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Nikki von Lauterhorn war nicht mehr mit Erland von Lauterhorn verheiratet, aber seinen Nachnamen hatte sie behalten. Er war gut für das Geschäft. Sie war Alleineigentümerin von Nikki Air, die Idee zu dem Unternehmen stammte von ihr, und das Kapital ebenfalls.

Sie war am 17. Mai 1972 geboren, als erste und einzige Tochter von Ingalill Eriksson aus Eskilstuna. Ihr Vater war ein griechischer Einwanderer, ungefähr so zuverlässig wie die Prognosen von Aktien-Analysten. Er verschwand, sobald das kleine Mädchen mit seinen großen, blaugrauen Augen das Licht der Welt erblickt hatte.

Nikki wuchs bei ihrer alleinerziehenden Mutter auf. Der Ausdruck gefiel ihr, er hatte so etwas Heroisches. Mit vierzehn wurde sie von einer Model-Agentur entdeckt, mit knapp achtzehn war sie berühmt, und mit zwanzig war sie weg vom Fenster.

Sie hatte ein wenig Erspartes, das sie in Erland von Lauterhorn investierte, einen jungen Mann, der mit seinen abenteuerlichen Ambitionen und seinen noch abenteuerlicheren Ideen ihr Herz erobert hatte. Er träumte davon, ein Karl XII. des New-Economy-Zeitalters zu werden, und sein Erfolg übertraf alle Erwartungen. Innerhalb von zwei Jahren hatte er mit Nikkis Hilfe die Firma »Vinci Konsult« zu einem multinationalen, milliardenschweren Konzern ausgebaut.

Die Geldgeber standen Schlange vor seiner Tür, der adelige Name zog reiche Plebejer an wie ein Magnet, das Unternehmen expandierte ohne Ende, ständig kaufte man andere Firmen auf, praktisch ohne einen Öre dafür zu bezahlen. Das heißt, bei »Vinci Konsult« bezahlte man in Aktien. Die Zeitungen rissen sich um Interviews mit Erland von Lauterhorn, das Fernsehen brachte sein Porträt, der Rundfunk widmete ihm stundenlange Programme.

Mit anderen Worten, es war die alte Geschichte: Wenn man in Schweden auf einem Gebiet als unfehlbar gilt, hat man in allen Dingen recht. Und Erland äußerte sich zu allem und jedem, insbesondere zur sozialdemokratischen Regierung, die er aus dem tiefsten Grund seines blaublütigen Herzens verachtete.

Nikki war glücklich über den Erfolg, aber ihr Eheleben war mit der Zeit so sporadisch geworden wie das von Zirkuselefanten. Erland kam immer seltener nach Hause; wenn er nicht gerade in New York war, dann war er in Tokio. Außerdem wurde er immer müder, und um sein Lebenstempo zu halten, mußte er sich bald verschiedener Stimulantien bedienen. Dazu gehörten auch kleine Eskapaden jenseits von Nikkis Bett, in dem sie nun immer häufiger allein blieb, in der Gesellschaft von zweiundfünfzig Fernsehkanälen.

Aber auch sie legte sich neue Gewohnheiten zu. Sie schaute sich pornographische Filme an, Nacht für Nacht. Die ersten zwei Minuten waren anregend, dann wurde es langweilig, und sie schwor sich, es nie mehr zu tun. In der folgenden Nacht saß sie dann doch wieder wie festgeklebt vor dem Bildschirm. Pornographie ist eine Droge wie jede andere, man wird abhängig von diesen Bildern, von der Wollust der ersten Minuten.

Irgendwann sah sie ein, daß sie etwas tun mußte. Sie mußte ihr Leben ändern. Einen Monat bevor die New-Economy-Aktien an der Börse einbrachen, verkaufte sie ihren Anteil an »Vinci Konsult« und reichte die Scheidung ein. Erland von Lauterhorn war einverstanden. Für Liebeskummer hatte er keine Zeit. Das Ganze ging ohne Komplikationen ab, weil keine Kinder im Spiel waren.

Nun war Nikki allein und reich. Was sollte sie tun? Was konnte sie? Eigentlich gar nichts. Aber sie kannte viele reiche Leute. Sie dachte daran, eine hochkarätige Catering-Firma zu gründen, nur gab es davon schon eine ganze Reihe.

Sie wußte, daß es in Schweden Leute gab, die Wert darauf legten, bequem, schnell und diskret reisen zu können, wenn es ihnen gerade einfiel. Sie hatte keine Eile. Sie beriet sich mit einer ehemaligen Nachtclubkönigin, die von der Idee sofort begeistert war. Gott, die Reichen in Schweden haben viele Probleme, aber das Schlimmste ist, daß sie ihren Reichtum nicht genießen können, es gibt dafür keine »diskrete« Form. Sie können sich nicht einmal eine Wohnung am Strandväg kaufen, ohne daß es in der Zeitung steht. Sagte die Exkönigin.

