Читать книгу Maliande - Das Geheimnis der Elben - Thea Lichtenstein - Страница 17
Kapitel 8
ОглавлениеIn den frühen Morgenstunden hatte der Wind gedreht und jagte nun eine weitere Woge von Frost aus dem NjordenEis herüber. Als Maherind durch die von Fackellicht spärlich beleuchteten Gänge schritt, bereute er es bereits, das warme Bett verlassen zu haben. Diese schneidende Kälte und die immer gegenwärtige Zugluft auf der Nordseite der Residenz von Previs Wall waren einfach nichts mehr für seine alten Knochen.
Trotzdem konnte Maherind ein Lächeln nicht unterdrücken. Ja, seine Knochen mochten allmählich morsch werden, aber sein Geist hatte sich in den letzten Monaten so jung und begierig gefühlt wie schon seit einer Ewigkeit nicht mehr. Die Geschichte von Rokals Lande mochte gerade auf den Kopf gestellt werden, und um ihn herum herrschte eine Phalanx der kummervollen Gesichter, doch ihn belebte das Durcheinander. Da mochte das Haus an der Steilküste noch so mit Frieden und Ruhe locken, augenblicklich hätte er seine Seele dafür gegeben, weiterhin im Zentrum des Geschehens zu stehen.
Ein Anflug von schlechtem Gewissen suchte Maherind heim, als seine Gedanken das Haus am Meer streiften. Für einen Augenblick trübten sich all die komplizierten Pläne und Ideen ein, die ihm ansonsten den ganzen Tag lang durch den Kopf gingen. Du bist ein alter Kerl, der unfähig ist loszulassen, flüsterte das schlechte Gewissen. Ein alter halb blinder Bursche, der einfach nicht erkennen will, dass es an der Zeit ist, die Bühne zu verlassen und nach Hause zu gehen.
Doch wie so oft hielt das schlechte Gewissen nicht lange an: Maherind schüttelte sich kurz und richtete sich wieder zur vollen Größe auf. Na, dann würde man ihn halt von der Bühne heruntertragen müssen. Und solange sich seiner Aufgabe niemand anderes aus dem Orden gewachsen fühlte, war seine Zeit noch nicht abgelaufen. Außerdem würde Kohemis auch morgen noch mit schlechter Laune durch das Haus an der Klippe stolzieren.
Obwohl ihm der Wind mit eisigen Klauen die Kapuze vom Kopf zu reißen drohte und den weiten Mantel aufblähte wie ein Segel, huschte er über die Außenbalustrade, bis er die Nordterrasse der Residenz erreichte. Dort suchte er sich eine geschützte Ecke und blickte in Richtung Norden.
Die Residenz, die über der Hafenstadt thronte und die von der Stadtbevölkerung gewählte Doppelspitze beherbergte, war ein uraltes Gemäuer mitten auf der einzigen Bergspitze, die aus den abgeflachten Ausläufern des Gebirges hoheitlich herausragte. Anhand der Residenz ließ sich die abwechslungsreiche und lange Geschichte von Previs Wall ablesen: Unzählige Generationen hatten den Räumen, Innenhöfen, den Balkonen und Schutzwällen den jeweils eigenen Stempel aufgedrückt, ohne jedoch die Spuren ihrer Vorgänger auszulöschen. In Previs Wall war man stolz auf seine Geschichte – auf eine Geschichte voller Einigkeit und Stärke. Außerdem hatten sich damals in dieser breiten Bucht die ersten über den östlichen Ozean kommenden Menschen angesiedelt. Man brüstete sich gern damit, dass die Geschichte der Menschen in Rokals Lande hier ihren Anfang genommen hatte. Dabei vergaß man nur allzu geflissentlich, dass das Volk der Njordener schon lange Zeit davor, mit Harpunen bewaffnet, auf Schollenbullen Jagd gemacht hatte. Aber die Njordener unbeachtet zu lassen war in Previs Wall ohnehin schon längst zu einer gepflegten Tradition geworden.
