltung und einem dicken, lavendelfarbenen Tuch um Hals und Kopf geschlungen stolzierte er um Tevils herum und korrigierte dessen Körperhaltung mit dem Spazierstock. Dabei fand er in einem fort etwas, das es zu bemängeln gab. Tevils kannte dieses Spielchen mittlerweile zur Genüge, und obwohl er wusste, wie sehr Kohemis’ strenge Hand seiner Schwertführung zugutekam, war er kurz davor, die Waffe auf den Boden zu schleudern und wie ein trotziges Kind aufzustampfen.

Aber einen Durchgang würde er noch durchhalten! Nach der morgendlichen Demütigung in seinem Schlafzimmer wollte er dem alten Gockel nicht auch noch die Genugtuung zuteilwerden lassen, bei ein paar Übungen zusammenzubrechen. Nein, es würde keine weitere Gelegenheit geben, ihn einen Versager und Taugenichts zu schimpfen. Einen verdammten Durchgang noch, dann verbeuge ich mich höflich und spaziere von dannen, ganz gleich, was dieser eitle Vogel mir an den Kopf werfen mag.

Aber als Kohemis mit der Stockspitze unsanft seine Fersenstellung korrigierte, schlug Tevils doch mit der Spitze der Übungswaffe auf den Boden, dass der Sand wie eine Fontäne aufspritzte und ihn mit einer feinen Schicht bedeckte.

»Das war zu viel! Wenn du mich noch ein Mal mit diesem verfluchten Stock antickst, vergesse ich mich«, brüllte Tevils und übertönte mit seiner kräftigen Stimme Kohemis’ beleidigtes Schnaufen. »Ich werde hier keinen Augenblick länger stehen und mich von dir schikanieren lassen. Ich bin erschöpft. Außerdem habe ich einen Mordshunger. Du hast mir nicht einmal ein Frühstück gegönnt!«

Kohemis fixierte ihn mit zu Schlitzen verengten Augen. »Wenn du nicht die halbe Nacht mein Dienstpersonal durchs Bett jagen würdest, dann wärst du jetzt nicht erschöpft und auch nicht hungrig und ich nicht erzürnt, weil du mich hast warten lassen. Also unterlass gefälligst dieses ungehobelte Benehmen, du Bauer.«

Sofort suchte Tevils das schlechte Gewissen heim, und bevor er sich’s versah, hatte er schon wieder die Grundstellung eingenommen und befolgte Kohemis’ knapp vorgetragene Anweisungen, während ihn der Sand in den Augen kratzte.

So trainierten sie eine ganze Zeit lang weiter: Der junge Mann hin- und hergerissen zwischen dem Bemühen, sich auf die Übungsabläufe zu konzentrieren und das Magenknurren zu ignorieren. Der alte Mann zwischen Kritiksucht und gut verborgenem Stolz auf seinen Schüler.

»Ein wenig mehr Eleganz sollte doch wirklich nicht zu viel verlangt sein«, bemäkelte Kohemis die Schwertführung des keuchenden Tevils. Dabei fuchtelte er herausfordernd mit dem Stock in der Luft herum.

Tevils, dem der Schweiß in die Augen lief, hielt inne und wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Trotz der sauertöpfischen Miene, die Kohemis zur Schau trug, glaubte er mittlerweile, dass der alte Mann die gemeinsamen Übungen genoss. Schon aus dem Grund, weil er ihn nach Herzenslust herumkommandieren konnte – und nichts tat Kohemis lieber, da konnte man sich sicher sein. Gewiss aber auch, weil die Übungen durchaus auf fruchtbaren Boden fielen. In den letzten drei Jahren hatte er sich zu einem ansehnlichen Krieger entwickelt.

In dieser Gewissheit erwiderte er leicht überheblich: »Bislang hat sich noch keiner meiner Gegner beschwert, dass ich ihn mit einem uneleganten Streich niedergestreckt habe.«

»Bei diesen paar degenerierten Orks, auf die man dich bislang losgelassen hat, mag die Haudraufmethode funktioniert haben. Aber wir hoffen ja, Narren die wir sind, dich eines Tages auch auf ernst zu nehmende Gegner ansetzen zu können.«

»Degenerierte Orks?«

Vor lauter Wut pumpte Tevils so viel Luft in seine Lungen, dass er zu explodieren drohte. Unzählige Beleidigungen schossen ihm durch den Kopf, und alle hätten sie Kohemis die Zurechtweisung zuteilwerden lassen, die er für seine Geringschätzung verdiente. Nur leider fand nicht eine einzige dieser Bitterkeiten den Weg aus seinem offen stehenden Mund. Dafür brachte er seinem Lehrer dann doch zu viel Respekt entgegen. »Degenerierte Orks?«, wiederholte er deshalb lediglich ein wenig kraftlos. Dabei klang er selbst wie der pikierte Kohemis, als der ihn vor ein paar Tagen mit dem Scheuermädchen in seinen privaten Saunaräumen erwischt hatte – ungläubig und verschnupft zugleich.

