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Robert

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Frank hatte dafür gesorgt, dass sich Tanias Auszug in Windeseile herumgesprochen hatte. Paul vermutete zu Recht, dass Frank nur weitergab, was er von ihm erfahren hatte. Es kam ihm entgegen, mit der ersten, unvermeidlichen Aufklärung nichts zu tun zu haben. Auf diese Weise blieben ihm die Unannehmlichkeiten erspart, von Tanias Auszug berichten zu müssen. In Pauls Freundeskreis gab es also niemanden, der noch nicht darüber informiert war. Die Nachricht glich einem Virus, der sich besonders in den sozialen Netzwerken rasch ausbreitete und als solcher nicht zu erkennen war, da er seine äußere Gestalt (den Wortlaut) ständig veränderte und nur durch genaue Beobachtung seines Erbguts (Paul und Tania lebten nicht mehr zusammen) identifizierbar blieb. Denn mitunter wussten gut informierte Kreise zu berichten, Tania habe Paul aus der Wohnung geschmissen und lebe dort nun mit ihrem neuen Freund. Angesichts solcher Gerüchte und der Notwendigkeit, dieselben zu korrigieren, hätte Paul sich am liebsten in seiner Wohnung verbarrikadiert, um erst wieder unters Angesicht der Sonne zu treten, wenn andere Ereignisse seinem Unglück den Status einer Neuigkeit genommen hätten.

Seine Freunde indes wollten nicht auf ihn verzichten. Überhaupt wunderten sie sich, dass gerade er durch eine Frauengeschichte so sehr mitgenommen wurde. Die Mitteilung, dass Tania ausgezogen sei, registrierten all diejenigen lediglich mit einem Achselzucken, die überhaupt darauf reagierten. So waren es schließlich Frank, Stefan und Robert, die eines Tages bei Paul auftauchten und ihn überredeten, mit der Clique im Garten einer guten Bekannten mal wieder so richtig abzufeiern. Wegen seines bloßen Anblicks ersparten sie ihm Floskeln à la das würde dir bestimmt gut tun, auch wenn seine Erscheinung solche Äußerungen geradezu provozierte. Und schon kurze Zeit später fuhren sie in Stefans Wagen den kleinen Weg entlang, der zum Garten führte.

Es waren wirklich alle da, stellte Paul fest und wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Er hielt sich am Rande, um sich nicht plötzlich inmitten des Getümmels wiederzufinden. Ihm war das alles zu viel; gerne wäre er gegangen, doch immerhin registrierte er nach einer Weile zufrieden, dass es ihm doch ein wenig gut tat, unter Menschen zu sein. Außerdem stellte sich seine Befürchtung, Auskunft über seine Situation geben zu müssen, als falsch heraus. Mehrere wie geht’s, deren Tonfall durchblicken ließ, dass man Bescheid wusste, waren die deutlichsten Anspielungen auf das Geschehene, und geradezu souverän wusste er solche Frage mit einem geht schon zu beantworten. Alles in allem verlebte er ein paar schöne Stunden.

Als sich Paul an den folgenden Tagen an diesen Abend zurückerinnerte, konnte er sich nicht erklären, was plötzlich in Robert gefahren war, auch wenn der stets beteuerte, nichts anderes im Sinn gehabt zu haben, als ihm beizustehen und ebenso allen anderen Männern. Gewisse Dinge galt es richtig zu stellen, erklärte Robert, denn er habe den Eindruck gewonnen – und er frage sich, warum nicht auch alle anderen anwesenden Männer seine Ansicht teilten –, dass sich die Mehrzahl der weiblichen Gäste über Paul und damit sozusagen durch ihn als Vertreter des männlichen Geschlechts über dasselbe lustig gemacht hätten. Umständlich musste er Paul die Details ins Gedächtnis zurückrufen, die ihn zu seiner Entgleisung gebracht hatten. Die Notwendigkeit dazu lag nicht etwa in dem Umstand, dass Paul sich nicht mehr erinnern konnte, vielmehr verstand er nicht, warum Robert auf eine Bagatelle, auf einen unmöglich böse gemeinten kleinen Scherz so empfindlich reagieren konnte.

Alles begann recht harmlos. Die Stimmung wurde je besser und ausgelassener, desto länger der Abend wurde und je mehr Alkohol in die durstigen Kehlen von Paul und seinen Freunden floss. Wie es unter guten Freunden nicht unüblich ist, scherzte und neckte man sich den lieben langen Abend über unentwegt. Natürlich war es unumgänglich, dass, wie es unzählige Male schon der Fall gewesen war, man irgendwann auf die Geschlechter zu sprechen kam. Typische Klischees wurden in die Mangel genommen, Vorurteile von Frauen gegenüber Männern und umgekehrt wurden genüsslich ausgebreitet, Bilder und Vorstellungen wurden konstruiert, die die Realität karikierten und auf diese Weise die Stimmung anheizten. Keiner der an diesem Unfug Beteiligten nahm die Scheingefechte ernst. Nur Robert, der sich stets aus solchen Kindereien heraushielt, spuckte auf einmal Gift und Galle.

