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Kapitel 1
ОглавлениеVor der Schlacht
Aelaris war bei den von Efeu umschlungenen Säulen stehen geblieben, deren einzige Aufgabe darin bestand, den Himmel zu halten. Die Hallen von Plemaris waren in diesem Teil des Westgebirges einer der seltenen Orte, von denen aus man die Weite des Himmels erahnen konnte. Für gewöhnlich war man eingekeilt von Gebirgsmassen, die sich so hoch emporschraubten, dass sie immer im Blickfeld waren, ganz gleich, wie sehr man sich den Hals verrenkte.
Dieses Kleinod im Herzen des Steinozeans von Rokals Lande war kühnes Aufbegehren und Form gewordenes Sehnen zugleich: Obwohl der Stamm der Gahariren, der hier lebte, ein Volk der Weite und der Freiheit war, hatte er sich vor Jahrhunderten der Macht des Maliandes gebeugt. Und nirgendwo sonst im Westgebirge war Maliande von solcher Reinheit zu schöpfen, wie in den Tiefen dieser Gegend. So spielte sich ein Großteil des Lebens der Gahariren in schattigen Schluchten und unter Tage ab, während ihr ganzes Sinnen auf den unerreichbaren Himmel ausgerichtet war.
Plemaris’ Hallen waren kunstvoll geschaffene Plateaus inmitten des kargen Gebirges, die einer Kaskade glichen. Sanfte Auen, auf denen Farne und Heidelbeeren wuchsen, eingerahmt von schmalen Bächen, die über geschichtete Steine verliefen und dabei mal fröhlich glucksten, mal beruhigend rauschten.
Aelaris ließ die Weite der Hallen auf sich wirken und atmete voller Genuss die klare Luft ein. Dann erst öffnete er sich der Anwesenheit seines Lehrers Akalande, der sich auf eine Steinbank neben einem kleinen Wasserfall gesetzt hatte. Obwohl nichts an Akalandes Körperhaltung verriet, dass er die Anwesenheit seines Schülers erahnte, wusste Aelaris es besser: Die Augen mochten auf das geschmeidige Fließen des Wassers gerichtet sein, das seinen Weg über eine Vielzahl von Kieseln suchte, aber die Gedanken waren ganz und gar auf ihn gerichtet. Akalande machte nicht einmal den Versuch, dies zu verbergen. Er hatte seine mentalen Fühler in dem Moment ausgestreckt, als Aelaris das Plateau betreten hatte.
Aelaris zögerte noch einen Augenblick, bevor er sich seinem Lehrer näherte. Wahrscheinlich verschaffte ihm diese ungewöhnliche Zurückhaltung sogar einen Vorteil, da Akalande doch nicht müde wurde, den Hochmut seines Schülers zu beklagen. Eine Herabsetzung, die Aelaris herzlich wenig scherte. Allerdings hatte er sich so manches Mal gewundert, warum Akalande seine Ausbildung nicht jemand anderem überlassen hatte, obwohl sie beide einander so wenig abgewinnen konnten. Schließlich gab es in diesen Tagen mehr Lehrer als Schüler unter den Gahariren.
Jedenfalls verharrte Aelaris in diesem Moment nicht, weil er sich Sorgen um die Entscheidung der Vorangehenden seines Stammes machte – für ihn war von Anfang an klar gewesen, dass man sich für ihn entscheiden würde. Allein dieser Mangel an Demut hatte Akalande stets die Verzweiflung ins Gesicht getrieben, während er sich darum bemühte, seinem Schützling die eigentliche Bedeutung der Weihe nahezubringen. Doch sie hatten nur aneinander vorbeigeredet, unzugänglich für die Sichtweise des anderen – da vermochte auch die mentale Verbundenheit zwischen Lehrer und Schüler nichts auszurichten. Daran würde auch die Weihe nichts ändern, dessen war sich Aelaris sicher. Denn obwohl die Elben seines Stammes durch die Magie des Maliandes vereint wurden, so blieben sich einige von ihnen im tiefsten Inneren fremd. All die Jahrhunderte, in denen die Elben der einzelnen Stämme immer mehr miteinander verschmolzen waren, hatten dies nicht abändern können.