Der Horizont bestach an diesem Morgen mit einer fast schneidenden Klarheit. Die Sonne war bereits so hoch aufgestiegen, dass sie die Gebirgsausläufer und die dahinter liegenden Weiten des NjordenEises mit rosafarbenem Licht überflutete. Überwältigt von diesem Anblick stand Maherind noch da, als das einschmeichelnde Licht sich längst in ein Gleißen verwandelt hatte, das die Augen zum Tränen brachte.
»Guten Morgen, mein Freund. Da hast du dir aber ein lauschiges Plätzchen für deine erste Pfeife des Tages ausgesucht. –
Maherind mühte sich gerade ab, den Tabak im Pfeifenkopf anzustecken, als Vennis sich zu ihm gesellte. Zwischen seinen in Wollhandschuhen verpackten Händen hielt dieser einen dampfenden Tonbecher.
»Heißer Met?«, fragte Maherind hoffnungsfroh. Seine Nase war so kalt, dass er den verströmenden Duft des Getränks nicht auf Anhieb erraten konnte.
Unter Vennis’ dichten Bartflechten zeichnete sich ein Lächeln ab. »Ich muss dich enttäuschen: Es ist nur Holunderbeersaft. Möchtest du trotzdem einen Schluck, um dich aufzuwärmen?–
Doch für dieses Angebot hatte Maherind lediglich ein Schnaufen übrig und zündelte lieber weiterhin am Pfeifenkopf herum. Kaum glühte der Tabak, zog er einige Male eifrig an der Pfeife. Erleichtert atmete Maherind aus. Dann schielte er zu Vennis hinüber, der ruhig neben ihm stand und die Aussicht genoss.
In den letzten Jahren hatten sich unzählige graue Strähnen durch das einst dunkelbraune Haar gezogen, und auch um die Augen herum hatten die Falten an Schärfe gewonnen. Doch im Gegensatz zu vielen anderen Männern seines Alters hatte Vennis’ Erscheinung nichts an Kraft eingebüßt. Nur in seinem Blick verbarg sich eine Müdigkeit, die die lebenslange Sehnsucht nach Ruhe verriet.
Maherind kannte Vennis seit dieser ein Kind gewesen war, hatte ihn selbst ausgebildet und ihn später auch als Freund schätzen gelernt. Deshalb wusste er vielleicht besser als jeder andere, wie sehr Vennis unter dem sich abzeichnenden Krieg zwischen den beiden bedeutendsten menschlichen Bastionen von Rokals Lande litt. Eigentlich hätte er ein einträchtiges Leben in Montera führen sollen. Aber seine Familiengeschichte und das ausgeprägte Verantwortungsgefühl hatten ihn einen anderen Lebensweg beschreiten lassen. In den letzten Jahren war Vennis’ ganze Hoffung darauf ausgerichtet gewesen, dass die Menschen von Rokals Lande sich zu einer blühenden Gemeinschaft entwickeln würden, wenn die Vorherrschaft des Verbunds von Olomin erst einmal gesprengt wäre. Dass die Scherereien damit erst einen Anfang nehmen würden, war nicht vorherzusehen gewesen.
Vennis hatte den leeren Becher vor seinen Füßen abgestellt und die Hände in den Manteltaschen verschwinden lassen. Nun ärgerte sich Maherind doch ein wenig darüber, dass er das Angebot, einen Schluck zu nehmen, abgelehnt hatte – die Kälte hatte seine Füße und Hände bereits fest im Griff und drohte, sich nun auf den restlichen Körper auszubreiten.
Vennis bemerkte Maherinds Unwohlsein und legte abwägend die Stirn in Falten. Dann entschloss er sich, den Grund für den morgendlichen Spaziergang seines alten Lehrmeisters aufzudecken: »Verbirgt sich ein Geheimnis dahinter, dass du ausgerechnet auf dieser stürmischen Seite der Residenz ausharrst oder willst du dich schon einmal auf den Disput mit der Botschafterin aus dem NjordenEis einstellen?«
»Was weißt du über das NjordenEis?«
Vennis warf Maherind einen Blick aus den Augenwinkeln zu, als wolle er sichergehen, dass die Frage auch wirklich ernst gemeint war. Doch Maherind schaute ihn so offen und neugierig an, als wäre er tatsächlich auf die Antwort gespannt. Trotzdem seufzte Vennis missmutig, bevor er zu einer Antwort ansetzte.