Gerade waren einige Frauen damit beschäftigt, ihren Zuhörern auseinanderzusetzen, wodurch sich echte, wahre Männer auszeichneten. Das dabei entstehende Idealbild entsprach natürlich keineswegs den Gegebenheiten, sondern bildete vielmehr einen Antagonismus zur Realität. Selbiges taten die männlichen Zuhörer, die sich an einem Frauenbild ergötzten, dass ebenso wenig real existierte und mit der Wirklichkeit nichts gemein hatte. Mitten in dieser bedeutungslosen Auseinandersetzung erklangen ein paar ganz und gar harmlose Worte, die, voller Entzücken ausgesprochen, einem langen, schmachtenden Seufzer glichen, der gleichsam Bewunderung, Sehnsucht und Bedauern ausdrückte. Entrückt und scheinbar fern von allem Irdischen, in einer ganz anderen Dimension verweilend, blickte Laureen in die Flamme eines Teelichts und säuselte ein Wo sind nur all die Prinzen hin? in die von einem zarten Luftzug umspielte Flamme. Dann beugte sie ihren Kopf zur Seite und bettete ihn auf ihren angezogenen Knien. Sie schloss ihre Augen und es hatte den Anschein, als stelle sie sich in diesem Augenblick den begehrten Prinzen vor, der in strahlender Rüstung auf einem Schimmel reitend sie allein auf der ganzen Welt suchte.

Das leise Gelächter ihrer Freunde störte Laureens Träumerei nicht. Doch sehr wohl wurde sie durch Roberts Stimme aus ihren Gedanken gerissen, der allerdings nicht nur ihr antwortete, sondern vielmehr allen Frauen, so wie er vermutlich die Meinung vertrat, Laureen hätte für ihr Geschlecht gesprochen: »Ihr spinnt doch alle!«, schrie er plötzlich, als hätte ihn eine Tarantel gestochen. »Ihr wollt wissen, wo die Prinzen sind? Wollt ihr das wirklich wissen oder wisst ihr es nicht längst?« Unruhig und aufgebracht blickte er in die Runde. Vergebens wartete er auf eine Antwort oder auf eine andere Reaktion; seine Freunde hatten noch gar nicht erfasst, was mit ihm los war, warum er sich so aufregte, und sahen ihn verwundert und unschlüssig an. »Nun gut!«, setzte er daraufhin zu einer Erklärung an und verkündete allen, die es wissen wollten: »Ich kann euch sagen, wo eure verdammten Prinzen sind! . . . Sie sind genau dort, wo die Prinzessinnen sind. Und damit ihr es kapiert: warum sollten denn eure blöden Traumprinzen ausgerechnet hier sein? Seid ihr Prinzessinnen? Wohl kaum!«

Als Robert die Blicke aller auf sich ruhen fühlte, verflog sein Anfall genauso schnell, wie er gekommen war. Niemand regte sich oder reagierte anderweitig; alle blieben stumm und wunderten sich. Erst nach einigen Sekunden kamen die Ersten wieder zu sich, lösten ihre Blicke von Robert und sahen einander fragend an. Die abgewendeten Blicke gaben ihrerseits Robert seine Freiheit zurück, fühlte er sich doch wie festgenagelt, sodass er eilig aus der Runde verschwinden konnte. Ratlos und verlegen nippten einige von ihren Getränken, andere zündeten sich Zigaretten an, gingen zur Toilette oder versuchten auf andere Art, diese unfassbare Verlegenheit zu überspielen, die man sich zwar nicht erklären konnte, die aber dennoch die Umgebungstemperatur erstaunlich schnell abkühlte und obendrein die gute Stimmung nachhaltig mit einer sauren Substanz verdarb, die fortan in der kühlen Luft schwebte. Auf die Frage, was Robert habe beziehungsweise ob sie ihm zu nahe getreten sei, erhielt Laureen keine Antwort. Niemand konnte sich sein Verhalten erklären und so versuchte man vergebens, an die Heiterkeit und Ausgelassenheit anzuknüpfen, die vor Roberts Entladung die Feier so überaus angenehm gemacht hatten.

*

»Verdammt noch mal! Verstehst du das wirklich nicht?«, fragte Robert Paul, als die beiden sich einige Tage später trafen. »Es geht mir schon lang auf den Sack, was diese blöden Tussis veranstalten. Die nehmen doch überhaupt nichts mehr ernst, ziehen alles in den Dreck und erwarten noch, dass alles so wird, wie sie es gerne hätten – vor allem wir! Mir reicht’s! Ich hab so was von genug davon!«

Paul, der noch immer nicht verstand, was den Freund in jener Nacht so aufgebracht hatte, versuchte noch einmal, ihn zum Reden zu bringen: »Nun gut. Du musst wissen, ob du es mir erklären willst, oder ob du dich weiter in nichtssagende Phrasen flüchtest. So werde ich dich jedenfalls nicht verstehen können und die anderen vermutlich auch nicht. Meine Güte, war es wirklich nur die Frage nach den Prinzen?«

»Seit wann versuchst du denn überhaupt, irgendetwas zu verstehen?«, fragte Robert bissig. »Mensch Paul! So kenne ich dich ja gar nicht.«

»Na dann lerne mich doch jetzt so kennen.«, konterte dieser und fügte hinzu, Robert gehöre auch nicht zu den Menschen, die offen und ehrlich sagten, was sie dachten und fühlten.