Nikki entwickelte ihre Idee weiter, gründete Nikki Air und kaufte eine sechssitzige Propellermaschine, eine zuverlässige Beech Baron 58 mit zwei Motoren, die stark genug waren, das Flugzeug nach vierhundert Metern Startbahn in die Luft zu heben. Ein großer Vorteil, wenn man von kleineren Flugplätzen starten will.

Es war nicht schwer, zwei gute Piloten zu finden. Jeder wußte, daß das Luftwaffengeschwader von Ängelholm keine Zukunft mehr hatte. Die jungen Flieger waren auf der Suche nach einer Alternative. Zwei von ihnen fanden sie bei Nikki Air, und einer der beiden, Fredrik Stolle, fand sogar noch mehr. Er fand Nikki, und sie hörte auf, Pornofilme zu gucken.

Das Geschäft ließ sich zögernd an, kam dann aber schnell in Gang, vor allem deshalb, weil die Oberschicht in Schonen mehr Geld zum Ausgeben hat und zugleich puritanischer ist als in anderen Gegenden Schwedens. Luxusreisen wurden nicht verlangt, erstaunlich oft handelte es sich um harmlose Vergnügungen: Man lud die Enkelkinder zu einem Rundflug ein oder spendierte einem jungen Paar die Hochzeitsreise. Es kam auch vor, allerdings eher selten, daß eine heimliche Geliebte in aller Eile irgendwohin geflogen werden mußte, wo der Auftraggeber gerade geschäftlich zu tun hatte.

Nikki Air war so verschwiegen wie ein katholischer Priester. An die Öffentlichkeit gelangten nur Dinge, von denen der Kunde dies ausdrücklich wünschte.

Nikki von Lauterhorn hatte es geschafft, und diesmal ganz in eigener Regie.

Es war kurz vor sieben, sie hatte gerade eine Flasche Weißwein in den Kühlschrank gestellt. Fredrik mußte um diese Zeit auf dem Heimweg von Bromma sein. Das Radio in der geräumigen Küche war eingeschaltet, durch das Fenster sah sie den großen Apfelbaum, gebeugt wie ein Greis unter der Last der Früchte, die langsam in der Sonne reiften. Ein Gefühl der Freude, einem ziehenden Schmerz ähnlich, stieg ihr vom Bauch in den Kopf und fand den Weg bis zu ihren Lippen. Sie lächelte in sich hinein.

Das Lächeln fror fest wie ein Tropfen Schmelzwasser in einer kalten Nacht, als die Stimme am Telefon ihr Anliegen vorbrachte.

Es war Kristina, die inzwischen den Standort von Nikki Air und, mit Hilfe der Polizei in Trelleborg, auch die Besitzerin der Firma ausfindig gemacht hatte.

Eine Methode, den Schmerz auszuschalten, besteht darin, formell zu sein und rasch zur Sache zu kommen. Das tat Kristina. Sie erhielt Antwort auf ihre Fragen, obwohl Nikki die ganze Zeit nach Luft rang, als sei sie kurz vor dem Ertrinken.

Das Flugzeug war in Amsterdam gestartet, auf einem kleineren Flugplatz südlich von Schiphol, und gechartert worden war es von »Eternal Youth«, einem weniger bedeutenden Unternehmen in der Kosmetikbranche. Sie wußte nur den Namen des Angestellten, der sie angerufen hatte. Sonst nichts, denn die Firma hatte im voraus bezahlt, mit einer Internet-Überweisung auf Nikkis Konto in Luxemburg.

Der Pilot – sie wagte seinen Namen nicht auszusprechen, weil sie fürchtete, laut in den Hörer heulen zu müssen – hatte erwähnt, daß fünf Passagiere an Bord sein würden. Namen waren ihr nicht mitgeteilt worden.

Kristina fragte, ob sie genau wisse, daß er »fünf« gesagt hatte, und Nikki versicherte ihr, die Angabe sei auf Tonband festgehalten worden, da sie ihre Geschäftsgespräche grundsätzlich aufzeichnete.

Das war merkwürdig. Die Taucherin hatte sechs Passagiere gezählt.

Nikki von Lauterhorn konnte dazu nichts sagen, sie war ebenso verwirrt wie die Kommissarin. Aber sie wollte noch heute abend den Nachtzug nach Stockholm nehmen. Sie verabscheute das Fliegen. Die Kommissarin würde sie dann im Grand Hotel antreffen, wo sie zu übernachten pflegte. Falls sie nicht dort war, wußte die Rezeption, wo sie sich aufhielt.

Kristina hatte viel Stoff zum Nachdenken, als sie den Hörer auflegte.

Und Nikki konnte endlich weinen.

Der sechste Passagier

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