»Wer so ...«, Kohemis hielt den Stock mit beiden Händen umfasst und hieb wie ein dumpfer Berserker in die Luft, »... mit einem Schwert umspringt, den werden die Orks eines Tages mit einem ihrer Kumpanen verwechseln.«

»Nun kämpfe ich also auch schon wie ein Ork!«, erwiderte Tevils fassungslos und versuchte, den Stock zu fangen, um dieser unwürdigen Karikatur seiner selbst Einhalt zu gebieten.

»Pfoten weg«, zischte Kohemis, als er die Stockspitze zu fassen bekam. Sie rangelten einen Moment lang miteinander, wobei Tevils nicht schlecht über die Kraft staunte, die in Kohemis’ dünnen Armen steckte.

Ein volles, tiefes Lachen ließ die beiden Streithähne innehalten. »Wenn ich diese Nummer hier in Previs Wall zum Besten gebe, kann ich meinen Hintern darauf verwetten, dass mir kein Mensch auch nur ein Wort glauben wird. Vollkommen gleich, wie betrunken alle sein werden. Was ist bloß in euch zwei Kerle gefahren?«

Wie auf Kommando schnellten die beiden Männer auseinander und starrten eine breit grinsende Lalevil an, die sich auf eine der Bänke am Rande des Übungsplatzes gesetzt hatte. Zwischen ihren Beinen hatte sie ihr Schwert in der Scheide aufgestellt und die behandschuhten, aufeinanderruhenden Hände oben auf den Knauf gelegt. Der Wind peitschte ihr zu Zöpfen geflochtenes, schwarzes Haar in die Höhe und hatte ihr eine tiefe Röte auf die Wangen gezaubert.

Mit einem Freudenschrei stürmte Tevils auf die Drachenreiterin zu. Er packte sie bei den Schultern, hievte sie in die Höhe und schloss sie stürmisch in die Arme. Das Schwert kippte unbeachtet in den Sand, während Lalevil dem Jungen zuerst den Rücken tätschelte und sich dann bemühte, ein wenig Abstand zwischen ihre beiden Körper zu bringen.

»Aber keine Küsse«, rief sie atemlos, als Tevils sie erneut an sich zog. »Wie ich höre, ist dir in dieser Hinsicht längst nicht mehr über den Weg zu trauen. Obwohl ich sagen muss, dass du gut riechst. Richtig nach Mann.«

Eine letzte Spur von kindlicher Unschuld ließ Tevils bei diesen Worten zusammenzucken. Das Blut schoss ihm ins Gesicht. Dann löste er sich von der lachenden Frau, wenn auch nur widerwillig. Obwohl seine Gedanken wild kreisten, wollte ihm keinerlei angemessene Entgegnung einfallen. Stattdessen zwickte er Lalevil nur in den Hintern, bevor er zur Seite trat, um Kohemis vorzulassen.

Rasch schenkte ihm Lalevil noch ein belustigtes Zwinkern.

»Wo hast du denn die fliegende Brut gelassen, meine Liebe?«, fragte Kohemis, nachdem er Lalevil auf beide Wangen geküsst hatte. »Ist Präae im Innenhof gelandet und schaut gerade einmal nach, wie unser Brunnen von innen aussieht? Das wäre ausgesprochen traurig, denn es hat viel Zeit und Mühe gekostet, ihn nach dem letzten kleinen Drachenexperiment wieder aufzubauen.«

Lalevil druckste einen Moment lang verlegen herum, dann setzte sie erneut ein Lächeln auf, das sich durch diese einzigartige Mischung aus Herbheit und Siegessicherheit auszeichnete.

Bei diesem Anblick schloss Tevils betört die Augen und unterdrückte den Impuls, seine Hand nach diesem Lächeln auszustrecken. Stattdessen schlang er die Arme schützend um sich, da der Schweißfilm auf seiner Haut sich allmählich in eine Eisschicht zu verwandeln drohte. Trotzdem wollte er nicht zum Rest seiner Kleidung hinübergehen, der lediglich ein paar Schritte entfernt lag. Denn genauso überraschend, wie Lalevil auftauchte, pflegte sie für gewöhnlich auch wieder zu verschwinden. Und er hatte vor, jeden einzelnen Atemzug in ihrer Gegenwart zu genießen.

»Es sind im Augenblick keine weiteren Drachenanschläge zu befürchten.« Mit einer ruhigen Bewegung hob Lalevil ihr Schwert auf und steckte es in den Gürtel, der den reich bestickten Mantel in der Taille zusammenhielt. Trotzdem war nicht zu übersehen, dass Lalevil Zeit schinden wollte, um einen Anflug von Unbehagen zu überspielen. »Präae sehnte sich nach dem NjordenEis, so dass ich allein von Previs Wall hergekommen bin. Soll sie sich ruhig mal eine Zeit lang austoben. Nach ihrem wenig vorteilhaften Auftritt bei der Schlacht gegen die Gahariren ist es ohnehin besser, wenn sie nicht andauernd so präsent ist. In Achaten zerbrechen sie sich nämlich den Kopf darüber, ob es wirklich nur ein dummer Zufall gewesen ist, dass Präae das Schlachtgeschehen überraschend gewendet hat oder ob sich dahinter vielleicht ein Geheimnis verbirgt.« Als mache ihr die Trennung von ihrem Drachen nichts weiter aus, zuckte Lalevil mit den Schultern, aber keinem der beiden Männer entging der sehnsüchtige Zug um ihre Augen. »Präae hat in der letzten Zeit etwas zu oft die Gegenwart von Menschen ertragen müssen. Sie ist ein Drache, sie muss ihren eigenen Weg gehen – wie ich es auch tue.«