»Du hast wirklich nicht mitbekommen, was vor sich geht, nicht wahr?«, fragte Robert nachdenklich und sah Paul mit einer Miene an, die tiefstes Bedauern ausdrückte. »Aber wahrscheinlich ging es bei dir auch nicht anders. Für dich hat es bestimmt ganz anders ausgesehen. Vielleicht wirst du bald verschiedene Dinge aus einer anderen Perspektive sehen.«

»Kannst du dich nicht endlich etwas klarer ausdrücken?«, insistierte Paul. »Was habe ich nicht mitbekommen und was bitte schön sollte sich ändern? Um was geht es dir eigentlich?«

Robert blickte ins Leere und schien nur noch körperlich anwesend zu sein. Wären seine Augen nicht geöffnet gewesen, man hätte meinen können, er schlafe. Wo auch immer sich seine Gedanken gerade befanden, von einer Stimme, die klang, als habe sie Jahrhunderte gebraucht, um Pauls Ohren zu erreichen, drangen dumpf wabbernde Töne in die Wirklichkeit, die, in Sprache übersetzt, völlig absurd klangen und Paul zum Nachfragen zwangen: »Frauen? Was ist mit Frauen?«

»Nun gut. Dann werde ich dir mal eine Frage stellen: Kommt es dir nicht auch so vor, als würden die Frauen immer mehr zu Männern werden?«

»Was?«, rief Paul verblüfft aus und hatte Mühe, sich das Lachen zu verkneifen. »Wie soll ich mir das denn bitte schön vorstellen?«

Und Robert antwortete: »Von ihrem Verhalten aus betrachtet natürlich! Was hast du denn geglaubt? Ihre Körper habe ich jedenfalls nicht im Sinn.«

»Ja wirklich?! Und ich dachte schon . . . Aber was in ihrem Verhalten ist denn so männlich?«, wollte Paul wissen und drängte auf eine Antwort. Lange starrten sie sich an: Paul, auf eine Erklärung wartend und Robert, nicht sicher, ob er nicht bereits viel zu viel gesagt hatte.

»Weißt du was, Paul? Im Grunde genommen wäre es besser, wenn ich dir nichts weiter sage und du endlich beginnst, dir Gedanken zu machen, wie du mit den Mädels umgegangen bist und wie Tania dich nun behandelt. Du könntest noch andere Frauen in deine Überlegungen und Vergleiche einbeziehen und außerdem solltest du dir überlegen, wer du eigentlich bist und was du willst. Ja, ja! Ich sehe schon den Protest in deinen Augen. Nimm es mir nicht übel! Ich meine es nicht böse, auch wenn es dich in deinem Innersten trifft, weil ich dir vorwerfe, dass du nichts von dem verstehst, was vor sich geht und das auch noch auf Frauen bezogen ist. Ich verstehe das. Das kann kein Mann einfach so hinnehmen. Aber trotzdem bitte ich dich, erst einmal darüber nachzudenken. Also über Frauen und so. Ich muss dich vermutlich nicht daran erinnern, wie viele dir von Tania abgeraten haben. Jetzt ahnst du vielleicht warum und es könnte für dich der Antrieb sein, über alles nachzudenken und zwar aus einem anderen Blickwinkel, nicht aus dem, durch den du schon immer die Welt gesehen hast . . . Ich weiß! Es fühlt sich nicht gut an, wenn man sich klar zu machen versucht, dass man so viele Dinge, mit denen man tagtäglich konfrontiert wird, nicht wirklich versteht, jedenfalls ging es mir so, soviel kann ich dir sagen. Aber wenn man sich mit sich selbst und vielen anderen Dingen erst einmal gründlich auseinandergesetzt hat, dann hat man vielleicht auch etwas dabei gelernt. Verstehst du, was ich dir sagen will, jedenfalls so ungefähr?«

»Ich glaube ja.«, antwortete Paul mit unsicherer Stimme und log, weil er nicht darauf aus war, noch einmal Roberts wirren Gedanken folgen zu müssen.

»Gut! Dann tue dir den Gefallen und denk über das eine oder andere nach. Fang alleine an, das wird besser sein. Denn was hätte es für einen Nutzen, wenn ich dir sage, was ich von Diesem und Jenem halte. Ich würde dir nur meine Gedanken und Denkweisen einimpfen. Du bist aber nicht ich und ich habe meine Gründe, zu denken, was ich denke und wie ich es denke. Du aber wirst einen eigenen Weg gehen müssen und wenn du es tatsächlich geschafft hast, wenigstens einen Anfang zu finden, dann können wir darüber reden, was vor einigen Tagen geschehen ist.«

*

Robert: als die Worte zu leben begannen, stachen sie mir mitten ins Herz. Und als ich den Schmerz bewahren wollte, verließ er mich . . . für immer. Nur ein Nichts von mir blieb zurück, in einer kalten Hölle ohne Sinn. So bewegungslos das Leben, nur die Stille blieb sie selbst. Tausend Foltern, die nicht mehr quälten. Immer während verging die Zeit. Die vielen Arten, auf die ich nicht schrie, stauten noch mehr Worte in mir auf. Klarstes Verständnis betrübt vollkommen, formt aus Unwahrheiten nichts als Zweifel, erschafft aus freiem Willen Einsamkeit, baut mir eine neue Welt. Unvergleichlich ist diese Leere. Noch nie gesehen solch hohe Mauern. Eingesperrt oder ausgeschlossen? Irgendetwas hat diese Frage verschluckt . . .

