Читать книгу Der sechste Passagier - Theodor Kallifatides - Страница 16

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Sie schafften noch eine zweite Runde, bevor Mitsuko fand, daß der richtige Augenblick gekommen sei. Ohne Vorwarnung öffnete sie ihr Herz, ungefähr so, wie man im Sommer eine reife Wassermelone öffnet.

Mit neunzehn war sie ihm begegnet, während ihres ersten Jahres auf der Universität. Er war ihr Dozent, neununddreißig, mit seiner Jugendliebe verheiratet, drei Kinder. Jeden Augenblick konnte er zum Professor ernannt werden, er hatte unermüdlich darauf hingearbeitet, seine Dissertation hatte Epoche gemacht.

Bis dahin war Mitsuko nur mit einem Klassenkameraden auf dem Gymnasium zusammengewesen, und diese Beziehung war zerbrochen, als sie zum Studieren nach Lund ging. Zuerst hatten sie noch Briefe gewechselt, miteinander telefoniert, sich eingebildet, daß sie einander vermißten. Aber das war nicht wahr. In den Weihnachtsferien, als Mitsuko nach Hause fuhr und ihn wiedersah, wußte sie, daß es vorbei war. Zu Ende, so wie der Sommer zu Ende geht. Er war ein intelligenter, sensibler Junge, er war verständnisvoll und machte keine Szene. Er küßte sie auf die Stirn und sagte, er würde sie niemals vergessen.

Das Beste an dieser Liebesgeschichte war ihr Schluß. Mitsuko entdeckte, daß die Trauer genauso reizvoll sein konnte wie die Liebe selbst. Neue Räume taten sich in ihr auf, sie hatte ihren Horizont erweitert, und als sie nach Lund zurückkehrte, hatte sie einen klaren Kopf und war bereit, ein Verhältnis mit dem Mann zu beginnen, den sie schon ein Semester lang begehrt hatte, ohne es sich selbst einzugestehen.

Es war nicht einfach, er war verheiratet, und sie war seine Studentin. Lund ist eine Kleinstadt, und für diejenigen, die zum akademischen Milieu gehören, ist sie noch kleiner. Gefragt waren nun vollkommene Diskretion, Vorsicht, Erfindungsreichtum, Lügen, irreführende Manöver und eine ausgeprägte Fähigkeit, die Augenblicke zu genießen, die einem geschenkt wurden. »Listig wie Raben und klug wie Schlangen müssen wir sein«, sagte er zu ihr, gerade dann, wenn sie sich am meisten danach sehnte, sich mitten auf den Marktplatz zu stellen und ihre Liebe laut herauszuschreien.

Sie glaubten nicht, daß sie es schaffen würden. Aber sie schafften es. Auf jeden Fall schafften sie es nicht, Schluß zu machen, obwohl sie es mehrmals versuchten. Sie sahen sich eine Weile nicht, aber wenn sie sich dann wiedertrafen, fühlten sie sich um so stärker zueinander hingezogen.

Er erwog natürlich, sich scheiden zu lassen, aber sie wollte nichts davon wissen. Nicht einmal, als sie schwanger wurde und sich dafür entschied, das Kind zu behalten, wollte sie, daß er seine Familie verließ. Sie hatte sich damit abgefunden, die Zweitfrau zu sein. Lieber teilte sie den Mann, den sie liebte, mit einer anderen, als daß sie ihr Leben mit jemandem teilte, den sie nicht wollte.

Einer muß Opfer bringen, wenn eine solche Geschichte reibungslos laufen soll. Immer muß sich jemand opfern, damit es in der Welt reibungslos läuft. Als er nach Stockholm umzog, zog sie auch dorthin. Acht Jahre lebten sie so. Ihre Tochter wußte nicht, wer ihr Vater war, Mitsukos Eltern durften nichts von ihm wissen, sie hatte seinen Namen nie preisgegeben. Heute abend tat sie es zum ersten Mal, und der Grund dafür war schwerwiegender als jeder andere.

Er war tot. Er war an Bord des abgestürzten Flugzeugs gewesen. Er war eines der Opfer.

Kristina hatte seinen Namen längst erraten, und Mitsuko brauchte ihn eigentlich nicht mehr zu nennen. Sie sagte ihn trotzdem, immer wieder, wie ein Mantra. Es war so lange verboten gewesen. Sein Tod hatte ihr die Freiheit geschenkt, seinen Namen auszusprechen.

Am Ende wurde daraus ein nach innen gekehrtes Rufen, das heißt, ein Flüstern. Dann stand sie mit einem schüchternen Lächeln auf und ging zur Toilette.