Kohemis fuchtelte ein wenig gereizt mit der Hand in der Luft umher. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass in Präae eine sensible Seele schlummert. Wir alle haben Verpflichtungen und müssen unseren Aufgaben nachgehen. Und einige von uns tun dies sogar noch im hohen Alter, obwohl sie sich eigentlich längst zurückgezogen haben sollten, um die traute Zweisamkeit zu genießen.«

»Maherind lässt dir übrigens seine allerbesten Wünsche übermitteln sowie das Versprechen, dass er schon bald in euer Haus zurückzukehren gedenkt. Du sollst dir keine Sorgen machen, er tut es auch nicht.«

Kohemis ließ ein »so, so« vernehmen und beobachtete konzentriert, wie sein Spazierstock hin und her schwang. Um den Anflug eines Lächelns zu unterdrücken, hüstelte er in die hohle Hand. Doch es war zu spät, um den plötzlichen Stimmungswandel überspielen zu wollen. Während Lalevil lediglich vergnügt mit der Zunge schnalzte, ließ Tevils sich dazu hinreißen, Kohemis kameradschaftlich die Schulter zu tätscheln. Für diese Gedankenlosigkeit bohrte sich sofort der Knauf des Spazierstocks zwischen seine Rippen.

»Wir unterhalten uns in der Halle vorm Feuer weiter«, erklärte Kohemis mit erhobenem Haupt. »Dieser junge Schwachkopf hier braucht dringend trockene Kleidung, bevor er sich noch eine Erkältung einfängt und dann, im Bett liegend, sämtliche meiner Dienstmädchen auf Trab hält. Solch ein Vergnügen gönne ich ihm schlicht und ergreifend nicht.«

Wie ein Wirbelwind hatte Tevils sich gewaschen und frische Kleidung angezogen. Dann war er die breite Steintreppe, die von den privaten Räumlichkeiten in die unten gelegenen Hallen führte, in solch einem Tempo hinabgesprungen, dass er von Glück sagen konnte, sich nicht alle Knochen gebrochen zu haben. Ehe er jedoch durch die schwere Eibentür mit ihren Eisenbeschlägen trat, atmete er noch einige Male tief durch, zog den Bauch ein und streckte die Brust raus. Schließlich schlenderte er hinein.

Die Halle war auf einem Vorsprung der Klippe erbaut worden, so dass es den Anschein erweckte, auf einem schwebenden Eiland weit über dem Meeresspiegel zu thronen. Unerreichbar und fern. Die hohen Fenster der Halle wiesen in Richtung Osten, hinaus aufs ewig tobende Meer. Dort draußen verschmolz das dunkle Blau der Wogen mit dem Wintergrau des Himmels. Nur der Flug einiger Möwen durchkreuzte gelegentlich das Bild der verschmolzenen Elemente.

Die Halle wiederholte das Gefühl der Weite. Trotz ihrer Geräumigkeit gab es lediglich einen robusten Holztisch, der Platz für annähernd zwanzig Leute bot, sowie einige bequeme Sessel, die um das offene Feuer gruppiert standen. Auf dem Rand des kupfernen Abzugs, der frei über der Feuerstelle hing, standen bauchige Keramikgefäße. Sie waren Mitbringsel von Maherinds Reisen. Wenn man ihre Deckel lüftete, verströmten die erwärmten Öle wunderbare Düfte.

Doch im Augenblick stieg Tevils lediglich der verlockende Duft von gebratenem Speck und Rühreiern in die Nase. Kohemis hatte für ihn am Tisch eindecken lassen, aber er schnappte sich die Schale, steckte sich zwei Scheiben Brot in den Mund und hetzte zum Feuer, wo es sich die beiden anderen bereits gemütlich gemacht hatten.

Kohemis warf Tevils einen entrüsteten Blick zu, als dieser den beladenen Teller auf den Knien zu balancieren versuchte und prompt fettiges Eigelb auf den Sessel kleckerte. Aber er unterbrach Lalevils Ausführungen nicht für eine Zurechtweisung, was Tevils zwangsläufig aufhorchen ließ.

Lalevil saß leicht hinabgerutscht in einem der Sessel, die Beine in den hohen Stiefeln von sich gestreckt, die Arme locker über den Lehnen baumelnd. Obwohl sie dicht beim Feuer saß, hatte sie den Mantel nicht ausgezogen. Wie schon so oft fragte Tevils sich, ob sie die Hitze vielleicht genauso wenig wahrnahm wie die Kälte. Allerdings hatte sie die Lederhandschuhe abgestreift, und zwischen den Fingern glühte einer dieser stinkenden Zigarillos, die sie mit niemandem zu teilen bereit war.

