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Erwachen

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Der Schlaf eines Menschen kann beeinflusst durch verschiedene Umstände so tief und fest sein, dass mitunter Tage vergehen – in besonderen Ausnahmefällen sogar Monate oder Jahre –, bevor er wieder erwacht. Auch gibt es vollkommen verschiedene Arten von Schlaf, deren Bandbreite sich vom gewöhnlichen Schlaf bis zu einem speziellen Zustand erstreckt, der am treffendsten mit der Bezeichnung Nicht-Wach-Sein umschrieben werden kann. Kein Sonnenstrahl, der an der Nase eines Menschen kitzeln mag, der einen derartigen Schlaf schläft, vermag diesen in den Wachzustand zurückzuführen. Und so machtlos die Sonne in diesen zugegebenermaßen recht seltenen Fällen selbst am allerschönsten und lichtdurchflutetsten Sommertag ist, dessen Helligkeit trotz allem nicht genügen wird, das wirkliche Erwachen-Wachsein durchzusetzen, damit ein jeder den Glanz und die Pracht des Tages genießen darf, so machtlos ist sie auch im gegenteiligen Fall, wenn es einem Menschenkind ankommt, noch vor aller Zeit die verschlafenen Äuglein zu öffnen, zu denken, nun aber einmal die Sonne gehörig zu foppen und nicht zu warten, bis sie ihre Strahlen zur Erde hinabwirft, der vielmehr den eigenen Schlaf mutig abschüttelt, obschon die Müdigkeit sich festklammert und mit Nachdruck ihr Recht fordert.

Tania steht am Fenster des Zimmers, in dem sie seit einigen Tagen lebt. Nebenan befindet sich das Zimmer ihrer Cousine Susanne und außerdem leben mit ihnen zwei jungen Männer in der Wohnung; sie alle sind Studenten.

Sie steht ungewöhnlich lange am Fenster und beobachtet das langsame Sterben der Nacht. Ruhig und gelassen sieht sie zu, wie die Nacht ihre Schwärze ausblutend nach Westen fließt. Da kann man nichts machen!, denkt sie und ist froh, dass es Dinge gibt, die einfach passieren, die kein Mensch ändern kann, für die folglich niemand verantwortlich ist und um derentwillen niemand befürchten muss, weder Rechenschaft ablegen zu müssen, noch ein schlechtes Gewissen zu bekommen.

Diesen und ähnlichen Gedanken folgend blickt Tania noch immer zum Fenster hinaus. Langsam erhebt sich am Horizont die Dämmerung, ohne dass der erste Sonnenstrahl auch nur zu ahnen wäre. Sie findet es schön, in die Nacht zu sehen und zu wissen, dass es schon gar nicht mehr wirklich Nacht ist; sie ist fasziniert von diesem Zustand, für den sie keinen Namen findet, von diesem unheimlich zerbrechlichen Moment, in dem Nacht und Tag zu ungleichen Teilen vereint sind, die sich ständig verändern. Sie liebt diese Augenblicke des Wandels, sie fühlt sich ihnen merkwürdig verbunden, sogar verwandt. Ach!, wie gerne wäre sie nichts anderes als Wandel und Veränderung! Alles und Nichts sein zu können, wünscht sie sich, und zwar gleichzeitig, nur nichts Festes, Statisches, Beschreibbares . . . ; sie würde nur die Augen schließen müssen, um beim Öffnen zu einem Wesen geworden zu sein, dass sie sich gerade vorgestellt hat.

Angenehm warm war die frühe Morgenstunde ungeachtet des erbitterten Kampfes zwischen Licht und Dunkel. Eine leichte Hose, ein T-Shirt, eine dünne Jacke und Stoffschuhe genügten ihr, um sich so früh in die Schlacht zu werfen. Das Sterben der Nacht störte sie nicht, ebenso wie ihr die Geburtsschmerzen des in den Wehen liegenden Tages keine Ehrfurcht einflößten. Zum Himmel emporblickend erkannte sie die Kampflinie dort, wo sich am Horizont in unruhigen Wellen sanft die Dämmerung ins Schwarz schob. Sie war froh, dass sie daran nicht beteiligt war, dass all das nichts mit ihr zu tun hatte. In diesem Augenblick fühlte sie sich frei. Keine Kämpfe mussten austragen werden. Diesmal wäre sie nur Beobachterin.