Robert: Daneben

*

Robert: und niemand könnte die Frage beantworten, wie er eines Tages in Pauls Freundeskreis geraten war. Damals schon vollzog sich eine tiefgreifende Veränderung in ihm, die er zwar selbst ausgelöst hatte, jedoch schon bald nicht mehr beeinflussen, geschweige denn kontrollieren konnte.

Robert: Sohn eines Vaters, der zwar ein gutes Händchen fürs Geschäft, nicht aber für Frauen hatte. Sohn einer Mutter mit guten Händen fürs Geschäft, solange dies auf Männer bezogen war.

Eine der frühesten Kindheitserinnerungen, die er niemals vergessen sollte, waren Worte, die sein Vater einer Litanei ähnlich ständig wiederholte, nachdem die Mutter ihre Koffer gepackt und die Familie verlassen hatte: »Heirate niemals die Erstbeste, Junge! Niemals! Hörst du!«

In einem Aufsatz setzte Robert mit einer Virtuosität auseinander, die man von einem Fünftklässler nicht erwarten konnte, warum ein Mann sich hüten sollte, überhaupt jemals zu heiraten. Die Lehrerin, die über die Familienverhältnisse im Bilde war, vermutete zu Recht, dass der Vater hinter den Gedanken des Jungen steckte und wies ihn und dadurch seinen Vater zurecht. Sie schärfte ihm ein, nicht viel von Frauen zu verstehen und betonte, dass man von einer nicht gleichsam auf alle schließen könne.

Robert fühlte sich missverstanden und versuchte sich verständlich zu machen. Seine Lehrerin beharrte jedoch auf ihrer Ansicht und ließ eine Richtigstellung nicht zu. Indem sie Vater und Sohn gleichermaßen tadelte, fühlte sich Robert ob dieser ungerechten Behandlung noch stärker seinem Vater verpflichtet. Mehr noch: die Lehrerin wurde zum perfekten Exempel und Experimentierfeld einiger nicht immer ernst gemeinter Äußerungen seines Vaters, der, obwohl seine Frau ihn sitzen gelassen hatte, weder seinen Humor verlor, noch die Liebe zu den Frauen. Doch Roberts Vater, oft bis in den späten Abend und auch an den Wochenenden mit seinen Geschäften befasst, bemerkte nicht, dass sein Sohn seine Worte ernster nahm, als gut gewesen wäre.

Schließlich erreichte Robert das Alter, in dem er sich für Mädchen zu interessieren begann. In dem Maße, wie er von den dunklen, geheimnisvollen Augen einer Mitschülerin angezogen wurde, traten die Unmittelbarkeit seines Vaters und all die Worte sowie die Ratschläge, die er seinem Sohn jemals in Puncto Frauen gegeben hatte, in den Hintergrund. Erst viel später, als er bereits studierte, als weitere Erfahrungen sein Denken und Empfinden beeinflussten und veränderten und er genau das tat, was er Paul eben erst geraten hatte, nämlich sich mit sich selbst und seinen Mitmenschen auseinanderzusetzen, begegnete er den Einflüsterungen seines Vaters in einem Winkel seines Geistes wieder, wo er sie nicht vermutet hätte. Ungewollt vermischten sie sich mit der Wirklichkeit, in der er lebte, und legten sich wie ein Filter auf seinen Blick. Obwohl sein Leben nicht das seines Vaters war, obwohl Vater und Sohn zwei ganz und gar verschiedene Menschen waren, mengte sich auf diese Weise ein kleiner, jedoch bedeutender und – wie sich herausstellen sollte – äußerst einflussreicher Teil der väterlichen Persönlichkeit, des väterlichen Charakters und der väterlichen Ansichten in Roberts Persönlichkeit und Leben.

Als ihm dies bewusst wurde, setzte er alles daran, diesen Überbleibseln längst vergangener Zeiten nicht allzu viel Zeit und Raum in seiner geistigen Welt zu überlassen. Obschon das Verhältnis zu seinem Vater durch nichts belastet war, wollte er lieber seine eigenen Gedanken denken und sein eigenes Leben leben. Er fühlte sich alt genug, um auf eigenen Beinen zu stehen. Sein Vater hatte sich lange um ihn gekümmert, doch nun war er den Kinderschuhen entwachsen.

Zu diesem Zeitpunkt stieß Robert auf ein ernsthaftes Problem, das nur sehr schwer verständlich zu machen ist. Es resultierte aus Spannungen, die unmöglich in Worte gefasst werden konnten: einerseits lebte er sein Leben genauso, wie er es sich vorstellte, ungeachtet all dessen, wodurch er beeinflusst wurde; andererseits waren gerade diese Einflüsse die Ursache dafür, dass er immer wieder auch die Eigenschaften und Gedanken, die er für seine individuellsten hielt, bei anderen Menschen entdeckte. Er erkannte, dass sein eigenes Leben, ja seine eigene Person, die er für absolut einmalig und unvergleichbar hielt, kaum wirkliche Unterschiede zu anderen Menschen und deren Leben aufwiesen. Lebte er also wirklich sein Leben? Was bedeutete das eigene Leben? Und was veranlasste Robert überhaupt, solcherart über derlei Probleme nachzudenken?