»Es fällt Narcassia ausgesprochen schwer, Osanir an der kurzen Leine zu halten. Brill ist dabei keine besonders große Hilfe, wenn du mich fragst. Denn im Grunde glaubt er – genau wie Osanir – nicht an das, was Maherind und Vennis für den richtigen Weg halten. Dieses ewige Ringen um einen Ausgleich, die Suche nach einem vertretbaren Kompromiss ... Du kennst Brill: Er bringt nicht einmal genug Geduld für die Puzzlespiele seiner Kinder auf. Für ihn ist die am nächsten liegende Lösung immer die beste. Ratzfatz muss alles gehen! Ein ausgemachter Hitzkopf. Es ist gut, dass Vennis bislang darauf verzichtet hatte, Tevils mit nach Previs Wall zu nehmen.«

»Ein Zustand, an dem man eigentlich nicht rütteln darf, wenn du mich fragst.« Kohemis guckte bekümmert drein, ein Ausdruck, der sich aufs Wunderbarste mit seinen vornehmen Gesichtszügen verband. »Es ist wohl dem Trubel der letzten Wochen geschuldet, dass Vennis keinen Gedanken daran verschwendet hat, ob Previs Wall auch der richtige Ort für unseren Wildfang hier ist. Schließlich ist Tevils kaum Herr seiner Sinne – von seinen Trieben einmal ganz abgesehen.«

»He! Ich bin anwesend, vergesst das bitte nicht.« Tevils gestikulierte wild mit der Gabel umher. »Habt ihr etwa über mich geredet, bevor ich zu euch gestoßen bin? Wenn Vennis eine Nachricht für mich mitgegeben hat, würde ich das gerne wissen.« Aber ein scharfer Blick von Kohemis brachte ihn unverzüglich zum Schweigen.

»Es ist schon verständlich, dass Vennis den Jungen zu sich holen will«, führte Lalevil an, als hätte es Tevils’ Einwurf gar nicht gegeben. »Ich glaube, ehrlich gesagt, dass Vennis sich trotz der vielen Menschen ein wenig einsam fühlt in Previs Wall. Wenn du mich fragst, hat er es immer noch nicht ganz verwunden, dass Nahim sich für ein Leben in diesem abgelegenen Tal entschieden hat.« Das Wort »Tal« betonte die Drachenreiterin so, als spräche sie von einem seltsamen Gemüse, das sich auf ihren Teller verirrt hatte.

»Aber dass er gerade auf die Idee verfallen musste, ausgerechnet Brill in die Betreuung unseres lieben Tevils mit einbeziehen zu wollen, halte ich für ausgesprochen blauäugig. Wahrscheinlich werden die beiden Kerle als Erstes den Weinkeller erkunden und nach unzähligen Verbrüderungen und Treueschwüren schwankend Brills Frau Saris in die Hände fallen, die sie lauthals schimpfend über den Hof jagen wird.«

Lalevil und Kohemis wechselten einen amüsierten Blick, als tauschten sie vergnügliche Erinnerungen aus und machten sich nicht über den entrüsteten Tevils lustig, dessen Blick sie beide beharrlich mieden.

»Ich sehe es lebhaft vor mir: Neben den Streichen von Tevils und Brill verkommen der bevorstehende Krieg und das Kräftemessen mit dem aufmüpfigen NjordenEis zu Belanglosigkeiten. Sobald Tevils erst einmal in Previs Wall angekommen ist, werden alle damit beschäftigt sein, sich hinter vorgehaltener Hand vom wilden Treiben der beiden Kerle zu erzählen. Wen kümmert da noch die Politik – das Ganze ist ein Geniestreich von Vennis.«

»Wie meinst du das?«, fragte Tevils mit vollem Mund und versprühte dabei einige Eierflocken.

Aber Lalevil schenkte ihm lediglich einen betont ausdruckslosen Blick, während Kohemis ein »Brill und Tevils – was für ein Albtraum« in die dampfende Teetasse hineinnuschelte.

»Nun«, fuhr Lalevil fort, nachdem sie den Zigarillostumpen ins Feuer geschnipst hatte. »Obwohl der Zugang zu dem untersten der Turiden-Öfen vor Monaten erobert und geöffnet wurde, ist die Menge und Qualität des Maliandes, das man an Previs Wall abtritt, kaum angestiegen. Osanir tobt, er will es nicht länger hinnehmen, von Achaten übervorteilt zu werden. Da kann Narcassia noch so begütigende Reden schwingen, auf die Dauer wird es ihr nicht gelingen, ihren Kompagnon an der kurzen Leine zu halten. Und wer kann Osanir seine Rachegelüste auch verdenken? Die Prälatin gibt sich nicht einmal die Mühe, den Betrug zu vertuschen. Es ist, als würde sie der Doppelspitze von Previs Wall den Fehdehandschuh direkt ins Gesicht schleudern.«

»Badramur hat noch nie eine Auseinandersetzung gescheut, wenn sie sich einen Vorteil daraus versprach«, sagte Kohemis, während er nachdenklich mit der Fingerspitze am Tassenrand entlangstrich. »Zumindest ist auf ihre Art zu denken Verlass: Sie schreitet zielstrebig eine Etappe nach der nächsten ab. Der Verbund von Olomin ist zerschlagen, und die einzelnen Stämme sind so sehr geschwächt, dass sie die nur noch wie reife Früchte zu pflücken braucht. Die Gahariren mögen ihr eine Schlappe erteilt haben, aber auf lange Sicht wird auch dieser Elbenstamm wackeln. Warum sich also nicht der nächsten Herausforderung zuwenden? Wenn Previs Wall bislang geglaubt hat, dass seine Vorherrschaft über die Handelsroute Belavi das Machtverhältnis im Gleichgewicht hält, dann war das ein Irrtum, für das es nun zahlen wird.«

