Читать книгу Eine Geschichte über rein gar nichts - Thomas Arndt - Страница 10
Ein Freund
ОглавлениеFrieda saß wie so oft auf dem Fensterbrett des Wohnzimmerfensters, zu einer Zeit, in der sie sich gewöhnlich mit Paul traf. Sie versuchte einen Blick hinein zu werfen, konnte aber wegen der zugezogenen Vorhänge nichts erkennen. So flog sie weiter und landete auf dem Balkon, wo sie die Tür zur Küche verschlossen fand. Sie spähte durch die Scheibe, keine Menschenseele war zu sehen. Ein wenig wunderte sie sich, dass niemand zu Hause zu sein schien. Sicher waren ihre Besuche nicht immer regelmäßig, doch gerade in den letzten Tagen, seit sie bemerkt hatte, dass etwas Grundlegendes im Wandel begriffen war, bemühte sie sich, häufiger vorbeizuschauen.
Es war sehr merkwürdig, Paul erneut nicht anzutreffen. War er zu Hause oder nicht? Frieda wusste es nicht. Zwar konnte sie mit Hilfe ihres ausgezeichneten Beobachtungssinnes feststellen, dass in der Küche und auf dem Balkon während der letzten Tage nichts verändert worden war, was für Pauls Abwesenheit sprach, doch die Unordnung in der Küche ließ vermuten, dass er nicht verreist war, denn Ordnung war eines der Merkmale, die sie an ihm und an seiner Wohnung schätze. Niemals würde er auf eine Reise gehen, ohne zuvor aufgeräumt zu haben, da war sie sicher, und fragte sich, warum er ihr nicht ein wenig Futter auf den Balkon gestellt hatte. Ja, dieser Umstand befremdete Frieda am meisten, denn selbst wenn er einige Tage nicht anzutreffen war, sorgte er für sie vor. Doch diesmal war alles anders. Paul war wie vom Erdboden verschluckt, der Futternapf gähnte vor Leere und die Wohnung war nicht aufgeräumt. Sie müsse sich anderweitig um Nahrung kümmern, sagte sie sich, und dachte an den Domplatz und an die anderen größeren Plätze der Stadt, vielleicht würde sie einen Abstecher in den Park machen, denn auch dort gab es immer ein paar Krumen zu holen. Zuvor wollte sie sich aber noch ein wenig ausruhen, ihr Hunger war klein und die Futtersuche lief nicht weg. Frieda machte es sich auf dem Balkon gemütlich, blinzelte kurz in die Sonne und nickte ein.
Den noch immer schlafenden Paul hatte sie nicht bemerken können und als dieser endlich erwachte, war sie längst ihres Weges geflogen. Gänzlich unbemerkt von der Welt öffnete er seine Augen und starrte an die Decke des Zimmers. Nach einer Weile drehte er seinen Kopf zur Seite, um nach der Zeit zu sehen – es war Nachmittag. Daraufhin räkelte er sich und streckte die noch müden, doch langsam erwachenden Glieder gemächlich unter der viel zu warmen Decke hervor. Sein erster Weg führte ins Badezimmer, dann ging er in die Küche, um etwas gegen den Hunger zu unternehmen, den er überraschend stark spürte. Er schaltete das Radio ein und bereitete sich einen kleinen Happen. Danach zündete er sich eine Zigarette an und traute seinen Ohren kaum, als der Nachrichtensprecher das Datum nannte.
Hatte er sich verhört, fragte er sich? Denn wenn die Angabe der Wirklichkeit entsprach, hatte er nicht weniger als vier Tage geschlafen. Das konnte nicht sein, sagte sich Paul. Kein Mensch schläft vier Tage lang! Und um sich zu vergewissern, ob er richtig gehört oder sich getäuscht hatte oder ob eventuell dem Nachrichtensprecher ein Missgeschick unterlaufen war, ging er ins Wohnzimmer, schaltete den Fernsehapparat ein, um im Videotext nachzusehen. Der allerdings bestätigte die Radionachrichten und vergrößerte dadurch Pauls Erstaunen. Daraufhin überprüfte er die Datumsangabe seines Handys, sah im Internet nach und sprang schnellen Schrittes zum Briefkasten, denn die Zeitung irrte sich nie. Schon von Weitem erkannte er, dass er nicht nur eine vorfinden würde, sondern ebenso die Ausgaben der verschlafenen Tage. Ein Bündel Zeitungen unterm Arm haltend, lief er langsam zu seiner Wohnung hinauf. Es war ihm unbegreiflich, dass er vier Tage geschlafen haben sollte.