*

Folgendes war geschehen: im Grunde genommen war nichts geschehen! Obwohl dies der Wahrheit entspricht, befriedigt eine solche Erklärung in keiner Weise, schon gar nicht an dieser Stelle. Deshalb muss einiges klar gestellt und präzisiert werden. Also noch einmal: was war geschehen?

Folgendes war geschehen: im Grunde genommen war nichts geschehen! Zumindest war nichts Außergewöhnliches geschehen, wodurch Roberts Situation erklärt werden könnte. Bezogen auf Prinzessinnen und Prinzen hätte man auf eine Laune schließen können, auf eine Grille, auf einen Stein in seinem Schuh oder auf die Mücke, die ihn ins linke Ohrläppchen gestochen hatte; mit viel Wohlwollen wäre seine Entgleisung nachvollziehbar, denn die banalsten Dinge rufen mitunter völlig unangemessene Reaktionen hervor. Im Dunkeln bliebe allerdings seine Vergangenheit, über die nur sehr wenig bekannt ist und die deshalb bereits des öfteren seine Freunde ins Grübeln gebracht hatte.

Wenn aber nichts Ungewöhnliches geschehen war, wenn zumindest kein auslösendes und allein verantwortliches Ereignis oder eine bestimmte Befindlichkeit zu diagnostizieren war, die Roberts Verhalten eine befriedigende Erklärung gab, dann, so schlossen seine spekulationsfreudigen Freunde, musste davon ausgegangen werden, dass irgendwann irgendetwas passiert war, wonach wahrscheinlich wieder etwas geschah und danach auch und danach und so weiter und so fort, bis Robert schließlich sagte, die Prinzen seien dort, wo die Prinzessinnen sind.

*

Wie schön sie war! Und diese dunklen Augen! Und ihr Name erst: eine geradezu unirdische Melodie erzeugt durch die unwahrscheinlichste aller Buchstabenfolgen: Jasmin! Ein Name wie aus Tausend und einer Nacht, ein Zauberspruch, eine Beschwörungsformel; ein Name eben, der dazu einlud, verpflichtete und befahl, man möge ihn unentwegt der Welt kundtun – meinte jedenfalls der heranwachsende Robert, der übrigens die fünfzehnjährige Jasmin nicht für eine Prinzessin hielt, sondern die Meinung vertrat, sie sei eindeutig eine Elfe, und wenn nicht, so doch wenigstens eine Fee, was durch ihre Zauberkräfte nicht weiter bewiesen werden musste.

Bis über beide Ohren war Robert in Jasmin verliebt. Doch zu seinem Unglück wollte sie nichts von ihm wissen. Warum? Das konnte sie nicht erklären. Aber brauchte sie eine Erklärung? Genügte es denn nicht, dass es keine Gründe gab, mit einem Jungen zu gehen, der so alt war wie sie und in die Parallelklasse ging? Es kam einfach nicht in Frage! Und in Jasmins Augen bedurfte das keiner weiteren Erklärung, so wie viele andere Dinge auch, die sie hinnahm, weil sie der Meinung war, sie hinnehmen zu müssen. Sie war schön! Reichte das nicht? Sagte das nicht alles über sie? Was denn noch? Ja was denn nur? Jasmin verstand nie so recht, warum man von ihr verlangte, sich mit so vielen mehr oder weniger wichtigen Dingen, Menschen, Angelegenheiten usw. zu beschäftigen. Und die Dinge, Menschen und Angelegenheiten verstanden ihrerseits nicht, warum Jasmin sich nicht mit ihnen beschäftigte.

Manchmal, als Jasmin längst um ihre Schönheit wusste, erinnerte sie sich, wie ein wenige Jahre älterer Junge auf brutale Weise diese Schönheit aus den Tiefen ihrer märchenhaft mädchenhaften Einfalt befreite hatte. Sie gefiel ihm und er sagte es ihr. Er machte ihr Avancen, wollte, dass sie seine Freundin werde und ließ lange Zeit nicht von ihr ab. Verstört hörte sie zum ersten Mal von einem fremden Jungen, wie wahnsinnig schön sie doch sei; seine Worte klangen so anders, so fremd, so ungewohnt, so hatte man ihr das noch nie gesagt.

Jasmin, damals noch ein Kind, hatte nichts verstanden. Verwirrt berichtete sie ihrer leicht entsetzten Mutter, was sie aus dem Munde des Jungen vernommen hatte. Doch nach nur wenigen Wochen einer im Nachhinein vollkommen unberechtigten Unruhe gab Jasmin ihrer Mutter die mütterliche Ruhe zurück. Der Junge hatte das Interesse an ihr verloren, berichtete sie, und sich eine andere Freundin gesucht. Voller Aufrichtigkeit erklärte sie, dass er nichts mehr von ihr wissen wolle, weil sie nicht ein einziges Mal mit ihm gesprochen, ja ihn nicht einmal angesehen habe. Die Mutter wunderte sich über Jasmins Verhalten, die langsam das Alter erreichte, im dem die Mädchen mit den Jungs . . . doch dass es nicht dieser werden würde, beruhigte sie ungemein, schließlich war er wie viele Jahre älter? . . . zu viele!