Kristina begriff, daß Mitsuko sich ihr nicht nur deshalb anvertraut hatte, weil sie eine Frau war, sondern auch, weil sie Polizistin war. Mitsuko wußte, daß ihr heimliches Verhältnis an die Öffentlichkeit gelangen würde, wenn Kristina die näheren Umstände des Unglücks untersuchte. Also war es besser, die Flucht nach vorn anzutreten. Sie wäre nie so weit gegangen, Kristina offen darum zu bitten, von weiteren Untersuchungen abzusehen. Aber als Frau konnte sie indirekt an ihr Verständnis appellieren.

Laß das Ganze auf sich beruhen. Warum soll man Schlimmes noch schlimmer machen? Warum Geheimnisse ans Licht zerren, die nur dadurch bewahrt werden können, daß Menschen einen hohen Preis dafür zahlen? Es hat doch niemand ein Verbrechen begangen!

Aber warum sollte sie Mitsukos Geheimnis mehr respektieren als die Geheimnisse anderer? Weil Mitsuko zu den Leuten gehörte, mit denen sie täglich Zusammenarbeiten mußte? Weil sie Staatsanwältin war?

Das war ein beunruhigender Gedanke. Ebenso beunruhigend war die Vorstellung, als Elefant im Porzellanladen aufzutreten.

Wie hilfesuchend ließ sie ihren Blick dort hinwandern, wo der Richter saß, aber er war schon gegangen.

Mitsuko kehrte zurück, und nun war sie beinahe wieder sie selbst. Sie bestand darauf, die Rechnung zu übernehmen, und entschuldigte sich dafür, daß sie mit ihren Sorgen Kristinas Zeit beansprucht hatte. Sie lächelte sogar zurück, als einer der beiden Tipper an der Theke sein Glas erhob, um ihr zuzuprosten.

Es war nicht zu übersehen, daß sie Theater spielte. Andererseits: wenn sie sich jetzt verstellte, konnte sie das auch vorhin getan haben.

Gleich darauf rannte Mitsuko zum Bahnhof, um ihren Vorortzug zu erwischen. Was ganz unnötig war, denn er hatte wie gewöhnlich Verspätung.

Kristina sah den einzigen Ausweg aus der Verwirrung ihrer Gedanken darin, sich ein Butterbrot und ein weiteres Bier zu bestellen.

Lars Fältgård, der jüngste Justizrat aller Zeiten, ein brillanter Jurist, glücklich verheiratet, hatte über viele Jahre eine heimliche Liebesaffäre mit seiner ehemaligen Studentin unterhalten. Sie hatten eine gemeinsame Tochter.

Wie war das zugegangen?

Einer muß Opfer bringen, hatte Mitsuko gesagt.

Kristina versuchte sich vorzustellen, was das hieß. Nie miteinander aufwachen, nie zusammen in die Ferien fahren, nie gemeinsam Weihnachten feiern.

Vielleicht wurde diesen Freuden zuviel Bedeutung beigemessen. Sie hatte das alles dreizehn Jahre lang mit ihrem Mann erlebt, und was war dabei herausgekommen? Die Scheidung. Während die beiden heimlich Liebenden, die schon genauso lange füreinander entbrannt waren, noch immer vor Wollust gebebt hatten, wenn sie aneinander dachten.

Immer wieder diese Gleichung, die nicht aufging. Wie kann man von der Liebe zehren, ohne sie zu verbrauchen?

Das Bier machte ihre Gedanken auch nicht klarer. Benommen und traurig fuhr sie nach Hause. Als sie die Haustür aufschloß, sah sie, daß sie immer noch nicht das Namensschild ausgewechselt hatte. Der Name ihres Exmannes stand noch da. Sie las ihn wie ein Graffito in einer prähistorischen Höhle. Sie begriff kaum, worum es sich handelte.

Gleich morgen würde sie anrufen und ein neues Schild bestellen.

Um sie herum fiel alles in Scherben. Maria hatte die Scheidung eingereicht, sie selbst war geschieden, Mitsuko hatte vierzehn Jahre lang einen heimlichen Liebhaber gehabt, der Richter Berlin hatte sich nach fast dreißigjähriger Ehe scheiden lassen, Östen war mit einer Frau zusammengezogen, die ihren Mann und ihre drei Kinder seinetwegen verlassen hatte und daran fast zerbrach. Nur Thomas Roth und seine Frau hielten aneinander fest, zusammengeschweißt durch den starken Willen, ihrem schwerbehinderten Sohn ein erträgliches Leben zu schenken.

Anscheinend fiel es den Menschen leichter, ihr Unglück miteinander zu teilen als ihr Glück.

Wie war es so weit gekommen? War es immer so gewesen?

Sie wußte es nicht. Sie sehnte sich danach, mit ihrem Vater zu reden, aber es war schon spät. Sie wollte ihn jetzt nicht mehr stören.

Außerdem, was hätte sie sagen sollen?

Das rote Lämpchen des Anrufbeantworters blinkte. Es war eine Nachricht vom Krankenhaus. Eine Ärztin wollte mit ihr sprechen.

Der sechste Passagier

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