Mit wohltuender Frische füllten sich sofort ihre Lungen, als sie auf die Straße trat. Eine Prise Freiheit ströme mit jedem Atemzug in sie hinein, dachte sie und meinte, dass sie die Freiheit in der Tat schmecken könne. Doch dem nicht genug atmete sie die Freiheit nicht ungenutzt wieder aus, vielmehr gelangte sie auf dem selben Weg wie der Sauerstoff in die Blutbahn und von dort in jede Zelle ihres Körpers. So stand sie in dieser Herrgottsfrühe, durchströmt von Freiheit, mitten auf dem Gehweg vor dem Haus, in dem sie nun lebte, und kämpfte gegen einen leichten Schwindel, für den die eingeatmete Freiheit verantwortlich war, weil sie verhinderte, dass genügend Sauerstoff in ihr Blut gelangte. Es ging ihr wie allen Menschen, die vom süßen Rausch der Freiheit übermannt werden. Ein wenig taumeln sie, jedoch nur innerlich, sie fühlen sich unsagbar leicht, doch stehen auf festem Boden, sie wollen nichts anderes als Tanzen und genießen diese seltenen Momente am liebsten allein bevor sie ihr Glück mit der ganzen Welt teilen.

Unschlüssig vor ihrem neuen Zuhause stehend, fragte sie sich, was sie eigentlich vorhabe. Erst da bemerkte sie, dass sie das nicht wusste, ebenso wenig wie sie hätte erklären können, warum sie so früh am Tage bereits auf den Beinen war. Doch um nicht schon wieder ins Haus zurückkehren zu müssen, beschloss sie, einen kleinen Spaziergang zu machen.

Tania lief ziellos durch wohlbekannte Straßen. Sie wusste nicht, woran es lag, ob an ihr, ob an der Dämmerung, oder ob an der mit Freiheit gefüllten Luft, dass es ihr vorkam, als würde sie sich in einer anderen Stadt befinden. Eine Art Zwillingsstadt müsse es sein, wie sie meinte, denn natürlich wanderte sie durch die Stadt, die sie kannte, die so war, wie sie immer war. Identisch mit gespeicherten Bildern in ihrem Gedächtnis waren die Gebäude, die Straßen, die Plätze, der Park. Das, was ihr so anders vorkam, war dieses unerklärbare Gefühl, das auf sie warf ein Jetzt, ein Frei, ein Ich, ein Neu, von dem man unweigerlich überfallen wird, wenn man sich zum ersten Mal in einer wunderschönen und berühmten Stadt befindet, das sich jedoch ebenso mühelos nichtsahnender Menschen zu bemächtigen weiß, in deren Leben gerade etwas überaus Bedeutendes vor sich geht und sie vorübergehend immunisiert gegenüber Altbekanntem. Oder anders ausgedrückt: oftmals ist das Verhältnis Mensch und Stadt von Gefühlen geprägt, von Stimmungen, Launen und Eindrücken; auf ihre Weise fühlt sich jede Stadt anders an und genau das ist es, was Tania gerade erlebt: eine Stadterfahrung ihr unbekannter Art. Dieses Gefühl also war es, das es ihr erlaubte, ihre Stadt durch die staunenden Augen eines Menschen zu sehen, der sie zum ersten Mal erblickt.

Tania lernte ihre Heimatstadt noch einmal kennen. Es tat ihr gut, all die bekannten Häuser, Geschäfte, Plätze und Straßen in Ruhe zu betrachten und in ihren Gedanken zu begrüßen. Doch als sie an ihrem alten Kindergarten vorbeikam, den sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, konnte sie ihn auch an diesem Morgen nicht erblicken. Er war schlicht und ergreifend weg, wie vom Erdboden verschluckt. An der Stelle, wo er einst gestanden hatte, befand sich ein großer, mit vielen verschiedenen Geräten sowie einem Sandkasten ausgestatteter Spielplatz. Kein Kindergarten mehr . . ., dachte sie und es kam ihr so vor, als habe man nachträglich ihre Kindergartenzeit ausgelöscht. Die Erinnerungen an ihre Kindheit waren untrennbar mit dem Gebäude verbunden, in das sie eines längst vergangenen Tages von ihrer Mutter gebracht worden war. Doch nun existierte es nicht mehr. Seit wann eigentlich, und warum? Sollte sie das als eine Art Entschuldigung verstehen? Eine Wiedergutmachung dafür, dass es für die Mutter die Möglichkeit gegeben hatte, ihre Tochter wegzugeben? Und warum erst jetzt, fragte sich Tania, warum so spät, wo diese Jahre doch längst hinter mir liegen? Nun nützt es mir auch nichts mehr, dass ein Spielplatz den Kindergarten ersetzt. Was soll mir das sagen? Etwa, dass ich nie im Kindergarten gewesen bin oder dass der Kindergarten, ob mir das nun gefällt oder nicht, nie etwas anderes als ein Spielplatz gewesen ist?