Während er sprach, war sein Gesicht vollkommen ausdruckslos, und sein Blick richtete sich ins Leere. Die Hände lagen still auf den Knien, der Rücken war kerzengerade durchgestreckt. In den letzten Jahren, in denen Tevils immer wieder einmal zu Besuch im Klippenhaus gewesen war, hatte er gelernt, in solchen Momenten zuzuhören und jeglichen Kommentar zu unterdrücken.

Wenn Kohemis einen Blick in die Zukunft warf, blieb einem auch nichts anderes übrig.

»Warum sollte Badramur Previs Wall als ebenbürtiges Gegenüber akzeptieren, wenn sie es beherrschen kann?«, fuhr Kohemis fort. »Als Alleinherrscherin in Achaten übersteigt diplomatisches Miteinander ihre Geduld. Sie wird immer ihre Hand nach glänzenden Dingen ausstrecken, sie war schon als kleines Mädchen eine wahre Elster. Ich musste unentwegt einen Heidenaufwand betreiben, um meine Schätze vor meiner lieben Schwester in Sicherheit zu bringen.« Kohemis strich sich nachdenklich über das Kinn. »Gleichzeitig ist Badramur so schrecklich praktisch veranlagt. Ich fand immer, dass ihr dieser Charakterzug etwas Tantenhaftes verleiht. Die gebundenen Atlanten gehören hierhin und die Loseblattsamnlung, die du als wertvoll deklarierst, nach da unten, wo nie jemand hinschaut.« Mit gespitzten Lippen sortierte Kohemis ein fiktives Buchregal ein. »Aber wem wäre es wohl sonst gelungen, einen Haufen Steine in eine der bedeutendsten Städte von Rokals Lande zu verwandeln? Und das, obwohl die Menschen das Westgebirge seit alters her weiträumig gemieden haben. Wer Badramur kennt, dem war von Anfang an klar, dass sie Previs Wall herausfordern würde. Dieser Umweg, um an den Goldenen Staub zu gelangen, konnte für sie nur eine Übergangslösung sein. Wenn sie nun anfängt, der Doppelspitze von Previs Wall ins Gesicht zu spucken, dann heißt das nichts anderes, als dass die Kriegsvorbereitungen in Achaten in vollem Gang sind.«

Lalevil nickte nachdenklich. »Mit den Schiffsladungen aus dem Westen kommen auch die Gerüchte, dass die Truppen am Fuß der Burgfeste zusammengezogen werden. Es ist lediglich eine Frage der Zeit, bis von Previs Wall aus keine Schiffe mehr nach Sahila aufbrechen werden. Die Doppelspitze Narcassia und Osanir wird ausprobieren wollen, ob Achaten dadurch in die Knie zu zwingen ist, indem die Schiffsladungen mit Nahrung und Goldenem Staub ausbleiben.«

»Ich befürchte, dass Achaten sich für eine kurze Durststrecke durchaus gerüstet zeigen wird. Was die Verpflegung anbelangt, wird Badramur gewiss vorgesorgt haben. Was Vennis über Montera zu berichten wusste, bevor Faliminir ihn mit Landesverbot belegt hat, war doch ausgesprochen eindeutig«, entgegnete Kohemis prompt. »Als wesentlich interessanter dürfte sich die Frage herausstellen, wie Achaten in Zeiten eines Krieges mit Previs Wall an Goldenen Staub herankommen will. Denn ohne andauernden Nachschub wird es seine Vormachtstellung im Westgebirge nicht halten können. Der Verbund von Olomin mag endgültig zerbrochen sein, aber seine ehemaligen Mitglieder riechen Schwäche wie Haie Blut. Sie werden sich nicht vornehm zurückhalten, wenn Achaten nicht länger mit der Macht des Maliandes auftrumpfen kann.« Kohemis hielt einen Moment inne, doch es kam kein Zweifel auf, dass er die Schlussfolgerung längst getroffen hatte. »Wenn du mich fragst, wird auch diese Schlacht nicht durch Waffen entschieden werden, sondern durch das Maliande. Genau wie bei dem Zerfall des Verbunds von Olomin. Wer es besitzt und richtig einzusetzen weiß, wird als Sieger hervorgehen. Obwohl ich mir nicht ganz sicher bin, wie Rokals Lande nach diesem Krieg aussehen wird.«

Lalevil schaute einen Augenblick lang zur Seite, als müsse sie sich sammeln. Die Worte waren von so erschreckender Klarheit, dass nicht einmal die Drachenreiterin an ihrer steten Gelassenheit festhalten konnte. Dann zog sie die Knie unters Kinn, ohne auf Kohemis’ gequälten Gesichtsausdruck zu achten, als ihre dreckigen Stiefel den Sesselbezug beschmutzten.