Verwirrt und angestrengt dachte er an die Möglichkeit, etwas Unvernünftiges getan zu haben, wodurch ein Gedächtnisverlust hervorgerufen werden konnte. Hatte er etwas genommen, das die fehlenden Tage erklärte? Nein! So etwas nahm er nicht und die Wirkungen aller anderen Substanzen, die er gelegentlich nicht verschmähte, kannte er gut genug, um auszuschließen, dass sie für vier verlorene Tage verantwortlich gemacht werden konnten.
So sehr er auch nach Erklärungen suchte, finden konnte er keine. Unschlüssig darüber, was er von der Angelegenheit halten sollte, zündete er sich erneut eine Zigarette an, schaltete das Radio aus, setzte sich vor den Fernseher und überprüfte noch einmal das Datum im Videotext, sich gegen das Offensichtliche sträubend und nicht Willens sich einzugestehen, mehrere Tage geschlafen zu haben. Doch das, woran er weder glauben konnte noch wollte, bestätigte ihm die Technik in ihrer absolut nüchternen und keinerlei Zweifel duldenden Logik und Härte: vier Tage waren vergangen!
Über dieses Mysterium nachdenkend saß Paul auf der Couch und bemerkte nicht, wie die Zeit erneut verrann. Wirklich flogen unzählige Minuten unbeachtet an ihm vorüber und reihten sich gleich Perlen an einem Faden zu Stunden auf, als er durch das Klingeln an der Tür aus seinen Gedanken gerissen wurde. Reflexartig überprüfte er die Uhrzeit und berechnete die Stunden, die sich seit seinem Erwachen der Vergangenheit angeschlossen hatten, doch diesmal hatte er nicht geschlafen und akzeptierte den Verlust von Zeit. Als es zum zweiten Mal läutete, lief er zur Gegensprechanlage, fragte wer da sei und betätigte den Summer.
Augenblicke später erschien Frank. »Das man dich mal erwischt! Wo hast du bloß die letzten Tage über gesteckt?«, begrüßte er Paul.
»Frag lieber nicht.«, antwortete der. »Komm rein.«
Frank betrat die Wohnung des Freundes und bemerkte die Veränderungen sofort. »Was ist denn passiert?«, fragte er nach einigem Zögern. »Ist es das, wonach es aussieht?«
»Ich weiß nicht.«, antwortete Paul. »Und bevor du weiter fragst: ja, sie ist ausgezogen. Aber wir sind noch zusammen, soviel ich weiß.«
»Aha?«
»Es ist so, wie ich gesagt habe.«
»Kannst du mir das näher erklären.«, bat Frank, verständlicherweise begierig, in Erfahrung zu bringen, was vorgefallen war.
Daraufhin berichtete Paul dem Freund die Ereignisse der vergangenen Tage, ließ jedoch den viertägigen Schlaf außen vor. Als alles gesagt war, schwiegen die beiden eine Weile. Paul zündete sich eine Zigarette an und blickte abwesend aus dem Fenster.
»Hat Tania herausgefunden, dass du mit Susanne geschlafen hast?«, fragte Frank besorgt.
