Читать книгу Jeden Augenblick genießen - Thich Nhat Hanh - Страница 6
Jeden Augenblick genießen – Achtsamkeit im Alltag
ОглавлениеDas letztendliche Ziel des Lebens ist es, zu sein, das heißt, auf eine Weise zu leben, dass eine Zukunft möglich wird. Das Beste, was wir für unsere Zukunft tun können, ist, dass wir uns so gut, wie wir es vermögen, um den gegenwärtigen Moment kümmern. Wenn wir in den gegenwärtigen Augenblick investieren, dann investieren wir in die Zukunft.
Der Buddha sagt, dass die Zukunft nur aus einer Substanz bestehe und das ist die Gegenwart. Der beste Weg, sich eine gute Zukunft zu sichern, liegt darin, sich so gut wir können um die Gegenwart zu kümmern. Wenn wir ganz gegenwärtig sind und wenn wir uns um diesen Augenblick mit all unseren Möglichkeiten kümmern, dann ist dies das Beste, was wir tun können, um uns und anderen eine gute Zukunft zu sichern. Sich um unsere Zukunft zu sorgen oder zu ängstigen hilft uns nicht. Wir wissen nicht genau, wie viele Tage uns noch zur Verfügung stehen. Selbst wenn wir hundert Jahre leben würden, haben wir nur 36 500 Tage zur Verfügung. Aber wie viele von uns können 36 500 Tage leben? Wir wissen nicht, wie viele Tage wir noch zu leben haben. Es gibt Menschen, die so alt sind wie ich und noch am Leben sind. Und es gibt junge Menschen, die schon sterben müssen.
Jeden Moment unseres täglichen Lebens sollten wir deshalb dazu verwenden, mehr Achtsamkeit, Verständnis und Mitgefühl zu entwickeln. Wir können uns zum Beispiel um Gedanken bemühen und Dinge sagen, die voller Mitgefühl und Verständnis sind. Jeder von uns ist dazu in der Lage. Und wir können so handeln, dass sich Mitgefühl und Verständnis in unserem täglichen Leben manifestieren. Es ist möglich, so zu handeln, dass Freude und Glück für die Menschen um uns herum wirklich werden. Jeder Gedanke, jedes Wort, jede Handlung trägt unsere Unterschrift.
Der Buddha sprach davon, dass es nur einen Moment gibt, in dem wir wirklich lebendig sind, und dies ist der gegenwärtige Augenblick. In vielen Vorträgen betont er immer wieder, dass es möglich sei, in diesem Moment glücklich zu sein. Der Weg, den der Buddha uns dazu vorschlägt, ist die Praxis der Meditation. Diese besteht in erster Linie darin, zum gegenwärtigen Moment zurückzukehren. In unserem Alltag bilden Körper und Geist keine Einheit. Unser Körper ist hier, und unser Geist weilt in der Vergangenheit oder in der Zukunft. Dies wird in der buddhistischen Tradition als Zustand der Zerstreutheit oder als Mangel an Achtsamkeit bezeichnet. Es ist sehr wichtig, den Geist zum Körper zurückzubringen, um wirklich im gegenwärtigen Moment zu verweilen. Wenn Körper und Geist vereint sind, dann sind wir in der Lage, wirklich in tiefen Kontakt mit dem zu kommen, was im gegenwärtigen Moment da ist. Alle Wunder des Lebens, der blaue Himmel, die Blumen, der Fluss, die Kinder, all das finden wir nur im gegenwärtigen Augenblick. Aber wenn wir den gegenwärtigen Augenblick verpassen, dann verpassen wir alles.
Viele Menschen fühlen sich sehr unglücklich und wissen nicht, was sie mit den ihnen gegebenen vierundzwanzig Stunden des Tages anfangen sollen. Manchmal sehen Menschen – auch sehr junge – keinen Ausweg mehr und begehen Selbstmord. Ihre Eltern, die Lehrer, unsere Politiker sind nicht in der Lage, ihnen zu helfen. In unseren Schulen lernen die Schülerinnen und Schüler viel über Technik, aber sie lernen nicht, wie sie vierundzwanzig Stunden des Tages glücklich leben können. Niemand hilft ihnen, tief zu schauen und ihre falschen Vorstellungen zu verändern.
Deshalb sollten wir lernen, wie wir in unserem Alltag glücklich leben können, und anderen damit zeigen, dass es möglich ist, in diesem Moment glücklich zu sein. Es gibt so viele wunderbare und erfrischende Dinge, die uns dabei helfen können, wieder zu unserem Wohlbefinden zurückzufinden.