»Badramur vertraut mir ... Außerdem steht sie in meiner Schuld.« Während die Drachenreiterin sprach, mied sie den Blick der beiden Männer und redete so schnell, dass niemand sie unterbrechen konnte. Aber Kohemis war so sehr in Gedanken versunken, dass er dieses ungewöhnliche Verhalten gar nicht bemerkte. Im Gegensatz zu Tevils, bei dem es ein Kribbeln im Nacken auslöste. »Allerdings hütet sie sich davor, mit mir über das Maliande zu sprechen. Wie Maherind vermutet hat, zeigt sie sich dem Orden gegenüber schon lange nicht mehr so freimütig wie damals, als sie ihn noch für ihre Zwecke einspannen konnte. Für sie sind wir nicht mehr das entscheidende Zünglein an der Waage, keine Vermittler zwischen ebenbürtigen Partnern, die für die Sache der Menschen in Rokals Lande eintreten. Ich befürchte, wenn ich dieses Mal nach Achaten gehe, wird Badramur mir ein Angebot machen, um den Orden zu prüfen. Sie wird von uns erwarten, dass wir Stellung beziehen, dass wir uns auf ihre Seite schlagen.«

In Kohemis’ grauen Augen glitzerte es, während seine Gedanken über Wege wanderten, die in die Zukunft wiesen. »Davon wird Badramur ausgehen. Sie glaubt, dass ihre Stärke und die Geheimnisse, die sie in den letzten Jahren erforscht und nicht mit uns geteilt hat, Anreiz genug sein sollten. Sie hat die eigentliche Aufgabe des Ordens nie wirklich begriffen. Das Maliande ist mehr als ein Machtinstrument. Wenn Achaten und Previs Wall auf der Magie des Westgebirges spielen werden, werden sie es erfahren.«

»Sie fehlt dir, nicht wahr?« Tevils balancierte auf dem Mauersims, während Lalevil einfach nur dastand und aufs Meer hinausstarrte.

»Wer?«

»Ach, komm schon. Wen meine ich wohl? Hat zwei Schwingen, mit denen sie die Flut vorantreiben kann, und mindestens so einen Dickschädel wie du.«

Lalevil legte den Kopf schief und grinste Tevils an. »Präae ist eine grauenhafte Nervensäge, aber ja: Ich vermisse sie. Scheint mir alles ein wenig dröge ohne sie. Obwohl ich wohl froh sein sollte, dass sie mich nicht hierher begleitet hat – Kohemis ist derartig nachtragend, wenn es um diesen alten Schuppen von einem Haus geht. Sein ständig beleidigtes Gesicht und die giftigen Seitenhiebe sind noch schwerer zu ertragen als die Abwesenheit einer gewissen Drachendame.«

»Ist doch ganz natürlich, dass man jemanden vermisst.« Tevils bemühte sich darum, gelassen zu klingen, aber der plötzlich heisere Unterton verriet ihn. »Mit der Zeit gewöhnt man sich dran. Na ja, fast ...«

Lalevil nickte zustimmend und unterdrückte den Impuls, die Stimmung mit einer Zote aufzulockern. Stattdessen ging sie in die Hocke und versuchte, im Windschatten ihres Mantels Funken zu schlagen, um einen ihrer Zigarillos anzustecken. Tevils sprang von der Mauer und leistete Hilfestellung. Als die Spitze des Zigarillos rot aufglühte, setzten sie sich beide mit den Rücken an die Wand und schwiegen eine Zeit lang.

Für Tevils war dies ein perfekter Moment: die salzige Meeresluft, die sich mit dem brennenden Geruch des Zigarillos vermischte. Die schräge Rauchsäule, die Lalevil ausstieß, und die sofort vom Wind zerstäubt wurde. Lalevils Nähe, die Tevils so vertraut und aufregend zugleich erschien. Ihr Ellbogen, der immer wieder seinen Unterarm streifte, wenn sie einen weiteren Zug vom Zigarillo nahm. So könnte es immer weitergehen, dachte er träge.

»Wie war dein letzter Besuch im Tal?«, unterbrach Lalevil schließlich seine Träumerei, so dass er leicht zusammenzuckte. Zugleich wunderte er sich darüber, wie auffallend gleichgültig sie klang, gerade so, als habe sie etwas zu verbergen.

»Ich war letzten Sommer da, wie verabredet«, setzte Tevils stockend an. »Allerdings nicht, um auf den Hof zurückzukehren, sondern um zwei weitere Jahre Auszeit von meinen Pflichten zu erbitten. Zuerst dachte ich, dass ich ganz schön schlechte Karten habe, aber dann stellte sich heraus, dass auf dem Hof auch ohne meine Hilfe alles bestens läuft. Nahim und seine Schwester Anisa sind wohl ein echter Zugewinn für den guten Balam. Und dann gibt es da auch zwei neue Knechte. Na ja, Balam hat ein wenig lamentiert, aber Lehen und meine Mutter haben ihn dann recht schnell überreden können.«

»Nahim und Anisa haben sich also gut eingelebt?«, unterbrach Lalevil ihn, ehe er weiter auf das komplizierte Machtverhältnis in seiner Familie eingehen konnte. Tevils warf ihr einen fragenden Blick aus den Augenwinkeln zu, doch die Drachenreiterin war vollauf damit beschäftigt, Schmutzflecken von ihren Stiefelspitzen zu kratzen.