»Nein.«, antwortete Paul trocken. »Dann hätte sie mich vermutlich umgebracht oder die Wohnung zertrümmert oder mir auf andere Weise zu verstehen gegeben, dass sie es weiß.«
»Du bist dir also sicher, dass das nicht der Grund ist?«
»Absolut. Außerdem war es ein Versehen; ein Ausrutscher.«
Frank betrachtete Paul eine Weile und sagte, dass er blass sei und schlecht aussehe. Paul zuckte nur mit den Schultern, sah Frank eine Sekunde lang aus den Augenwinkeln an und wendete seine Blicke wieder ab. Ein wenig frische Luft werde ihm gut tun, meinte Frank, woraufhin Paul mit dem Kopf schüttelte. So kannte er ihn nicht, dachte Frank, obwohl sie schon einige Jahre befreundet waren. Dergestalt niedergeschlagen, abwesend, teilnahmslos und in sich zurückgezogen hatte er Paul noch nicht erlebt. Er musste etwas für seinen Freund tun. Aber was, fragte er sich? Und er versuchte sich klarzumachen, dass er erst einmal damit fertig werden musste, Paul wegen einer Frau unglücklich zu sehen.
»Weißt du was?«, sagte Frank nach einer Weile. »Es fällt mir verdammt schwer, den Paul in dir wiederzufinden, den ich kenne. Da sitzt du nun vor mir, siehst aus wie er, deine Stimme klingt wie seine, aber irgendwie bist du es nicht.« Paul sah Frank unverwandt an und antwortete, dass es eben so ist, wie es ist.
»Dass ich das jetzt wirklich richtig verstehe«, sagte Frank, »du fühlst dich scheiße wegen Tania?«
»Was denn sonst?«, gab Paul mürrisch zurück. »Was ist denn bitte schön so schwer daran zu verstehen?«
»Nichts! Aber diese Seite ist mir an dir bisher verborgen geblieben. Überlege doch selbst, mit wie vielen Frauen du was hattest, seit wir uns kennen. Besonders wählerisch warst du nie und . . . «
»Bitte nicht so viele Neuigkeiten auf einmal!«, fiel ihm Paul ins Wort. »Ich habe gerade keine Lust auf so was. Und außerdem weißt du genau, dass du Recht hast. Also was willst du mir sagen? Soll ich vergessen, wie es mir geht? Soll ich so tun, als würde es mir gut gehen und nichts ausmachen, dass sie gegangen ist? Meinst du denn nicht, dass mir das auch viel lieber wäre? Aber ich sag dir was: leider ist es nicht so und ich kann nichts dagegen tun. Es geht mir scheiße! Es geht mir einfach nur scheiße! Und es hilft mir nicht, wenn du mich daran erinnerst, wie herrlich einfach es bei den Frauen war, die ich vor Tania hatte. Du hast Recht! Und nun gut!«
Darauf erwiderte Frank lachend, dass es im Gegenteil sogar beruhigend sei, wenn Paul zwischenmenschliche Beziehungen doch ernst nehmen könne. Nicht immer habe das so ausgesehen, meinte er, und tatsächlich habe er sehr wohl bemerkt, dass sich das seit Tania verändert habe. Allerdings müsse er erst realisieren, wie ernst die Beziehung mit Tania offenkundig war, das heißt, wie ernst sie ist, wie er sich schnell verbesserte, nachdem Paul ihm einen scharfen Blick zugeworfen hatte. »Und wie soll es jetzt weitergehen, wenn ich mal fragen darf?«
»Was weiß ich?«, antwortete Paul ärgerlich. »Irgendwann will sie sich melden. Ich soll mich auf keinen Fall bei ihr melden. Sie will Ruhe. Wenn sie überhaupt noch etwas mit mir zu tun haben will.«
Eine Weile schwiegen beide in verschiedene Richtungen und es ist schwer zu sagen, ob sie über etwas nachdachten oder nicht. Endlich war es Paul, der sich Frank zuwandte und ihn fragte, was er, und er solle ganz ehrlich sein, von der ganzen Angelegenheit hielt.
»Ganz ehrlich, ich weiß es nicht! Ich habe so etwas noch nicht erlebt, weder persönlich noch vom Hörensagen. Mir kommt Tanias Verhalten ziemlich idiotisch vor. Sei mir nicht böse, aber das ist meine Meinung. Ich kann dir nicht einmal einen Rat geben.«
»Schon gut. Musst du auch nicht. Ich wollte nur hören, ob das nur mir komisch vorkommt oder nicht. Gut zu wissen, dass es offensichtlich nicht normal ist!«
Noch einmal bekräftigte Paul, wie sehr ihm die Geschichte zu schaffen machte. Er wisse nicht, wo ihm der Kopf stehe, sagte er, er fühle sich so schlecht wie nie zuvor in seinem Leben. Durch Tania habe er erst gelernt, was Liebe überhaupt bedeutet. Und so mir nichts dir nichts zog sie aus und ließ ihn voller Zweifel zurück.