Als ich ein junger Mönch war, fragte ich mich, warum der Buddha auf vielen Bildern und Statuen die ganze Zeit lächelt. Wie kann er angesichts des unermesslichen Leidens in der Welt immerzu lächeln? War er sich des Leidens bewusst? Schließlich fand ich heraus, dass wenn der Buddha stets geweint hätte, er niemandem zu helfen vermocht hätte.
Wir müssen unsere Freude und unser Lächeln immer wieder nähren, um die Kraft zu haben, anderen zu helfen. Wir müssen so üben, dass wir genügend Freude und Stabilität entwickeln können. Wenn wir das nicht tun, werden wir sehr schnell von dem Leiden, das uns umgibt, überwältigt.
Der Buddha nahm sich Zeit für sich, Zeit für Gehmeditation, Essmeditation und Zeit für Sitzmeditation. Gerade weil der Buddha sein Lächeln lebendig erhalten konnte, war er dazu in der Lage, so vielen Menschen zu helfen. Wenn Sie die Fortführung des Buddha sein wollen, dann müssen Sie das Gleiche tun.
Die Energie der Achtsamkeit ist die Energie des Buddha in uns. Wir können diese Energie mit der Übung des Atmens und Gehens in uns kultivieren. In unserem Alltag leben wir häufig in Unachtsamkeit, dem Gegenteil von Achtsamkeit. Wir trinken unseren Tee, aber wir sind uns dessen nicht bewusst. Unser Geist beschäftigt sich mit der Vergangenheit oder der Zukunft. Achtsamkeit ist die Energie, die uns dabei hilft, unseren Geist zu unserem Körper zurückzubringen, zum gegenwärtigen Augenblick. Eine Einatmung oder ein Lächeln genügt. Wenn unser Geist und unser Körper eins sind, dann sind wir in diesem Augenblick ganz gegenwärtig, und wir sind ganz und gar lebendig.
In der christlichen Tradition feiern wir Ostern, das Fest der Auferstehung. Wir können sagen, dass jedes Mal, wenn wir uns unserer Ein- und Ausatmung bewusst sind, jedes Mal, wenn wir einen achtsamen Schritt tun und wir unseren Geist zu unserem Körper zurückbringen, wir die Auferstehung praktizieren. Essen, trinken und atmen wir, ohne uns dessen bewusst zu sein, was wir tun, dann sind wir wie Zombies, wie lebendige Tote. Mit der Übung des achtsamen Atmens oder Gehens stehen wir in gewissem Sinne von den Toten auf.
In unserem Alltag sind wir es gewohnt, stets der Zukunft entgegenzulaufen. Wir glauben nicht wirklich daran, dass Glück im gegenwärtigen Augenblick möglich ist. Vielleicht irgendwann in der Zukunft, aber nicht jetzt, nicht heute. Aus diesem Grund opfern viele Menschen den gegenwärtigen Augenblick für die Zukunft. Nach der Lehre des Buddha ist es aber sehr wohl möglich, hier und jetzt glücklich zu sein. Wenn wir zum gegenwärtigen Augenblick zurückkehren, dann können wir all die Bedingungen für unser Glück erkennen, die bereits jetzt schon erfüllt sind. Das wahre Leben findet sich nur im gegenwärtigen Augenblick. Das Reich Gottes oder das Reine Land ist hier und jetzt. Wenn Ihre Achtsamkeit und Ihre Konzentration stark genug sind, dann ist nur ein einziger Schritt notwendig, um in das Reich Gottes zu gelangen. Der blaue Himmel, der Sonnenschein, die grünen Pflanzen, all das gehört zum Reich Gottes. Die blühenden Blumen, die singenden Vögel und Ihr kleines Kind, all das ist Teil des Paradieses. Und Sie selbst, auch Sie gehören dazu. Es ist die Energie der Unachtsamkeit und unsere Gewohnheit, immer zu eilen und zu rennen, die uns daran hindern, im Reich Gottes zu leben. Und es sind unsere Angst, unser Ärger und unsere Gewalt, die verhindern, dass wir dorthin gelangen. Mit der Praxis der Achtsamkeit und Konzentration können wir diese negativen Energien in uns umarmen und verwandeln. Die Energie der Achtsamkeit und Konzentration hilft uns dabei, in Kontakt mit dem Reich Gottes oder dem Reinen Land Buddhas zu kommen.
