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Die Bergung des Flugzeugs war kein einfaches Unterfangen. Das größte Problem bestand darin, einen entsprechend starken Hebekran zur Unglücksstelle zu befördern. Man mußte eine Straße durch den Wald legen, und das bedeutete einen tiefen Eingriff in die empfindliche Natur rund um den See.

Auch mußte die Erlaubnis des Grundeigentümers eingeholt werden. Das war in diesem Fall die Gemeinde Botkyrka, in der die örtliche Umweltpartei viel Einfluß hatte und sich konsequent allen Maßnahmen widersetzte, bei denen die Natur in Mitleidenschaft gezogen werden konnte.

Als das Unglück geschah, diskutierte man gerade über den Bau eines größeren Flugplatzes südlich von Stockholm.

Die Umweltpartei war naturgemäß gegen solche Pläne und befürchtete nun, daß eine neue Straße in diesem Gebiet der erste Schritt zu einem neuen Flugplatz sein würde. Die Umweltpartei wollte keine neuen Straßen, sie wollte keinen neuen Flugplatz, sie wollte, daß die Umgebung intakt blieb, zur Freude von Mensch und Tier.

Das war ja auch gut so. In der Lokalpresse wurde der Stellungskrieg eröffnet. Manche Leute vertraten die Ansicht, daß es der Umwelt noch mehr Schaden zufügen würde, wenn das Flugzeug im See vor sich hin rostete. Andere meinten, man solle abwarten und die Situation noch einmal gründlich überdenken. Die geeignetste Maßnahme sei jetzt eine Untersuchung. Die Opfer waren ja geborgen, es gab keinen Grund zur Eile.

Die Jugendorganisation der Linkspartei, die sich ebenfalls stark für die Umwelt engagierte, geriet in Konflikt mit den älteren Genossen, die die Sache so schnell wie möglich aus der Welt schaffen wollten.

Ein pensionierter Oberstudienrat vom Gymnasium Huddinge drohte, sich an den Europäischen Gerichtshof zu wenden.

Ein Ingenieur behauptete, daß es andere Lösungen gäbe, zum Beispiel den Einsatz eines Hubschraubers.

Ein arbeitsloser Bauarbeiter meinte, daß ein Straßenbauprojekt genau das sei, was die Gemeinde brauchte.

Kurz und gut, es war wie üblich. Es würde nicht mehr lange dauern, bis Unterschriften für oder gegen die Bergung gesammelt würden.

Währenddessen konnte die Havariekommission das Flugzeug nicht untersuchen, die Versicherung konnte sich nicht zu den Schadensersatzansprüchen äußern, und Nikki von Lauterhorns Verzweiflung wuchs.

Man hatte die Opfer schon fast vergessen, und man hatte auch vergessen, daß sich ein unbekannter Junge unter ihnen befand, nach dem noch niemand gefragt hatte.

Kristina hätte den Fall abschließen, ihn auf einer Festplatte beerdigen können, ohne daß jemand etwas gemerkt hätte. Sogar die Staatsanwältin, Mitsuko Öberg-Namamoto, wirkte desinteressiert. Sie hatte tatsächlich angedeutet, daß man die ganze Sache ebensogut auf sich beruhen lassen könne.

Das war seltsam, aber vielleicht gab es dafür eine sehr einfache Erklärung: Sie war völlig überlastet. Vor dem Amtsgericht von Huddinge wurde gerade ein komplizierter Fall von Pädophilie verhandelt.

Seit Tagen schon war die brillante junge Juristin nicht mehr sie selbst. Sie, die sonst immer durch elegante Kleidung und sorgfältiges Make-up auffiel und einen diskreten Duft verbreitete, dessen Namen noch niemand hatte ergründen können, wirkte jetzt nachlässig, war achtlos geschminkt, hatte geschwollene Augenlider und einen flackernden Blick. Jeder konnte sehen, daß es sie eine übermenschliche Anstrengung kostete, nicht zusammenzubrechen. Der Richter hatte versucht, mit ihr zu reden, aber es entsprach ihrem japanischen Naturell, alles für sich zu behalten. Die Fassade mußte intakt bleiben, Zähigkeit und Langmut waren oberstes Gebot. Was sie quälte, blieb ein Geheimnis, aber es führte sie jeden Tag ein Stückchen näher an den Zusammenbruch heran.