»Ewiges Eis, das sich, je weiter man in Richtung Norden vordringt, zu immer höheren Schichten auftürmt, so dass man schon fast von Berghängen sprechen könnte. Das NjordenEis ist eine Schneewüste, karg und unwirtlich.« Nachdenklich hielt er einen Moment inne. Der Norden des Landes berührte ihn nach wie vor auf unvergleichliche Weise: Vor langer Zeit hatte sich seine Mutter mit ihrer Familie auf den Weg vom NjordenEis in den Süden nach Montera aufgemacht. Der Grund, weshalb sich seine Familie damals entschlossen hatte, fortzugehen, hatte niemals die Lippen seiner Mutter passiert. Obwohl sich Vennis stets dem Heimatland seines Vaters – Montera – verbunden gefühlt hatte, löste das NjordenEis einen seltsamen Schauer aus, der ihm verwirrend fremd und wunderschön zugleich erschien.
Als er vor einigen Jahren mit Nahim von einer Reise durch den Norden in der Residenz eingekehrt war, hatte Nahim ihm vor dem heruntergebrannten Kaminfeuer mit leiser Stimme gestanden, dass allein der Anblick des irisierenden Eises einen Ton in ihm zum Klingen gebracht hatte, den er kaum zu beschreiben vermochte. Vennis hatte den Versuchen des jungen Mannes gelauscht, ohne einzugestehen, dass er ähnlich empfand.
Betreten fuhr Vennis sich mit der Zunge über die Lippen, die im Nu von Raureif überzogen wurden. »Ehrlich gesagt, habe ich mich stets darüber gewundert, dass sich das ganze Volk der Njordener nicht schon vor Urzeiten auf die Suche nach wärmeren Gefilden begeben hat. In diesem Landstrich auszuharren und solch ein entbehrungsreiches und gefährliches Leben zu führen, wo doch Rokals Lande milde Gegenden wie Montera zu bieten hat ... Und das einzig Besondere, was das ewige Eis hergibt, ist für das Volk der Njordener doch vollkommen wertlos: Goldenen Staub kann man nicht essen, und er wärmt einen auch nicht. Man ist so machtlos und unbedeutend, dass man für den Goldenen Staub nicht einmal einen Tropfen Maliande als Gegenwert einfordern kann.«
»Ich habe bei meinen Reisen ins NjordenEis nie das Gefühl gehabt, die Menschen dort würden ihr Leben als entbehrungsreich betrachten«, wendete Maherind ein. »Wenn man ihren Sagen Glauben schenken darf, dann hat das Eis die Njordener selbst erschaffen. Kein Wunder, dass die Siedler aus dem Osten lange Zeit behauptet haben, die Njordener gehören nicht wirklich dem Menschengeschlecht an, sondern seien Eissplitter, denen die Magie von Rokals Lande Leben eingehaucht habe.«
An diesem Punkt unterbrach Maherind seine Überlegungen, da sie Vennis merklich unangenehm waren. Obwohl das Blut der Njordener in seinen Adern schon verwässert war, konnte Vennis Andeutungen, nicht dem Menschengeschlecht anzugehören, nur schwer ertragen. Im Gegensatz zu seiner verstorbenen Schwester Negrit hatte er sich von Kindheit an in Montera heimisch gefühlt und die Magie, die Rokals Lande zu bieten hatte, wie die meisten Menschen mit Argwohn betrachtet.
Maherind hielt sich beide Hände wie einen Trichter vors Gesicht und blies kräftig hinein. Die warme Luft kribbelte auf der ausgekühlten Haut seiner Wangen. Als die Kälte einen Atemzug später umso beißender zurückkehren wollte, zog er die Kapuze kurzerhand noch tiefer ins Gesicht, auch wenn er dadurch nichts mehr sehen konnte. Aber seine Sicht war ohnehin bestenfalls trübe, und er wollte noch nicht ins warme Innere der Residenz zurückkehren.