Im Grunde genommen habe er Recht, pflichtete Frank ihm bei. Und als Paul ihm auf Nachfrage noch einmal sagte, vor wie vielen Tagen sie die Wohnung verlassen hatte, erklärte er, dass das ganz und gar unfair ihm gegenüber gewesen sei. Dergleichen würde sie sich wahrscheinlich nicht bieten lassen, vermutete Frank, wenn er auf diese Weise gegangen wäre.
»Wie lange bist du schon mit Lisa zusammen?«, fragte Paul plötzlich.
»Es werden bald zwei Jahre.«, antwortete Frank.
»Warum habt ihr eigentlich keine Probleme?«, fragte Paul grüblerisch. »Was macht ihr anders?«
»Wie kommst du denn darauf?«, entgegnete Frank verwundert. »Wir und keine Probleme!?«
»Was habt ihr denn für welche? Hab ich was verpasst? Fast zwei Jahre schon, sagst du. Ihr passt doch gut zusammen . . .«
»Prinzipiell liegst du richtig.«, erklärte Frank überzeugt. »Doch das heißt nicht, dass du alles mitbekommen hast, was für unsere Beziehung von Bedeutung ist. Ich meine, du weißt schon, was passiert ist, aber ich glaube nicht, dass du auch weißt, wie dieses oder jenes auf uns gewirkt hat, was es vielleicht ausgelöst oder beeinflusst hat. Wie wir uns dabei gefühlt haben, wissen wir vielleicht nicht einmal selbst. Und was so alles passiert ist, das weißt du ziemlich genau.«
»Einiges hast du mir erzählt.«, gab Paul zu. »Aber waren das Dinge, die ihr als Probleme bezeichnet? Für mich hat das immer so geklungen, als würdet ihr damit fertig werden. Jedenfalls habe ich nicht bemerkt, dass ihr euch richtig verkracht habt oder der eine auf den anderen richtig böse gewesen wäre.«
»Das stimmt schon. Aber das heißt noch lange nicht, dass wir mit den Problemen, die wir haben, einfach so fertig werden.«
»Und was dann?«, fragte Paul. »Willst du mir sagen, dass ihr keines eurer Probleme gelöst habt?«
»Zumindest kein wichtiges.«, erwiderte Frank.
»Das versteh ich nicht!«, rief Paul fassungslos. »Ihr seid nicht nur für mich so etwas wie ein ideales Paar. Was seid ihr denn dann?«
»Wir sind auch nicht anders als alle anderen. Meine Güte! Was glaubst du denn? Sieh uns doch an! Achte nur einmal auf das Äußerliche und schon wirst du bemerken, wie verschieden wir sind. Und dass wir so verschieden sind, weiß jeder! Denkst du denn nicht, dass in so einem Falle Schwierigkeiten vorprogrammiert sind?«
»Also führt ihr keine gute Beziehung?«, wollte sich Paul vergewissern.
»Wie soll ich dir das bloß erklären? . . . Wir führen keine schlechte Beziehung und wir haben auch nicht viele Probleme. Aber wir sind zwei verdammt unterschiedliche Charaktere und wenn wir mal Probleme haben, dann sind diese von solcher Beschaffenheit, dass wir sie kaum lösen können. Weißt du was? Am leichtesten könnte ich es dir mit Hilfe einer kleinen Geschichte erklären.«
»Du willst mir eine Geschichte erzählen?«, fragte Paul erstaunt.
»Wenn du willst und zuhören magst. Vielleicht würdest du dann besser verstehen, was ich meine.«, antwortete Frank und begann, seine Geschichte zu erzählen, nachdem Paul zustimmend genickt hatte.