So war es wirklich: Jasmin verstand nicht, warum sie von aller Welt als schön empfunden wurde. Das beschäftigte sie so sehr, dass sie viel Zeit in die Lösung dieses Rätsels investierte. Dem anderen Geschlecht versuchte sie so weit wie möglich aus dem Wege zu gehen, wurde jedoch nach dem ersten erfolglosen Eroberungsversuch heftig belagert, als wäre dieser der Beginn einer nicht enden wollenden Kettenreaktion gewesen. Im Zuge dessen teilte Robert das Schicksal so vieler seiner Geschlechtsgenossen und wurde nicht nur zurückgewiesen, sondern nicht einmal im Entferntesten in Erwägung gezogen. Denn mittlerweile hatte sie zwei Kriterien aufgestellt, die ihr potentieller Freund erfüllen musste: er müsse so sein, dass sie ihn lieben könne und dürfte nicht weniger als vier Jahre älter sein als sie. Warum? Nun, auch dafür brauchte sie keine weitere Erklärung.

Robert hatte keine Chance: Jasmin wollte nicht einmal mit ihm reden. Schlimmer noch: ihr verlangte nicht danach, ihn zu sehen, ihn überhaupt zu kennen, geschweige denn mit ihm zu verkehren. Doch auch ihre unmissverständliche Ignoranz gegenüber den Annäherungsversuchen des heranwachsenden Jünglings, der in Liebesangelegenheiten noch keine Erfahrungen gesammelt hatte, der nicht anders konnte, als ihr Briefchen zu schreiben, sie und ihre Freundinnen zu nerven und stets lauernd und gesprächsbereit um sie herum schlich, zeigte nicht die erhoffte Wirkung. Der ob seiner unsinnigen Versuche stets belächelte Grünschnabel verbiss sich in die Vorstellung, Jasmin eines Tages doch zu erobern. Er ließ nicht locker und entwickelte eine geradezu unglaubliche Ausdauer, seine Angebetete zu umwerben, die schnell ihre lächerlichen Züge verlor, ehemals gescheiterten Konkurrenten Bewunderung abtrotzte und sich speiste aus einer Mischung aus Verzweiflung, Hoffnung, Fanatismus, Idiotie, Blindheit, Verliebtheit und Verlangen. All diese Regungen huschten mitunter gleichzeitig über Roberts Gesicht und verzerrten es zu einer unansehnlichen Grimasse.

Jasmin wurde der plumpen Aufdringlichkeit ihres Mitschülers schließlich überdrüssig, verlor die Contenance und sagte eines Tages, dass er sie ein für alle Mal in Ruhe lassen solle. Sofern er ihrem Wunsch nicht nachzukommen gedenke, werde sie dafür sorgen, dass er von älteren Freunden (oder Verehrern; sie drückte sich nicht deutlich aus) eine solche Tracht Prügel erhalten werde, die ihm seine Mätzchen ein für alle mal austreibe. Außerdem schlug sie ihm einen Handel vor. Sei Robert bereit, von ihr abzulassen, könne sie ein gutes Wörtchen bei einer ihrer Freundinnen für ihn einlegen.

Jasmin meinte es ernst. Robert blieb nichts anderes übrig, als sich ihrem Willen zu fügen. Nicht nur entging er dadurch großem Ärger, sondern fand sich schon bald an der Seite einer anderen Klassenkameradin wieder, mit der er einige Monate zusammen war. Darüber hinaus erlangte er Berühmtheit und Ansehen allein dadurch, weil er das Kunststück fertig gebracht hatte, nicht nur mit Jasmin gesprochen zu haben, sondern gar von ihr angesprochen worden zu sein, auch wenn der Anlass seiner Meinung nach durchaus ein besserer hätte sein können.

Anja: seine erste Freundin! Aber warum zum Teufel hatte er sich auf diesen Kuhhandel eingelassen? Die Antwort ist geradezu unglaublich banal und zeigt Robert in all der Unerfahrenheit, Unbekümmertheit, Naivität und Sorglosigkeit, die ihm und seinen Altersgenossen eigen war und sie lautet: warum denn nicht, wenn es keine bessere Lösung gibt?!?

*

Mit Anja erlebte Robert ein paar stürmische Monate. Beide wussten, dass es keinen wirklichen Grund für eine Beziehung gab. Sie waren nicht verliebt und empfanden entsprechend wenig füreinander. Lediglich eine unsinnige Neugier verband sie. So war die Ursache ihrer ersten schüchternen Berührungen, ihrer sich wie zufällig treffenden Hände, der ersten Umarmung und ihres ersten Kusses in ihrer jugendlichen Vorstellung zu suchen, dass man solche Dinge tut, wenn man einen Freund/eine Freundin hat.