Der französische Schriftsteller André Gide sprach davon, dass Gott vierundzwanzig Stunden am Tag für uns da sei. Das bedeutet, dass auch das Reich Gottes vierundzwanzig Stunden des Tages für uns da ist. Meine Übung besteht darin, jeden Tag im Reich Gottes zu gehen. Auch Sie können das lernen.
Ich möchte Ihnen einige Hinweise geben, wie Sie achtsam atmen, gehen und essen können. Auf diese Weise lernen Sie, wie es möglich ist, während des ganzen Tages vollkommen gegenwärtig zu sein.
Morgens, wenn Sie Frühstück machen, nehmen Sie sich diese Zeit und verwandeln Sie sie in eine Zeit der Praxis, in der Sie das Leben feiern. Jeden Moment, in dem wir das Frühstück vorbereiten, können wir zu einem Fest machen, zu einem Fest des Lebens. Sie sind lebendig und Sie machen Frühstück, vielleicht für einen lieben Menschen. Ist das nicht wundervoll? Verlieren Sie sich aber in Ihren Gedanken, in Ihren Gefühlen von Ärger oder Angst, dann vergeuden Sie diese Zeit. Bitte, nutzen Sie Ihre Intelligenz und Ihre ganze Entschlossenheit, so dass Sie die Zeit des Frühstückzubereitens zu einer Zeit der Praxis werden lassen können. Lächeln Sie jeden Morgen allen, denen Sie begegnen, zu.
Als ich in Vietnam mit sechzehn Jahren zum Mönch ordiniert wurde, schenkte man mir ein Buch mit fünfzig kleinen Versen, die ich alle auswendig lernen musste und die mir dabei halfen, Achtsamkeit zu praktizieren. Darin gibt es einen Vers, der uns dabei helfen kann, gegenwärtig zu sein, wenn wir am Morgen aufwachen.
Ich wache auf und lächle.
Vierundzwanzig neue Stunden liegen vor mir.
Ich will jeden Augenblick des Tages vollkommen bewusst leben
und allen Menschen mit Liebe und Mitgefühl begegnen.
Wenn ich meine Robe anzog, gab es einen Vers, der mir dabei half, auch dann achtsam zu sein. Wenn ich zur Toilette ging, rezitierte ich einen anderen Vers, der meine Praxis der Achtsamkeit unterstützte.
Als junger Mönch vergaß ich manchmal, den oben stehenden Vers zu üben. Um mich daran zu erinnern, nahm ich ein rotes Blatt und steckte es an die Decke meines Moskitonetzes. Dieses rote Blatt erinnerte mich am Morgen, wenn ich aufwachte, als Erstes, achtsam zu atmen und dabei den Vers zu üben.
In unserem Zentrum in Frankreich ist an unserem Kopiergerät ein kleiner Zettel befestigt, auf dem ein kleines Gedicht uns daran erinnern soll, achtsam ein- und auszuatmen, während wir Kopien machen. Ein ähnlicher Zettel befindet sich in der Nähe unseres Telefons. Wenn wir jemanden anrufen wollen, dann atmen wir erst einmal ein paar Mal achtsam ein und aus, bevor wir die Nummer wählen. Und wenn wir dann das Telefon am anderen Ende klingeln hören, dann atmen wir ebenfalls bewusst ein und aus. Läutet bei uns das Telefon, dann springen wir nicht gleich auf, sondern atmen erst einmal ein paar Mal ein und aus, stehen auf und gehen achtsam zum Telefon. Wir nennen das Telefon-Meditation. Wenn wir Auto fahren und an einer roten Ampel anhalten und achtsam atmen und lächeln, dann ist das Autofahr-Meditation.
Der Vers für den Morgen, den ich Ihnen vorgestellt habe, gefällt mir außerordentlich gut. »Ich wache auf und lächle.« Ich denke, dass Lächeln das Beste ist, womit wir unseren Tag beginnen können. Es ist das Lächeln der Erleuchtung, denn uns ist bewusst, dass wir lebendig sind und vierundzwanzig neue Stunden vor uns liegen. Wir können dieses Geschenk von Himmel und Erde mit sehr viel Dankbarkeit empfangen. »Ich bin entschlossen, diese vierundzwanzig Stunden ganz tief und bewusst zu leben.« Das heißt, ich bin entschlossen, mir diesen Tag nicht zu verderben.