»Weißt du, was ich mich frage, wenn ich ans NjordenEis denke, Vennis?« Die Stimme des alten Mannes klang mit einem Mal fast entrückt. »Warum sich die Drachen in diesen Teil von Rokals Lande zurückgezogen haben. Von allen Wesen sind die Drachen doch am ehesten diejenigen, die im Westgebirge heimisch sein dürften. Denn niemand anderes ist der alten Magie, die dort tief im Inneren schlummert, anverwandter.–
»Drachen«, stöhnte Vennis gequält. Er hatte Maherinds Leidenschaft für diese fliegende Plage nie wirklich nachvollziehen können. Natürlich wusste er – wie jeder andere auch – ihre atemberaubende Schönheit zu schätzen. Und er war auch dankbar dafür, dass solch erhabene Geschöpfe existierten, selbst wenn sie mit ihrer Neugier und überschäumenden Magie weder vor Menschen noch vor deren Werken zurückschreckten. Im Gegensatz zu seinem Lehrmeister sah Vennis in den Drachen eine Macht, die sich jeglicher Kontrolle entzog. »Du denkst also über Drachen nach«, hakte Vennis nach und versuchte, einen Blick auf Maherinds Gesicht zu erhaschen. Doch die tief heruntergezogene Kapuze versperrte ihm die Sicht.
»Eigentlich denke ich über die Magie von Rokals Lande nach«, erwiderte Maherind und zupfte sich gedankenversunken am Bart. »Darüber, dass die Magie nicht das willige Werkzeug ist, für das sie immer gehalten wird. Wie die Dinge momentan liegen, wäre es albern zu leugnen, dass das Maliande in Menschenhand eine Wandlung herbeiführt, die eine Auswirkung auf das ganze Land hat. Aber ich weiß nicht, woran es liegt und wohin es führen könnte. Orks denken, Drachen lauschen, Menschen wandeln ... Wohin will das Maliande Rokals Lande führen?«
»Das klingt beinahe so, als wäre das Maliande eine Person mit einem eigenen Willen, die Pläne schmiedet.« Eigentlich hatte Vennis spöttisch klingen wollen, doch die Worte kamen fragend über seine Lippen.
Ehe Maherind etwas erwidern konnte, riefen die Fanfaren zur Zusammenkunft am Vormittag auf. Die beiden Männer zuckten zusammen, derartig vertieft waren sie in ihr Gespräch gewesen. Maherind hatte sich als Erster wieder in der Gewalt, tätschelte dem jüngeren Mann die Schulter und wandte sich zum Gehen.
»Es ist auch wirklich an der Zeit, ins Warme zurückzukehren«, nuschelte er in seinen Bart hinein, der von glitzernden, gefrorenen Wassertropfen durchwirkt war. »Meine Finger sind so taub vor Kälte, dass es mir kaum gelingen dürfte, die Pfeife zu stopfen. Außerdem muss ich unbedingt noch der Küche einen Besuch abstatten, bevor ich mich einer lautstarken Kontroverse zwischen der Doppelspitze und der NjordenEis-Botschafterin aussetze.«
An diesem Vormittag traf man sich in einem der kleineren Säle der Residenz, dessen Herzstück ein wuchtiger Marmortisch war. Bei seinem Anblick bekam Vennis eine Gänsehaut, denn die Kälte des Steins biss erfahrungsgemäß selbst durch dicht gewebten Stoff. Notfalls würde er während der gesamten Verhandlung mit verschränkten Armen dasitzen und hoffen, dass diese Körperhaltung nicht als Unhöflichkeit abgeurteilt wurde.