Natürlich blieb es nicht bei harmlosen Küssen und Expeditionen über die Oberfläche des menschlichen Körpers. Schon bald sahen sich die beiden mit Schwierigkeiten konfrontiert, über die sie noch vor Wochen herzlich gelacht oder entsetzt gestaunt hatten, hörten sie Freunde darüber berichten. Ihrem theoretischen Wissen zum Trotz genügte eine einzige Nacht, um zu beweisen, dass sie allem Anschein nach nichts verstanden hatten. Ihr Miteinander gipfelte in zwei zermürbenden Wochen voller Bangen, Hoffen, Warten und endlosen Gebeten an einen Gott, an den sie nur in der Not glaubten und den sie anflehten, Anja möge nicht schwanger sein. Kurz nachdem sich ihre Menstruation eingestellt hatte und ihr Körper so tat, als sei nichts geschehen, trennten sich ihre Wege in vollkommener Eintracht, ohne dass auch nur ein einziges böses Wort ihre Trennung trübte. Verblüfft darüber waren Anja und Robert der Meinung, ihr Auseinandergehen war sozusagen der Höhepunkt ihrer Beziehung.

Dennoch war es nichts anderes als Liebe, die Robert bei Jasmin gesucht und bei Anja nicht gefunden hatte, der er aber weiterhin nachstellte. In diesem Licht betrachtet erscheint seine erste, nur wenige Monate dauernde Beziehung in der Tat nur als eine kurze, folgenlose und unbedeutende Episode, der keinerlei Bedeutung beizumessen ist – wie jedenfalls Robert dachte. Doch er irrte sich. Und in diesen Irrtum verfiel er, da er nach dieser Beziehung ohne zu zögern die Liebe als solche idealisierte und ihr einen Wert beimaß, den die durch einen Kuhhandel zustande gekommene Liaison mit Anja freilich nicht aufweisen konnte. Durch Anja gelangte er in den Besitz des nötigen Rüstzeugs, um seinen zukünftigen Erfolg bei Frauen zu sichern. Er lernte, wie man mit ihnen umgeht: wie man sie küsst, berührt, spricht, aufs Bett legt, auszieht, wieder berührt und überredet, bestimmte Dinge zu tun.

Robert idealisierte also die Liebe. Nur darf man sich nicht allzu viel darunter vorstellen. Im Grunde genommen handelte es sich lediglich um ein Gefühl, das irgendwo in ihm heranwuchs, größer und stärker wurde und ein nahezu grenzenloses Verlangen im Schlepptau hatte, dass den sich zu einem Mann entwickelnden Jüngling zu allen möglichen Mädchen hinzog. Robert suchte Liebe und kein Individuum. Sein Ideal fand er in den Gesichtern hübscher Mädchen.

Robert machte Bekanntschaft mit vielen jungen Frauen, die meist schneller als er dahinter kamen, dass er nicht sie suchte, sondern etwas ganz anderes, worüber sie sich jedoch bis auf wenige Ausnahmen keinen Reim machen konnten. Oft ertrugen sie nicht, dass er ihnen nicht viel mehr als das Gefühl gab, von ihnen enttäuscht worden zu sein. Sie verließen ihn in Scharen und Robert bedauerte es nicht, wurde ihm dadurch doch bewiesen, dass er die Liebe bei ihnen nicht finden könne. Und diejenigen, die ihn wirklich liebten, wurden über kurz oder lang von ihm verlassen. Es war einfach nicht möglich, ihn so zu lieben, wie er es sich vorstellte.

Ein ums andere Mal sah Robert seine idealisierte Liebe nicht angemessen erwidert. Von Zeit zu Zeit kam ihm der Gedanke, dass er sich womöglich falsche Vorstellungen machte. Er ging in sich und versuchte endlich die Worte zu finden, die auszudrücken vermochten, was er wirklich fühlte. Doch bis auf wenige scheinbar passende Phrasen wollten sich keine Erfolge einstellen. Es half ihm auch nicht, darüber mit Freunden zu diskutieren, und auch die Mädchen, denen er sein Herz zu öffnen bereit war, verstanden ihn nicht und brachten ihn nicht weiter.

Je länger er jedoch seiner ominösen Idee der Liebe hinterher jagte und je weniger er sie zu fassen bekam, desto stärker wuchs sie heran und beanspruchte das Königreich seines Herzens exklusiv für ihre uneingeschränkte Regentschaft. Obwohl Robert das entstehende Missverhältnis zwischen seiner ständig unfassbarer werdenden Vorstellung der Liebe auf der einen Seite, und der Belagerung und Einnahme seines Herzens durch dieselbe auf der anderen Seite nicht verborgen blieb, fand er keinen Ausweg aus diesem Dilemma. Und es wurde noch schlimmer: regelrecht versklavt durch diese Liebes-Idee, die sich in ihm eingenistet hatte und aus seinem Herzen langsam eine Schlangengrube machte, verlor er nach und nach die Fähigkeit, eine andere Liebe, die Liebe anderer Menschen, anzuerkennen.

Sprosse um Sprosse erklomm er eine Leiter der Enttäuschungen. Jede Sprossen symbolisierte eine Frau. Stufe um Stufe verweilte er kurz und prüfte, ob er nicht die Liebe finden könnte, nach der ihm so sehr verlangte: eine selbstverständliche, bedingungslose, an nichts gebundene Liebe; eine durch nichts als sie selbst hervorgebrachte Liebe; eine Liebe so voraussetzungslos, tief und unergründbar wie die Liebe zweier smaragdgelber Kartoffelackerweizenfeldsteine und genauso unerklärbar und geheimnisvoll. Doch wie sollte er solch eine Liebe erkennen?