Viele von uns haben die Erfahrung gemacht, dass wir einen Tag oder sogar einen noch längeren Zeitraum mit unserem Ärger oder mit unseren Sorgen völlig verdorben haben. Ein neuer Tag ist wie ein weißes Blatt Papier, auf das wir viele wunderbare Dinge schreiben, zeichnen oder malen können. Wenn Sie wissen, wie Sie liebevolle Gedanken in sich erwecken können, wenn Sie wissen, wie Sie achtsam zu sprechen vermögen, dann werden Sie die positiven Samen in sich selbst und in andern wässern. Und wenn Sie wissen, wie Sie achtsam handeln können, dann machen Sie sich selbst und der anderen Person ein großes Geschenk. Füllen Sie Ihren Tag mit liebevollen Gedanken, liebevollen Worten und liebevollem Handeln. Sie sind die Künstlerin oder der Künstler, die oder der diesen Tag in ein Kunstwerk verwandeln kann. Dieses Kunstwerk bieten Sie dem Leben, der Zukunft an. Ohne die Energie der Achtsamkeit wird es Ihnen aber schwer fallen, die Ihnen zur Verfügung stehenden vierundzwanzig Stunden in ein Kunstwerk zu verwandeln.
Wir können jede Tätigkeit unseres Lebens in Meditation verwandeln. Wenn Sie Ihre Teetasse aufnehmen, dann können Sie das achtsam tun. Ich atme ein und ich weiß, dass ich meine Teetasse aufnehme. Ich atme aus und lächle meinem Tee zu. Dieses Lächeln ist bereits das Lächeln der Erleuchtung. Es drückt aus, dass wir den Tee als Tee erkennen. Wenn wir einatmen, sind wir ganz gegenwärtig. Wenn wir ausatmen, erkennen wir das, was um uns herum gegenwärtig ist. Sie richten Ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Tee und auf die Tatsache, dass Sie den Tee jetzt trinken. Ihr Geist wandert dabei nicht in die Vergangenheit oder in die Zukunft, sondern er ist ganz und gar auf den Tee konzentriert, den Sie in diesem Moment trinken. Das ist es, was wir achtsames Trinken nennen. Jedes Mal, wenn wir unseren Tee, unsere Sojamilch oder unseren Kaffe trinken, können wir uns vollkommen bewusst sein, dass wir trinken.
Es ist wichtig, dass wir uns genügend Zeit zum Teetrinken oder zum Essen unserer Mahlzeiten nehmen.
Während Sie das Frühstück vorbereiten, können Sie achtsames Atmen praktizieren. Wenn Sie den Wasserhahn aufdrehen und das Wasser in den Kessel fließt, seien Sie sich des Wassers bewusst und der Tatsache, dass das Wasser in den Kessel fließt. Dann stellen Sie den Herd an, und seien Sie sich auch dessen ganz bewusst. Wenn Sie die Teeblätter einfüllen, dann tun Sie das achtsam und lächeln Sie dem Tee zu.
Lächeln ist eine wunderbare Übung. Hier geht es nicht um ein diplomatisches Lächeln, sondern um das Lächeln der Achtsamkeit. Es bedeutet: »Lieber Tee, lieber Kaffee, ich bin für dich da!« Es drückt aus, dass wir das Objekt unserer Wahrnehmung als etwas Wahres erkennen. Dazu ist es aber notwendig, dass Sie selbst wirklich gegenwärtig sind; sonst können Sie die Gegenwart des anderen nicht wirklich erkennen. Das andere kann ein wunderbarer Sonnenaufgang sein; es kann ein lieber Mensch sein, dem Sie begegnen, oder es kann der Tee sein, den Sie gerade in die Tasse einschenken. Die Achtsamkeit hat die Kraft, das zu erkennen, was im gegenwärtigen Augenblick geschieht.
Wenn Ihr Kind am Morgen aufwacht, dann lächeln Sie ihm mit dem gleichen Lächeln zu: »Liebling, ich weiß, dass du da bist, und ich bin sehr glücklich.« Sie lächeln Ihrem Tee oder Kaffee in der gleichen Weise zu wie Ihrer Partnerin oder Ihrem Partner. Praktizieren Sie dabei achtsames Atmen: Wenn Sie einatmen, wissen Sie, dass Sie einatmen, und wenn Sie ausatmen, wissen Sie, dass Sie ausatmen.
Sie können bei allem, was Sie während des Tages tun, achtsam und gegenwärtig sein. Die folgenden Übungen sind Anregungen, die Sie auf weitere Alltagssituationen übertragen können.