Ansonsten verwöhnte der Saal die Augen seiner Gäste im Übermaß: Die hohen Steinwände waren mit dunkelroter Seide ausgeschlagen, in die goldene Schriftzüge gestickt waren. Vennis kannte die Schrift zwar nicht, aber ihre klare, großzügige Weise sagte ihm zu. Auf der einen Seite des Raums hingen dicht an dicht Gemälde, die Schiffe auf See oder schlicht das offene Meer zeigten. Auf Fenstersimsen, Tischchen und Kommoden waren Zeugnisse des weitreichenden Einflusses der Hafenstadt Previs Wall angeordnet. Alles wirkte ganz ohne Hintergedanken arrangiert, als wisse man einfach nicht, wo man die Fülle an fremdländischen Schätzen ansonsten unterbringen sollte. Doch Vennis wusste es besser: Hier in der Residenz war man durchaus darauf bedacht, seine Macht und seine Verbindungen bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu demonstrieren. Besonders in letzter Zeit, wo Achaten sich zu einem ernst zu nehmenden Herausforderer aufschwang, hatten derlei Selbstversicherungen in einem fast schon lächerlichen Maße zugenommen.
Zu seiner Erleichterung hatte Vennis den Saal als Erster betreten – nur drei zurückhaltende Bedienstete standen neben dem Büfett. Doch hinter sich hörte er bereits den Widerhall von Stiefeln. Hastig positionierte er sich vor einem Beistelltisch und gab vor, ein Kaleidoskop aus Messing zu bewundern, in dem sich unzählige Edelsteine zu immer neuen Mustern zusammensetzten.
In seinem Rücken füllte sich bereits der Raum, als sich plötzlich jemand zu ihm gesellte und schweigend verharrte. Gezwungen, seine Selbstversunkenheit aufzugeben, räusperte sich Vennis.
»Ein schönes Stück, gewiss aus Übersee«, sagte Kijalan leichthin.
Die Botschafterin aus dem NjordenEis bemühte sich stets darum, den leichten Plauderton, der in der Residenz vorherrschte, zu imitieren. Doch er passte weder zu ihrer rauchigen Stimme noch zu dem angespannten Ausdruck, der stets auf ihrem Gesicht lag. Sie wirkte immer so, als beschäftige sie sich mit etwas viel Dringlicherem. Und wahrscheinlich war dem auch so.
Mit einem zustimmenden Brummen reichte Vennis ihr das Kaleidoskop, und sie blickte eine Zeit lang hindurch.
»Man muss hieran drehen«, erklärte Vennis schließlich und führte Kijalans Finger an die richtige Stelle. Ihre Haut fühlte sich rau und kühl an. Er zog seine Hand so rasch zurück, als habe er sich verbrannt. Von allen Teilnehmern dieser Versammlung war Kijalan die Person, mit der er am wenigsten zu tun haben wollte.
»Ah, ich sehe. Das Bild verändert sich. Wirklich sehr schön.«
Sie schenkte ihm ein Lächeln, das Vennis nicht erwiderte. Stattdessen musterte er ihre hageren Gesichtszüge, die von einem feinen Spinnennetz aus Falten überzogen waren. Ihr schwarzes Haar war zu einem buschigen Zopf geflochten, und die mandelförmigen Augen schlossen sich beim Lächeln fast. Bevor Vennis sich’s versah, hatte sich das Gesicht seiner Mutter Whelis vor sein geistiges Auge geschoben, und seine Lippen verzogen sich so unvermittelt zu einem warmen Lächeln, dass er nicht dagegen ankam.
Als hätte sie auf dieses Zeichen gewartet, legte Kijalan ihm eine Hand auf den Unterarm und sagte: »Wir Njordener können doch wohl davon ausgehen, dass der Orden unsere Rechte genauso sorgfältig im Auge behält wie die von Previs Wall? Unser Rat war sehr beunruhigt darüber, dass Lalevil gerade in solch unruhigen Zeiten nach Achaten geschickt worden ist. Wir befürchten – wohl nicht zu Unrecht – noch weiter ins Abseits gedrängt zu werden.«
Vennis hörte, wie sein Kiefer knackte. Bestimmt konnte er Kijalans Bedenken verstehen, aber sie schien im Gegenzug seine Aufgabe als Ordensmitglied nicht zu begreifen. Nur weil seine Mutter ihm die Gesichtszüge der Njordener mit auf den Lebensweg gegeben hatte, machte ihn das nicht zu ihrem Fürsprecher. Und genau diese Rolle versuchte Kijalan, ihm bei jedem Zusammentreffen überzustülpen.
