Читать книгу Der sechste Passagier - Theodor Kallifatides - Страница 7

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Man könnte Bromma einen hochnäsigen Vorort nennen. Die Villen dort strahlen Wohlstand und Selbstzufriedenheit aus, aber auch eine gewisse Besorgnis.

Kristina und Maria sahen, wie Männer und Frauen auf ihren Sonnenterrassen saßen oder sich der Gartenarbeit widmeten, mit jener mühsam erkämpften Nonchalance, die das Kennzeichen der aufstrebenden Mittelklasse ist. Hier wohnten höhere Beamte, Politiker und Unternehmer, denen der Flugplatz mitten in ihrem Wohnviertel ein Dorn im Auge war, obwohl er gleichzeitig als Statussymbol galt.

Ein Flugplatz übrigens, mit dem das moderne Schweden ein paar glanzvolle Erinnerungen verband. Hier war Anita Ekberg gelandet, nachdem sie in »La Dolce Vita« mitgespielt hatte, hier waren Ingrid Bergman und Roberto Rossellini angekommen. Die jüngeren Leute wußten natürlich nichts davon und wollten den Flugplatz aus Umwelt- und Sicherheitsgründen schließen lassen. Es hatte Unfälle gegeben, in Abrahamsberg war ein Passagierflugzeug abgestürzt, der Lärmpegel war hoch.

Aber bislang leistete die alte Garde noch Widerstand. Das auffälligste Merkmal der Mittelklasse sind heftige Generationskonflikte. In der Oberschicht versucht die junge Generation, die Privilegien der älteren zu übernehmen, und in der Arbeiterklasse ist die Jugend bestrebt, ihre Herkunft zu verleugnen, aber in der Mittelschicht würden die Jungen die Alten am liebsten einfach auslöschen, sie zu unmündigen, brabbelnden Idioten erklären.

In der Oberschicht hat man hin und wieder Sorgen, in der Unterschicht hat man kein Geld, und in der Mittelschicht hat man Angst. Die Mittelschicht hat die Angst sozusagen erfunden.

Man kann sie fühlen, so merkwürdig es auch klingen mag – sie schwebt über den Villen und Gärten, sie nistet in den Fältchen, die sich um den Mund der Frauen bilden, und im entschlossenen Gang der Männer, die wissen, daß sie eigentlich kein Ziel haben.

Sogar in das Auto, in dem die beiden Polizistinnen schweigend saßen, kroch sie hinein. Es war fast drei Uhr, der Himmel hatte sich von Osten her bewölkt, im Radio war für den Abend Regen angekündigt worden. Nichts Neues von dem verunglückten Flugzeug.

Kristina hatte keinen klaren Plan für ihr Vorgehen, aber Maria fand, daß man bei dem Fluglotsen anfangen sollte, der Kontakt mit dem Piloten gehabt hatte. Vielleicht wußte er etwas, das sie weiterbringen würde.

Der Lotse war ein junger Mann, eine Urlaubsvertretung, und er war völlig verzweifelt. Dies war sein erster Unfall. Gerade hatte er das Flugzeug noch auf dem Radarschirm gesehen, im nächsten Moment war es verschwunden. Es war gespenstisch. Ein kleiner Punkt mit einer Gruppe von Menschen an Bord, ein elektronisches Signal voller Lebewesen, das er mit knappen, präzisen Anweisungen dirigiert hatte, um es in die richtige Position für die Landung zu bringen, und das ihn am Ende zum Narren gehalten hatte wie der Blick eines jungen Mädchens im Vorübergehen.

Er hatte in sein Funkgerät gerufen, dann geschrien, und als ihm klar wurde, was geschehen war, hatte er geweint. Alle wußten, daß ihn keine Schuld traf, trotzdem mußte er es immer wieder beteuern.

Er riß sich zusammen und beantwortete ein paar einfache Fragen. Der Pilot hatte gesagt, daß der Öldruck plötzlich gesunken sei. Erst fiel der eine Motor aus, dann der andere. Sie hatten die ganze Zeit Kontakt gehabt, bis das Flugzeug einfach verschwand. Er wußte nicht, wie viele Leute an Bord gewesen waren, und von Nikki Air wußte er auch nichts. Er verwies sie an den Aufklärungsdienst, der tatsächlich in der Zwischenzeit einiges herausgefunden hatte.