Nein, Aelaris verharrte, um die letzten Augenblicke auf sich wirken zu lassen, bevor er eine höhere Ebene innerhalb des Stammes erklimmen würde. Er würde das Gefühl der Ausgegrenztheit, das ihm der Rang als Schüler vermittelt hatte, nicht vergessen. Auch die lange und demütigende Abhängigkeit vom Wohlwollen seines Lehrers würde ihm eine mahnende Erinnerung bleiben. Ein Elbe mochte der fügsame Teil eines Ganzen sein, dennoch würde er diese Gefühle stets bewahren. Das Wohl des Stammes mochte immer an erster Stelle stehen, aber er würde sein eigenes darüber nicht vergessen.
Aelaris spürte, wie Akalande ihn mit wachsender Ungeduld bedrängte, die mentalen Tore zu öffnen und ihn endlich einzulassen. Dabei blieb der Blick seines Lehrers weiterhin auf den Wasserlauf gerichtet – kein Willkommen, nicht einmal eine freundliche Geste.
Einen aufsteigenden Schmerz unterdrückend, blickte Aelaris den Elben an, an dessen Seite er so viele Jahre als ungeliebter Schüler verbracht hatte. Das metallisch schimmernde Haar lag in einem komplizierten Flechtwerk auf Akalandes Rücken, der trotz der vielen Lebensjahre von Biegsamkeit und Ausdauer kündete. Die schmalen Hände glitten unablässig an einem Strang von geschliffenen Bergkristallen auf und ab, die dem Elben ein Lied vorsangen. Der Ärmel der Tunika war zurückgefallen, und die schwach durch die Wolkentürme brechende Sonne brachte die marmorne Haut zum Schimmern.
Aelaris stach ins Auge, was auf der weißen Haut seines Lehrers nicht zu sehen war: Die schwarzen Muster, die den Elben auf so vielfältige Weise voneinander erzählten, hatten sich unter die Kleidung zurückgezogen. Keine wuchernde Ranke verriet Akalandes Gemütslage, kein verwobenes Netz von Arabesken fing Aelaris’ Auge ein und erzählte ihm von den Gedanken seines Gegenübers. Einzig die Muster, die Akalandes Rang und Aufgabenbereich innerhalb des Stammes beschrieben, waren gut sichtbar. Einen größeren Beweis seiner Abneigung hätte er auf der letzten gemeinsamen Strecke nicht erbringen können: Nicht einmal Elben anderer Stämme trat man mit solch einer nichtssagenden Haut entgegen.
Aelaris’ Zeichen hingegen schlängelten sich um jeden einzelnen Finger und bildeten verworrene Knäuel auf den Handrücken, als wollten sie seinem Lehrer geradewegs ins Gesicht springen. Er betrachtete die Linien noch einen Augenblick, dann ließ er seine Hände in den weiten Ärmeln verschwinden.
Einen Moment lang sammelte sich Aelaris noch, ehe er die mentalen Schranken für seinen Lehrer niederließ. Wie immer verursachte ihm die Berührung eines anderen Geistes Unbehagen. Obwohl Akalande auf dieses Zaudern stets voll Skepsis reagiert hatte, war es Aelaris nie gelungen, seinen Widerwillen abzulegen. Für Akalande war dieses Unvermögen ein weiterer Beweis, dass sein Schüler noch längst nicht ausreichend von der verbindenden Macht des Maliandes durchdrungen war, um ein vollwertiges Mitglied des Stammes zu werden. Allerdings vermutete Aelaris wohl zu Recht, dass er nach Akalandes alleiniger Einschätzung auch nach weiteren hundert Jahren nicht ausreichend vorbereitet gewesen wäre. Glücklicherweise konnte der Rat der Vorangehenden auf derlei Feinheiten im Augenblick keine Rücksicht nehmen: Wie auch allen anderen Elbenstämmen mangelte es den Gahariren an Nachkommen.