»Ich glaube nicht, dass Lalevil es als ihre Aufgabe angesehen hätte, hier als zweite Botschafterin von NjordenEis aufzutreten«, sagte Vennis schärfer als beabsichtigt.
Langsam zog Kijalan ihre Hand von seinem Arm zurück. Für einen Augenblick blitzte die erfahrene Demütigung in ihren Augen auf, und Vennis bereute sogleich seine Grobheit. Aber in Kijalans Gegenwart fühlte er sich wie ein Junge, der sich mit aller Gewalt dagegen stemmte, wie einer behandelt zu werden.
Wie so oft in der letzten Zeit wünschte Vennis sich, dass Nahim da wäre. Ein Freund, mit dem man sich in einer ruhigen Ecke austauschen konnte. Ein Sohn, der die Aufgaben übernahm, für die es einem selbst allmählich an Kraft und Glauben mangelte. Die Erinnerungen an seinen letzten Besuch im Tal waren noch frisch genug, um ihm zuzusetzen: Nahim hatte einen verlorenen Eindruck gemacht, während die Frau, für die er sein bisheriges Leben aufgegeben hatte, sich schlichtweg unnahbar und in raren Momenten dann doch wieder sehr hingewandt gezeigt hatte. Dabei hatte er Lehen als alles andere als unausgeglichen in Erinnerung gehabt. Es war gerade so, als wisse sie einfach nicht, ob sie Nahims Nähe überhaupt ertrug. Wenn Vennis es richtig sah, waren die Wunden, die sie ihrem Liebsten zugefügt hatte, mittlerweile zu tief, als dass sie leicht zu heilen wären. Doch als Vennis Nahim beiseitegenommen hatte, um der Sache auf den Grund zu gehen, hatte der junge Mann nur abgewiegelt und ein störrisches Gesicht aufgesetzt. Diesen Gesichtsausdruck hatte Nahim dann auch bis zu Vennis’ Abreise nicht mehr abgelegt.
Die Erinnerung daran ließ Vennis kurz die Augen zusammenpressen, als habe er einen schmerzenden Stich erfahren. Es sah ganz so aus, als ob Nahim und er beide in eine Lage geraten waren, die an ihrer Substanz zehrte. Der Gedanke, dass Tevils jeden Tag in Previs Wall erwartet wurde, machte dieses Sehnen nur bedingt erträglicher, auch wenn er den Jungen wegen seiner Unbeschwertheit gern um sich hatte.
Bevor Kijalan sich ob seines ungebührlichen Schweigens abwenden und zur Runde am Marmortisch gesellen konnte, griff Vennis sie am Ellbogen. Zu seiner Überraschung blickte sie ihn geradewegs an.
»Aus Sicht des Ordens ist das NjordenEis weder unbedeutend noch erwarten wir, dass sich die Njordener der Willkür von Previs Walls unterwerfen«, sagte Vennis mit einer Ruhe, die er noch vor einigen Momenten für unmöglich gehalten hätte. »Der Orden steht seit jeher für ein gleichberechtigtes Miteinander unter den Menschen ein, aber wir sind darauf angewiesen, dass man uns anhört. Sollte sich die Doppelspitze unseren Anmerkungen verschließen, bleiben uns kaum Möglichkeiten der Einflussnahme. Unsere Aufgabe ist mindestens so schwierig wie die deine, Kijalan.«
Die Botschafterin musterte Vennis eindringlich, dann nickte sie kaum merklich. »Ich weiß«, sagte sie mit ihrer tiefen Stimme, und obwohl sie leise sprach, klang es, als würden zwei Eisschollen aufeinanderprallen. Eine fremde Stimme in den Mauern der Residenz, in der rauschende Feste gefeiert wurden und ein Hofstaat beheimatet war, dessen komplexes Regelwerk das Miteinander in der größten Hafenstadt von Rokals Lande repräsentierte. Obgleich man von den Balustraden der Residenz aus das NjordenEis sehen konnte, war man doch weit entfernt vom ewigen Eis.