Dann, als ihm das Wesen der Vorstellung seiner Art der Liebe zumindest teilweise klar wurde, stöhnte und seufzte er resignierend in einen Windhauch, der rein zufällig gerade in der Nähe war, ihn umwehte, und der, ob er wollte oder nicht, diese verzerrten Klänge, Töne, oder was auch immer für Geräusche das waren, mit sich in die Ferne trug. Denn Robert hatte erkannt, dass das, was er für seine Liebe hielt, weder Augen, noch Stimme, noch Ohren besaß: sie sah nicht und wollte nicht gesehen werden, sie sprach nicht und wollte nicht angesprochen werden, sie hörte nicht und wollte nicht angehört werden.

Das also ist die wahre, reine Liebe, sinnierte er eines schönen Tages, die sich getrennt, losgelöst, befreit hat vom Geschwätz der Allgemeinheit, von all den Dummheiten, die jemals über sie gedacht, gesagt, oder geschrieben worden sind, und die von allen sie nur unzureichend beschreibenden, charakterisierenden und auch intentional verwendeten Begriffen, die die Menschheit jemals verwendet hat, um ihr beizukommen, doch nicht erfasst, erklärt, oder gar korrumpiert werden kann. Wenn man das Wesen der Liebe erkannt hat, sagte sich Robert an diesem schönen Tag, dann hat man gar nichts verstanden, und man hat alles verstanden, wenn man rein gar nichts verstanden hat.

*

Wie verwirrend Roberts Gedanken auch gewesen sein mögen, sie sind gerechtfertigt, weil sich vermutlich jedes heranwachsende Menschenkind Gedanken über die Liebe macht. Und Robert tat nichts anderes. Oder doch? Ja, vielleicht . . . aber nur vielleicht . . . und ich muss gestehen, ich bin mir nicht sicher. Schon längst ist mir der leise Verdacht gekommen, dass es gar nicht Robert war, der zu verstehen versuchte, wie seine Liebe beschaffen war. Hin und wieder kommt mir der Gedanke, dass Roberts Liebe auf der Suche nach ihrem Wesen ihn dazu benutzte, sich zu erkennen. Vielleicht erinnern Sie sich an Pauls Seele, die, um sich der schwersten Last für den Moment zu entledigen, ihn als Werkzeug benutzte, als Mittel zum Zweck, der – in diesem Augenblick nicht Herr über sich selbst – nicht wusste, was er tat, einen Befehl ausführte, den er als solchen nicht einmal erkannt hatte, einen Stift nahm und siebenundzwanzig Worte in vier Versen zu Papier brachte.

Dieser Vergleich verdeutlicht die Vermutung, Roberts Liebe habe ihn für sich auserkoren, kontrolliere ihn, beherrsche ihn, zwinge ihm ihr Wesen auf, habe ein Eigenleben entwickelt, sich verselbständigt, sei sozusagen autonom, unabhängig, frei, stärker und mächtiger als er; zufällig ausgerechnet in ihn hineingelangt (unbemerkt, heimtückisch vielleicht, hinterhältig, auf jeden Fall im Verborgenen), hauste sie nun in seinem Herz, nistete in seiner Seele . . .

. . . die Liebe die Liebe die Liebe . . . und Robert brauchte Jahre, bis er verstand, bis er seine Liebe verstand, sein Leben, also sich selbst, und es ihm gelingen sollte, vor einen Spiegel zu treten, sich zu betrachten und plötzlich in eine Metapher verwandelt zu sehen, für die er den wunderschönen Namen daneben fand. Aber bis dahin ist noch so viel Zeit . . . muss noch so viel geschehen . . . muss ein Satz (Heirate nicht die Erstbeste!) aus den Tiefen der Vergangenheit den Weg zurück zuerst in sein Gedächtnis finden . . . dann in sein Bewusstsein . . . muss immer wieder gedacht werden . . . muss weitere modrige Fetzen toter Augenblicke ins Jetzt zurückholen . . . stinkende Sekunden aus dem gurgelnden Morast grünschimmernd verwesender Ereignisse in den Schlamm des Heute ziehen . . . was niemand jemals wollen kann . . . auf das sich vermischen und untrennbar vereinigen zu einem abscheulichen Gebräu die Erinnerungen des Kindes und die ungewollten Erfahrungen des Heranwachsenden und die desaströsen Erkenntnisse des Robert, der sagte, die Prinzen seien bei den Prinzessinnen . . . des Robert, der vor lauter Liebe nicht bemerkt hatte, wie seine wahre, tiefe . . . wie die eine einzige Liebe sich in saure Milch verwandelte, gelb in seine Augen spritze und so für immer seinen Blick verdarb . . . ja die Liebe die Liebe die Liebe die ungeliebte Liebe . . . unerwidert . . . unverstanden . . . un . . . un . . . un . . . (Vorsilben enthalten bisweilen mehr als einen Hinweis auf die potentielle Grausamkeit der ihnen anhängenden Worte)

Eine Geschichte über rein gar nichts

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