»Ja, denke schon«, erwiderte er abwägend. »Ist ja auch nicht schlecht, so ein Leben im Tal. Anisa fühlt sich richtig wohl, hat – wenn man dem Tratsch Glauben schenken darf – sogar eine Liebesbeziehung mit einem der Knechte, einem schweigsamen Ostler. Und Nahim ... dem geht es vielleicht ein wenig wie mir: Ist irgendwie noch nicht ganz angekommen in seinem neuen Leben. Aber das wird wohl auch noch ... meint Vennis jedenfalls, und der kennt Nahim ja am besten von uns allen.«

Da Lalevil keinerlei Reaktion zeigte, verstummte er für einen Moment und fragte sich, was eigentlich die Stimmung hatte umkippen lassen. Eben hatten sie noch beide in aller Freundschaft miteinander geplaudert, und plötzlich hatte sich ein Wall zwischen ihnen aufgetürmt, obwohl Lalevils Ellbogen ihn immer noch piekste.

Angestrengt dachte der junge Mann nach, womit er wieder dieses magische Grinsen auf Lalevils Gesicht zaubern konnte. »Jedenfalls hat meine Mutter darauf bestanden, mir einen ordentlichen Haarschnitt zu verpassen – und da fragen sich immer alle, wo Lehen bloß ihre verflixte Sturheit herhat. Bienem hat mich in einem fort belagert, einfach unglaublich! Mit den langen Zotteln sähe ich wie ein heruntergekommener Landstreicher aus – und das war so ziemlich das Netteste, was über ihre Lippen kam. Mann, ich hätte mich niemals von ihr überreden lassen dürfen! Aber ich Holzkopf dachte mir, das bisschen Haar wäre doch den Frieden wert. Eigentlich sollte ich meine Mutter besser kennen: Kaum bot sich die Chance, hat sie einfach alles abgesäbelt, was sie zu greifen bekam. Ich sehe noch jetzt, Monate später, wie ein Trottel aus.«

Mit einer theatralischen Geste griff Tevils sich in das dunkle Haar, dessen störrische Strähnen längst wieder seine Nasenspitze berührten und den Nacken bedeckten.

»Ich habe mich, ehrlich gesagt, schon gewundert«, sagte Lalevil trocken, auch wenn eindeutig eine vergnügliche Note mitschwang.

Tevils nickte langsam und machte ein betrübtes Gesicht. »Wenn Bienem schon mal etwas in die Hand nimmt, dann ist sie ausgesprochen gründlich. Wahrscheinlich hat sie geahnt, dass ich in den nächsten Jahren keine Schere in die Nähe meines Kopfes lassen werde, und dachte sich: wenn schon, denn schon.«

Obwohl Lalevil die Lippen hart aufeinanderpresste, konnte sie ein glucksendes Lachen nicht unterdrücken. Tevils gestattete sich ebenfalls ein Grinsen und rutschte ein Stück mit dem Rücken an der Mauer hinab. Als er sich wieder aufrichtete, saß er wesentlich näher an Lalevils Seite als zuvor, was der jedoch nicht weiter auffiel. Das Leben war wieder schön, und den Preis, dass sie sich auf seine Kosten amüsierte, zahlte er nur allzu gern.

Mit einem Mal stieß Lalevil Tevils an, und als er zu ihr schaute, blies sie zwei Rauchringe in die Luft, die sogleich vom gierigen Wind gefressen wurden. Dann formte sie noch einen weiteren Ring mit ihren sinnlichen Lippen, und dieses Mal gelang es Tevils, ihn mit der Hand einzufangen, bevor er sich in Luft auflöste. »Der gehört mir«, sagte er und zeigte Lalevil die geschlossene Faust. »Mehr bekomme ich von deinen Zigarillos schließlich nicht ab. Ganz schön geizig, Drachenreiterin.«

»Du kannst gern die Asche haben, wenn du willst.«

»Nicht nur geizig, sondern auch bösartig.«

»Kann sein«, erwiderte Lalevil kühl. »Wahrscheinlich ist deshalb auch dieser verfluchte Achaten-Job von allen im Orden an mir hängen geblieben. An mir, der herzlosen Kreatur, die weder Skrupel noch Mitleid kennt.« Lalevil brach in ein wildes Gelächter aus, in das Tevils, eine Spur verunsichert, einstimmte. Fragend sahen seine Augen in ihre Miene, und er hatte das Gefühl, als würde ihm etwas Wesentliches entgehen.

»Drachenmist, ich hasse dieses verrottete Westgebirge!«, schimpfte Lalevil und schabte dabei mit der Stiefelspitze über den steinigen Boden. »Das habe ich Maherind auch gesagt. Nicht, dass ihn meine Meinung sonderlich interessieren würde. Dieser Drecksfelsen von Achaten raubt mir die Luft zum Atmen, und Badramur, diese machtgeile alte Hexe, sieht mich an, als wäre ich eine Art Spiegelbild, eine jüngere Ausgabe ihrer selbst. Badramur will mich, hat Maherind gesagt, er brauche ihr erst gar nicht jemand anderen zu schicken. Aber ich bin nicht so wie Badramur, ich habe ein Herz.«

Lalevil warf Tevils einen brennenden Blick zu, so dass er unwillkürlich zu nicken begann. Doch schon im nächsten Moment grinste sie wieder breit, und ihre Augen funkelten hinterlistig. Sie verpasste dem jungen Mann einen festen Schlag gegen die Schulter und schüttelte den Kopf, als könne sie nicht glauben, dass er den Auftritt eben ernst genommen hatte.