Da war es wohl kaum verwunderlich, daß sie keine Kraft übrig hatte, um sich für einen unbekannten Jungen zu interessieren.

Kristina hatte Verständnis für sie. Sie verstand auch Thomas Roth, der meinte, daß diejenigen, die schon genug reale Straftaten aufzuklären hatten, ihre Energie nicht an ein eingebildetes Verbrechen verschwenden sollten. Sogar Östen, der gewöhnlich für sie Partei ergriff, schien diesmal ein wenig auf Distanz zu gehen.

Sie beschloß, die Situation zu bereinigen. Sie wollte nicht als eigensinnig gelten, sie war auf die Unterstützung und die Freundschaft dieser Männer angewiesen. Deshalb berief sie eine Sitzung in ihrem Zimmer ein und stellte die entscheidende Frage.

Sprach irgend etwas dafür, den Fall weiter zu bearbeiten?

Thomas legte noch einmal seinen Standpunkt dar, und Östen ergriff jetzt unverblümt für ihn Partei.

Maria Valetieri fuhr aus der Haut. Sie warf den Kollegen Gefühllosigkeit vor. Was hieß das überhaupt, »ein unbekannter Junge«? Irgendwo hatte eine Frau ihn zur Welt gebracht, ihn gestillt, ihn geliebt. Für irgend jemanden war dieser Junge alles andere als unbekannt.

Sie konnte nicht weitersprechen. Sie brach in Tränen aus und verließ das Zimmer.

Es wurde still.

Kristina ahnte, daß es ihr eigentlich um etwas anderes ging, aber dies war nicht der richtige Moment, um sich danach zu erkundigen.

Da hatte sie also plötzlich zwei Verpflichtungen. Sie durfte den unbekannten Jungen nicht im Stich lassen, und Maria auch nicht.

Die einzige Lösung war ein Kompromiß. Maria und sie würden weitermachen. Die beiden Männer konnten sich anderen Aufgaben widmen, von denen es ja genügend gab. Wenn sie ihre Hilfe brauchte, würde sie pfeifen, sagte sie.

Die Männer wußten sehr wohl, daß sie das nicht tun würde.

Sie fand Maria in der Cafeteria. Sie saß fast versteckt hinter einer Pflanze von grotesken Ausmaßen, vermutlich so ein Monstergewächs, das nach und nach den ganzen Raum überwuchern würde, wenn man es nicht zweimal jährlich beschnitt.

Maria hatte die Ellbogen auf den Tisch und das Kinn in die Hände gestützt. Sie sah aus wie ein Kind, und Kristina zögerte einen Augenblick. Vielleicht sollte sie sich nicht bemerkbar machen. Fast alle Kinder haben das Problem, daß man sie nicht in Ruhe trauern läßt.

Sie ließ Maria in Frieden, was auch immer es war, worüber sie trauerte. Aber sie ging nicht weg. Sie holte sich eine Tasse Kaffee, setzte sich an einen entfernten Tisch und nahm ihr Buch zur Hand, dessen Einband sie unter einer schwarzen Plastikfolie verborgen hatte, um kein Aufsehen zu erregen und nicht als Snob zu gelten.

Wenn jemand sie fragte, was sie gerade las, pflegte sie zu antworten, es sei ein Kitschroman, nur so zum Zeitvertreib. Auf die meisten Frager hatte diese Auskunft eine merkwürdig beruhigende Wirkung.

Sie schlug das Kapitel über die Trauer auf, in dem der Verfasser schrieb, daß der Mensch weniger trauern würde, wenn er die Trauer nicht als Pflicht betrachtete.

Trauern sei eine Verpflichtung, sich zu freuen dagegen nicht. Weiter war sie noch nicht gekommen.

Das Licht im Raum wuchs, so unmerklich, wie Fingernägel wachsen.

Maria stand auf und ging weg, ohne ihre Chefin zu bemerken. Das war auch nicht wichtig.

Wichtig war nur, daß die Chefin dort saß.

Der sechste Passagier

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