Das feine Klingen eines Gongs brachte die allgemeine Unterhaltung im Saal zum Erliegen.
»Wir wollen uns heute mit der Frage auseinandersetzen, inwiefern ein Handelsembargo gegen Achaten von Interesse wäre«, eröffnete Narcassia die Versammlung, an der nur eine ausgewählte Gruppe von Repräsentanten teilnahm.
Während Vennis zu seinem Platz eilte, stellte er mit einem Lächeln fest, dass eine imposante Erscheinung fehlte, und er fragte sich, ob es wohl viele Schwierigkeiten bereitet hatte, den Repräsentanten von Achaten anderweitig zu beschäftigen. Vor wenigen Tagen war Bolivian mit einer schmalen Ladung Maliande eingetroffen und hatte sich gar nicht erst die Mühe gemacht, den offenkundigen Betrug zu beschönigen. Allein dass Badramur ihn geschickt hatte, zeigte, dass die Auseinandersetzung zwischen Achaten und Previs Wall zügig vorangetrieben werden sollte.
Als er sich setzte, fiel Vennis auf, dass noch ein weiterer Platz verwaist blieb: Osanir, der andere Part der von der Bürgerschaft gewählten Doppelspitze, hatte sich offensichtlich entschuldigen lassen. Allerdings hatte Vennis bereits am Frühstückstisch das Gerücht gehört, dass es zur späten Stunde noch zu einer Auseinandersetzung zwischen den beiden ungleichen Machtinhabern Narcassia und Osanir gekommen sei. Nur allzu gern hätte Vennis hierzu Maherind befragt, doch dieser hatte anscheinend seinen Streifzug durch die Küche noch nicht abgeschlossen.
Mit einer konzentrierten Geste strich sich Narcassia das kupferfarbene Haar hinter die Ohren. Dann stemmte sie sich mit den Fingerknöcheln auf dem Marmortisch ab und ließ ihren Blick über die Anwesenden wandern. Obwohl sie für ihre Position recht jung war und dies durch ihren zierlichen Körperbau betont wurde, verfügte sie über Charisma, so dass selbst alte Haudegen andächtig an ihren Lippen hingen. Anders wäre die erfolgreiche Zusammenarbeit mit einem Hitzkopf wie Osanir wohl auch kaum möglich gewesen.
»Nun«, setzte Narcassia schließlich ihre Rede fort. »Es wird mir wohl jeder in diesem Saal hier zustimmen, dass es an der Zeit ist zu handeln. Es braucht wohl keinen weiteren Beweis, dass Achaten entschlossen ist, unsere Grenzen auszutesten. Manche von uns mögen sagen, sie seien bereits überschritten. Wahrscheinlich haben sie damit Recht. Aber Osanir und ich haben uns trotzdem darauf geeinigt, Achaten zunächst auf politischem Wege vor Augen zu führen, wie es seine Position in Rokals Lande einzuschätzen hat: Wir werden die Ausfuhr von Goldenem Staub so lange unterbinden, bis Achaten das uns schuldige Maliande nachgeliefert hat. Außerdem werden wir den gesamten Seehandel mit Sahila so lange einschränken, bis der Süden verbindlich Stellung zu uns bezogen hat. Leider war der Botschafter von Sahila vor einigen Tagen aus privaten Gründen gezwungen, übereilt nach Hause abzureisen, so dass eine Stellungsnahme Sahilas offensichtlich erst einmal auf sich warten lassen wird.«
Die kleine Sprechpause, die Narcassia kunstvoll einlegte, verdeutlichte überaus klar, wie sie diese Abreise des Botschafters einschätzte: Sahila – und mit ihm Montera, wie Vennis bekümmert dachte – würde versuchen, auf Zeit zu spielen, und die Doppelspitze von Previs Wall war nur bedingt gewillt, dieses Verhalten zu tolerieren.