Sosehr die Stärke der Elben auch auf dem Maliande beruhte, seine Zaubermacht forderte einen hohen Preis. Dass der Preis vielleicht zu hoch gewesen sein mochte, war ein Gedanke, dem die Elben nur unwillig nachgingen. Die mentale Verwobenheit, aus der sie ihre Macht zogen, kostete sie zugleich das Vergnügen aneinander. Lange Zeit war diese erzwungene Keuschheit als weiterer Beweis für die Überlegenheit des Elbenvolkes angesehen worden: Sie vergeudeten weder ihre Kraft noch ihren Gestaltungswillen mit Liebeleien, sondern bauten stattdessen zielstrebig ihre Reiche im Herzen des Westgebirges aus.
Allerdings hatte das strikte Stammesdenken der Elben auch dazu geführt, dass der Verbund von Olomin zerfallen war. Zu viel Tatkraft war darauf verwendet worden, einander im Auge zu behalten und Ränke zu schmieden, um die Entwicklung der Nachbarn einzudämmen. Verstrickt in ein seit Jahrhunderten währendes Machtspiel, war es den alten, von der Magie des Westgebirges berührten Völkern entgangen, dass aus der menschlichen Besiedlung am Fuß des Gebirges ein ernst zu nehmender Rivale erwachsen könnte. Als erste Bedenken im Verbund von Olomin auftauchten, stand Achaten, die Burgfeste, bereits unverrückbar da und scheute das Kräftemessen nicht.
Nun war die Zeit, in der sich die Elben Fehler erlauben dürften, vorbei.
Aelaris blieb ein Stück neben seinem Lehrer stehen und hängte die Daumen in den schmalen Gürtel, der um seine Hüften hing. Akalande hielt seinen Geist immer noch umfangen, länger als es sich schickte, doch er ertrug die intime Berührung gelassen. Sollte Akalande seine Macht ruhig noch einen Moment lang auskosten, gleich würde er jegliches Recht verlieren, ungebeten so tief in sein Inneres einzudringen.
Akalande stieß ein widerwilliges Schnauben durch die Nase aus und zog sich dann so unerwartet schnell aus Aelaris zurück, dass dieser merklich zusammenzuckte, weil es seinem Geist nicht schnell genug gelang, die verwaiste Stelle zu füllen. Sogar diese unnötige Grausamkeit ließ Aelaris schweigend über sich ergehen.
»Es hat wohl wenig Sinn, feierliche Worte an dich zu verschwenden, da du ohnehin davon überzeugt bist, dass alles nach deinem Willen verlaufen ist«, läutete Akalande mit ausdrucksloser Stimme diesen einzigartigen Moment im Leben eines Elben ein. »Und obwohl es mich nicht froh stimmt, kann ich dir mitteilen, dass du damit sogar recht behältst: Der Rat der Vorangehenden hat deiner Aufnahme zugestimmt. Du kannst dich also zurückziehen und auf die Zeremonie vorbereiten. Bei Sonnenaufgang wird das Maliande den letzten Zugang in dir öffnen, so dass du ein vollwertiges Mitglied dieses Stammes sein wirst. Hoffentlich wirst du dich als die erhoffte Bereicherung erweisen und nicht als eine Verschwendung von Maliande, so wie ich es vermute.«
Obwohl in Aelaris der sehnliche Wunsch aufflammte, seinem alten Lehrer eine passende Antwort entgegenzuschleudern, besann er sich eines Besseren. Der Elbe, der ihm in vielerlei Äußerlichkeiten so sehr ähnelte, war gerade Bestandteil einer ungeliebten Vergangenheit geworden.
Aelaris’ Mundwinkel deuteten ein stolzes Lächeln an, das seiner Verbeugung einen ironischen Anstrich gab.
Als Lehrmeister würde Akalande im Stamm ganze Welten von Aelaris entfernt sein, den es danach drängte, dorthin zu gelangen, wo die wahren Entscheidungen getroffen wurden.
Akalande deutete ebenfalls eine Verbeugung mit dem Kopf an, wie es sich unter Gleichgestellten gehörte. Doch er gab sich nicht die Mühe, vor Aelaris’ Geist zu verbergen, dass er ihn keineswegs für gleichgestellt befand.