Nikki Air war eine kleine Fluggesellschaft mit Sitz in Trelleborg, spezialisiert auf VIP-Transporte. Deshalb hatte Kristina sie im Telefonbuch nicht gefunden. Eine Passagierliste gab es nicht, man arbeitete hier nach etwas anderen Prinzipien, Diskretion war das zentrale Verkaufsargument. Am besten würde es sein, sich direkt an das Büro in Trelleborg zu wenden.

Sie versuchten es sofort, aber es meldete sich nur ein Anrufbeantworter.

Kristina rief Puskas an und fragte, ob die Bergung der Leichen etwas ergeben hätte. Noch nichts, lautete die Antwort. Aber die Marine hatte per Hubschrauber einige Taucher geschickt, die sich ein eigenes Bild von der Lage machen wollten. Sie hofften, in wenigen Stunden mit der Arbeit beginnen zu können.

Mit anderen Worten: nichts Neues, nichts über die Passagiere oder den Piloten. Kristina war enttäuscht und müde, deshalb schlug sie vor, über Stockholm zurückzufahren und in der Konditorei am Mariatorg einzukehren, wo es die beste Möhrentorte der Stadt gab.

Auf dem Platz war viel Betrieb. Ein paar Leute spielten Boule, andere lagen im Gras, Kleinkinder plantschten im Brunnenbecken, Hunde rannten so selbstvergessen herum, wie nur Hunde es können, und auf den Kneipenterrassen saß man beim Bier.

Kristina hatte in dieser Gegend jahrelang ihre Dienststelle gehabt. Sie kannte jeden, und jeder kannte sie. Am liebsten ging sie in »Sofijas Skafferi«, wo es gutes, preiswertes Essen gab und eine Wirtin, die immer lächelte.

Sollten sie nicht auch lieber ein Bier trinken? Maria hatte nichts dagegen. Sie deutete diskret auf die beiden jungen Frauen, die in der Allee vor ihnen hergingen, eng umschlungen. Es waren zwei stadtbekannte junge Frauen, sie waren sich dessen bewußt, und es lag ihnen offensichtlich daran, der Welt ihre Liebe zu zeigen. Plötzlich blieben sie stehen. Die ältere hob den Fuß wie Strindbergs Fräulein Julie, und sogleich kniete die jüngere vor ihr nieder, um ihr das Schuhband zu schnüren, das sich gelöst hatte.

In Stockholm wurde gerade das »Gay Festival« gefeiert. Von Tantolunden her dröhnte Musik, überall hingen Plakate, die Schlammringkämpfe, Stöckelschuhrennen oder Schlagerwettbewerbe ankündigten. Das alles bedeutete Leben, Bewegung, nicht zuletzt Selbstdarstellung. Die Homosexuellen freuten sich, daß sie ihr eigenes Fest bekommen hatten, und die wenigsten unter ihnen besaßen genügend Scharfblick, um zu erkennen, daß damit endgültig eine Mauer zwischen ihnen und dem Rest der Gesellschaft errichtet wurde. Ungefähr so, wie wenn Einwanderer ein Lokal bekommen, in dem sie unter sich sein dürfen. Man war nicht dabei, die Homosexualität zu integrieren, man war dabei, ihr Außenseitertum zu festigen.

Maria war anderer Meinung. Es sei doch gut, daß die Schwulen sich öffentlich zeigten, denn wen man in den Untergrund verbannte, den würde man über kurz oder lang in dunklen Gassen und später in irgendwelchen Anstalten wiedertreffen. Der erste Überschwang würde sich ohnehin mit der Zeit legen, die Tunten würden wie alle anderen werden, mit Ratenzahlungen und Rentenversicherungen, und am Ende würden sie bloß noch Demonstrationen gegen die Grundsteuerpflicht organisieren.

In diesem Augenblick kam das Bier, und sie prosteten einander einträchtig zu, dankbar dafür, hier zu sitzen, dies alles zu sehen und die Sonne auf dem Gesicht zu spüren. Denen, die im Flugzeug auf dem Grund des Getarsees lagen, würde das nie wieder vergönnt sein.

Der sechste Passagier

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