Mit einer bedächtigen Bewegung führte Narcassia einen Silberpokal an die Lippen, und die angespannte Atmosphäre im Saal breitete sich merklich aus. Während sie einige Schlucke nahm, heftete sich ihr Blick auf Kijalan, deren Unruhe mit jedem gefallenen Wort gestiegen war. Trotzdem zögerte die Botschafterin nicht, den Blick zu erwidern. »Bleibt uns also die Frage, ob das Volk des NjordenEises mit unseren Plänen übereinstimmt.«
Kijalan gab gar nicht erst vor, über diese unverblümt gestellte Frage lange nachdenken zu müssen. »Kommt darauf an, wie Previs Wall uns die Ausfälle entlohnen will. In den letzten Jahren ist der Handel mit dem Goldenen Staub für unser Volk von großer Wichtigkeit geworden. Viele Familien haben sich deshalb niedergelassen – so etwas hat es in der Geschichte unseres Volkes zuvor noch nie gegeben, denn wir sind ein Nomadenvolk. Das Eis zwingt uns dazu. Schon bald wird erneut die Dunkelheit anbrechen und wenn sich die Familien dann nicht auf das Eis zurückziehen, sind sie auf die Güter aus Previs Wall angewiesen. Bislang war das ja kein Problem. Wenn aber der Erlös des Goldenen Staubs ausbleibt, werden diese Familien in große Bedrängnis geraten. Die Frage ist also: Wie steht Previs Wall zu dieser Verantwortung?«
Der leblose Ausdruck, der Narcassias feine Züge beherrschte, grenzte fast an eine willentliche Zurückweisung, so wenig schien sie dieses Thema zu berühren. »Was die Versorgung des Teils deines Volkes anbelangt, das sesshaft geworden ist, um Goldenen Staub zu bergen, so sehe ich da eigentlich kein Problem. Ich denke, wenn sich die Njordener zu einigen Zugeständnissen bereit erklären würden, ließe sich hier eine Lösung finden.«
»Was meinst du mit Zugeständnissen?«, fragte Kijalan. Dabei verriet die Art, wie sie sich angriffslustig über den Marmortisch lehnte, dass sie sich sehr gut denken konnte, wovon Narcassia sprach. Offensichtlich kamen sie endlich an den Punkt, den die Botschafterin befürchtet hatte.
Narcassia gab sich überrascht. »Die Gespräche, dass Previs Wall gern an den Schürfrechten beteiligt wäre, fuhren wir doch schon länger. Und angesichts Achatens ausufernden Machthungers wäre es das Klügste, wenn sich das NjordenEis unter unser Banner stellen würde.«
»Du schlägst uns doch nicht ernsthaft vor, unsere Selbstständigkeit aufzugeben, damit Previs Wall sich zur stärksten Macht in Rokals Lande aufschwingen kann?«
»Kijalan, wir wissen beide sehr genau, dass dein Volk auf uns als Handelspartner angewiesen ist. Was bringt euch der ganze Goldene Staub, wenn ihr niemanden findet, der ihn euch abnimmt?« Narcassia wirkte so kalt, dass Vennis nicht umhinkonnte, sie verblüfft anzusehen. Gewiss war die junge Würdenträgerin dafür bekannt, sich nicht sonderlich für die Rechte des NjordenEises zu interessieren, wenn es um ihren eigenen Vorteil ging. Aber mit dieser unterschwelligen Drohung überspannte sie den Bogen deutlich.
Bevor Kijalan zu einer Antwort ansetzen konnte, flog die Tür auf, und Maherind schlüpfte an einem wild gestikulierenden Bediensteten vorbei. Mit forschen Schritten hielt er auf seinen Platz in der Runde zu.
»Ich muss mich entschuldigen«, sagte Maherind, in dessen Bart sich Soßentropfen verfangen hatten, die er nachlässig mit einer Serviette bearbeitete. »Hoffentlich habe ich nichts verpasst?– Dann wanderte sein Blick in Richtung Kijalan, deren Wangen vor Zorn mit roten Flecken übersät waren. »Nein«, sagte er trocken. »Offensichtlich ist hier alles so abgelaufen, wie ich es erwartet habe.«