»Nun mach dir nicht gleich in die Hosen, du gutgläubige Seele«, sagte sie abwiegelnd. »So ein kleiner dramatischer Ausbruch von Zeit zu Zeit muss einfach mal sein. Die Nummer habe ich auch Maherind vorgeführt, hat ihn allerdings weitaus weniger beeindruckt als dich. Unser alter Herr und Meister hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, von seinem Bra-Spiel aufzublicken, während er mich abgefertigt hat. Ich solle nicht jammern, sondern tun, was die Stunde gebietet, hat er gesagt. Ein echter Menschenfreund.«

Tevils versuchte sich an einem lockeren Grinsen. »Klingt irgendwie nach Kohemis.«

»Ja, die beiden sind wahre Brüder im Geiste. Kein Verständnis für uns zarte Seelen.«

Lalevil legte sich die Hand auf die Brust und heuchelte Empörung, woraufhin Tevils ihr ebenfalls heuchlerisch das Knie tätschelte, bis sie es mit einem genervten Stöhnen wegzog. Trotzdem konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich hinter all dem Lachen und Schauspielern ein Fünkchen Wahrheit verbarg, obwohl er sich nicht erklären konnte, was einer Frau wie Lalevil zu schaffen machen konnte. Undenkbar, dass es jemandem gelingen sollte, an diesem undurchdringlichen Panzer aus Selbstsicherheit zu kratzen.

»Warte mal, ich habe eine Idee«, unterbrach Lalevil seinen Gedankengang, um dann selbst in nachdenklichem Schweigen zu versinken. Sie schaute ihn durchdringend an, und er konnte sehen, wie ihre Zungenspitze vor lauter Konzentration den unteren Rand ihrer sinnlich aufgeworfenen Lippe entlangfuhr.

Für einen kurzen Moment wurde Tevils in einen Sog gerissen, den er in den letzten Monaten eigentlich unter Kontrolle geglaubt hatte. Wie aus großer Entfernung bemerkte er, wie sein Mund aufklappte und einen sehnsüchtigen Seufzer entließ. Augenblicklich gesellte sich eine tief empfundene Scham hinzu, die sich auf eigentümliche Weise mit der Erregung vermischte. Als Tevils sich wieder einigermaßen im Griff hatte, stellte er erleichtert fest, dass Lalevil offensichtlich nichts von dem Moment purer Triebhaftigkeit mitbekommen hatte. Obwohl der Blick direkt auf ihn gerichtet war, starrte sie durch ihn hindurch, was Tevils in seiner Männlichkeit kränkte. Da verzehrte er sich unübersehbar nach ihr – genauer gesagt, nach ihren vollen Lippen –, und sie bekam nichts von all dem mit.

Stattdessen spann Lalevil den aufgenommenen Faden weiter: »Ich würde Präae gern noch einmal sehen, bevor ich allein ins Westgebirge reise. Könnte mir gut einen kleinen gemeinsamen Ausflug vorstellen, bevor ich für die nächsten Monate in dieser verfluchten Burgfeste hocke und versuche, Badramur zu besänftigen und gleichzeitig auszuhorchen, nur unterbrochen von Momenten, in denen ich mich mit degenerierten Elben herumschlagen muss. Falls du also eine dringende Nachricht für deine Familie hättest, könnten die Drachendame und ich das Tal besuchen. Würde ich gern für dich machen. Da hat Maherind sicherlich Verständnis für.«

Tevils zog verwirrt die Stirn kraus. »Nun ja, eigentlich bin ich ja gerade erst im Westend gewesen ...«

Lalevil verdrehte die Augen und schnipste Tevils gegen die Stirn, so dass er für einen Augenblick Sterne aufleuchten sah. »Na, dann bringe ich deiner Familie halt einen Strauß aus Heidekraut zusammen mit deinen besten Grüßen vorbei und berichte ihnen, dass du den Winter über an Vennis’ Seite in Previs Wall verbringen wirst. Sie werden gewiss stolz sein, wenn sie hören, dass du dich in den nächsten Monaten in hoher Diplomatie üben darfst. Damit hat bei dir altem Berserker bestimmt niemand gerechnet, was?« Als der Junge immer noch keine Anstalten machte, auf ihr Angebot einzugehen, griff Lalevil sich eine Handvoll von Tevils widerspenstigem Haar und rüttelte fest daran, bis dieser aufjammerte. »Und wenn du den Norden von Rokals Lande besuchst, vergiss ja nicht, das NjordenEis, meine alte Heimat, von mir zu grüßen, du Schafskopf! Die Frauen dort werden dir gefallen, die wissen, wie man sich inmitten eines Eissturms warm hält.«

Maliande - Das Geheimnis der Elben

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