Читать книгу Der sechste Passagier - Theodor Kallifatides - Страница 12

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Nikki von Lauterhorn saß im französischen Restaurant des Stockholmer Grand Hotels, das im Guide Michelin von 1987 wahrhaftig einen Stern erhalten hatte. Von ihrem Tisch hatte sie einen weiten Ausblick, vom Schloß bis zur Ersta-Kapelle, einer der wenigen achteckigen Kirchen Schwedens. Dazwischen sah man Slussen und die vielen Verkaufsstände, die tagsüber frisch gebratene Heringe, Blumen, Bücher, Gemüse und Obst anboten. Nachts wurde hier mit ganz anderen Dingen gehandelt.

Sie wußte das, denn sie war früher oft dort gewesen. Wenn sie Zeit gehabt hätte, wäre sie gern wieder hingegangen. Sie war Millionärin, aber auf das Vergnügen des billigen Einkaufs mochte sie nicht verzichten. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie in Eskilstuna jeden Samstagmorgen an der Hand ihrer alleinerziehenden Mutter über den Großmarkt geschlendert war, wo alle möglichen Leute alle möglichen Sachen verkauften.

Dort hatte ihre Karriere in der Schönheitsbranche eigentlich begonnen. Mehr als einmal war es passiert, daß ein älterer Iraner mit scharfgeschnittenen Zügen eine Lobeshymne auf die Mutter anstimmte, die ein so hübsches Kind zur Welt gebracht hatte, und ihnen deshalb einen ansehnlichen Rabatt auf seine Ware in Aussicht stellte.

Jetzt wartete sie auf Kommissarin Kristina Vendel. Was für eine griesgrämige Alte würden sie ihr da auf den Hals schicken?

Als wäre es nicht genug, daß sie ihren Liebsten und ihr Flugzeug verloren hatte, riskierte sie nun auch noch, die Erstattungssumme der Versicherungsgesellschaft einzubüßen. Die würde keinen roten Heller herausrücken, wenn sich herausstellte, daß der Pilot in kriminelle Machenschaften verwickelt gewesen war. Das hatte ihr Anwalt ihr bei einem gemeinsamen Frühstück erklärt. Versicherungsgesellschaften sind nämlich höher versichert als irgend jemand sonst. Außerdem würde man sie zwingen, den Angehörigen der Opfer einen Schadensersatz in enormer Höhe zu zahlen. Wenn es ganz schlimm kam, würde sie bald wieder mit ihrer Mutter auf dem Großmarkt in Eskilstuna einkaufen.

Sie war erleichtert (wenn man unter solchen Umständen davon sprechen kann), als Kristina und Maria von einem Portier an ihren Tisch geführt wurden.

Sie verstanden sich auf Anhieb.

Kristina war nicht gekommen, um sich in die wirtschaftlichen Konsequenzen des Unglücks zu vertiefen. Sie vermutete auch kein Verbrechen. Sie wollte nur wissen, wie es dazu gekommen war, daß sich ein überzähliger Passagier an Bord befand.

Nikki wußte es nicht. Aber sie wollte der Polizei helfen, so gut sie es vermochte. Das lag auch in ihrem Interesse, denn sonst konnte es Probleme mit der Versicherung geben. Deshalb wollte auch sie die Angelegenheit so schnell wie möglich aus der Welt schaffen.

Sie sagte das alles in einem geschäftsmäßigen Ton, der wie auswendig gelernt klang. Das schmälerte zwar ihre Glaubwürdigkeit, nicht aber die Logik ihrer Ausführungen, was den Effekt hatte, daß die Polizistinnen ihr mit einer Spur Widerwillen zuhörten.

Das begriff sie sofort. In ihren Jahren auf den Laufstegen der Welt hatte sie ein sehr feines Gespür für Stimmungen entwickelt. Ein Schatten im Blick eines anderen genügte, damit sie ihr Verhalten änderte.

Sie wußte auch genau, wie sie das machen mußte. Sie wandte sich ab und schaute aus dem Fenster, während ihr Gesicht langsam einen nachdenklichen Ausdruck annahm. Dann sah sie wieder die beiden Polizistinnen an, mit einem schüchternen, leicht gequälten Lächeln.

Sie wiederholte, daß sie keine Ahnung habe, wie der sechste Passagier an Bord gekommen sei. Sie hatte auch keine Ahnung, wer er sein konnte. Aber sie hatte eine Theorie, die besagte, daß der unbekannte Junge mit einem Erwachsenen zusammen gereist war und daß der Pilot ihn vielleicht deshalb nicht erwähnt hatte.

Daran hatte Kristina auch schon gedacht. Aber dann lautete die Frage: Mit wem war er gereist?

Nicki senkte den Blick und strich sich mit einer Hand durchs Haar. Sie konnten nichts tun, als ihr ansprechendes Äußeres zu bewundern und auf ihre Antwort zu warten, wenn sie denn eine hatte.

Sie hatte eine. Es widerstrebte ihr, das zu sagen, aber die einzige Person, die einen Extra-Passagier mitnehmen durfte, war der Pilot selbst.

Das klang plausibel. Daß sie daran nicht gedacht hatten!

Maria sah den Schimmer von Befriedigung in Nikkis Augen und ließ einen Versuchsballon los. Wie gut hatte sie den Piloten gekannt?

Ja, wie gut kann man seine Angestellten kennen? Er war von Anfang an dabeigewesen, er war ein großartiger Pilot, immer pünktlich, ruhig, konzentriert. Sie hatte keinen Grund zur Klage. Das alles bedeutete nicht, daß sie ihn wirklich kannte, und sie fügte mit einer gewissen Ironie hinzu: »Männer sind wie Kleidungsstücke. Man muß sie anziehen, um zu sehen, ob sie passen.«

Diese Ansicht wurde anscheinend von den beiden anderen Frauen geteilt, sie fragten jedenfalls nicht weiter.

Sie wollten gerade aufstehen und gehen, als ein junger Mann in das Restaurant stürmte. Er war klein und schlank und streckte den Kopf vor, wie es viele Kurzsichtige tun. Sein Haar stand nach allen Richtungen ab, was ihn einem Igel ähneln ließ.

Nikki strahlte, erhob sich mit ausgebreiteten Armen und drückte ihn an ihre duftende Brust.

Es war Erland von Lauterhorn, ihr Verflossener. Er war vor einer halben Stunde in Arlanda gelandet, hatte einen Hubschrauber gemietet, der ihn auf der Uferstraße in Gamla Stan abgesetzt hatte, und nun war er da. Er hatte eine Stunde Zeit, bevor er wieder nach Arlanda mußte, um nach Reykjavik weiterzufliegen.

Er sah die beiden Polizistinnen fragend an, und Nikki stellte sie vor. Er schüttelte ihnen energisch, aber kurz die Hand, denn er wußte, daß er zu feuchten Handflächen neigte. Dann nahm er sich ein übriggebliebenes Croissant und fing an zu kauen, mit deutlich sichtbaren Lippenbewegungen, wie ein kleines Kind.

Es wurde Zeit, sich zu verabschieden.

Sie konnten nicht umhin, sich zu fragen, ob Nikki von Lauterhorn die Wahrheit gesagt hatte, aber sie hätten sich diese Frage auch nach einem Gespräch mit dem Papst gestellt.

Maria fand jedenfalls, die schöne Nikki und das New-Economy-Genie seien ein süßes Paar; schade nur, daß sie es nicht mehr waren. Andererseits gab es ja kaum noch Paare, obwohl ständig neue gebildet wurden. Irgendwie ist es auch tröstlich, daß der Mensch nie dazulernt.

Der sechste Passagier

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