Bei diesen Gedanken wurde sie auf diejenigen wütend, die den Kindergarten heimtückisch in einen Spielplatz verwandelt hatten. Sie meinte, dass ihre Erinnerungen dadurch manipuliert werden sollten. Es war ja nicht so schlimm, sollte ihr der Spielplatz einreden und usurpierte die ‚du kannst mir nicht entkommen’ Region in ihrem Gedächtnis, die dem Kindergarten und allen anderen Institutionen vorbehalten war. Sie wollte sich nicht täuschen lassen! Die Tatsache, dass das Gefängnis ihrer Kindheit nicht mehr existierte beziehungsweise sich ihren Augen höhnisch grinsend nun als ein Ort der reinen Freude präsentierte, konnte die Wahrheit nicht verschleiern. Merkwürdig!, dachte sie, wie ein kleines Fleckchen Erde seine Identität wechseln kann. Für mich war es eine unbegreifliche Hölle und heute kommen Mütter mit ihren Kindern zum Spielen hierher. Die Mütter bleiben und gehen nicht weg. Vielleicht haben sie einen Apfel oder Kekse für die Kleinen dabei, die sie ihnen geben können, wenn sie Hunger haben. Auf jeden Fall gehen sie nicht ohne ihre Kinder nach Hause. Wie schön das ist! Aber warum sträube ich mich so sehr dagegen, den Kindergarten nicht einfach zu vergessen, wo es ihn doch nicht mehr gibt? Warum ärgert es mich, dass er weg ist, warum genügt mir meine Erinnerung nicht? Es ist doch eine Chance, die ich vergehen lasse. Da reißt man das Gebäude ab, setzt etwas Schönes an seine Stelle und ich ignoriere die Gelegenheit, mich mit meiner Kindheit zu versöhnen! So vieles hat sich in den letzten Tagen verändert. Ist es denn ein Zufall, dass ich ausgerechnet heute bemerke, dass ein Symbol meiner Kindheit von Grund auf sein Wesen verändert hat?

Diesen und weiteren Gedanken nachgehend verging für Tania die Zeit wie im Flug. Nach ungefähr zwei Stunden, die ihr wie Minuten schienen, war sie wieder in ihrem neuen Zuhause angekommen.

»Du bist aber schon früh auf.«, bemerkte Susanne, als sie Tania in der Küche fand, die zeitungslesend am gedeckten Frühstückstisch saß. »Hast du was vor?«

»Nein.«, antwortete Tania. »Ich war wach und konnte nicht wieder einschlafen.«

»Oh! . . . Es gibt ja endlich mal wieder frische Brötchen und Croissants, wie ich sehe. Es war also doch kein Fehler, dich einziehen zu lassen. Aber damit du es weißt, das wird jetzt jeden Morgen von dir erwartet.«, sagte Susanne lachend.

Tania entgegnete, dass sie keine falschen Erwartungen wecken wollte und dass es wahrscheinlich schon morgen wieder Müsli zum Frühstück geben werde.

»Ach, wie schade! Allein der Anblick frischer Brötchen ließ mich kurze Zeit träumen, und dazu ihr Duft erst! Ja, das hat gewisse Erwartungen geweckt. Aber mal im Ernst: ist alles in Ordnung?«

»Ja doch!«, antwortete Tania und fragte erstaunt ob des Untertons in Susannes Stimme: »Was soll denn nicht in Ordnung sein?«

»Ach, ich frag nur.«, entgegnete sie.

»Na dann ist ja gut. Schön, dass ich dich beruhigen konnte.«

»Wie lange bist du eigentlich schon wach?«, fragte Susanne weiter.

Daraufhin schaute Tania von der Zeitung auf, legte sie aus den Händen und sagte: »O.k., ich bin schon verdammt lange munter. Und wie ich bereits sagte, liegt das daran, dass ich nicht schlafen konnte. Aber worauf willst du hinaus? Sag es doch einfach, denn ich lese gerade einen interessanten Artikel.«

»Sei doch nicht gleich so gereizt!«, antwortete Susanne. »Ich habe mitbekommen, wie du mitten in der Nacht die Wohnung verlassen hast. Das war vor Stunden, wenn ich mich nicht irre. Was hast du denn um die Zeit gemacht? Wo warst du?«

»Also, liebe Frau Mama!«, erwiderte Tania spöttisch. »Es besteht keinerlei Grund zur Sorge. Ich habe einen ganz und gar ordinären Spaziergang unternommen, bei dem sich rein gar nichts Ungewöhnliches zugetragen hat, sieht man einmal davon ab, dass das Ergebnis meines geheimnisvollen Unternehmens diese frischen Brötchen sind, die ich, wie ich zugeben muss, aus dem Zwielicht auf noch zwielichtigeren Wegen als sozusagen heiße Ware hierher geschmuggelt habe. Gerne kannst du sie als Beweisstücke A-G gegen mich verwenden. Wenn du sie jedoch aufisst, was ich dir aus nicht gerade uneigennützigen Gründen sogar empfehle, werden sie dir nichts mehr nützen und obendrein sind sie sowieso schon längst nicht mehr heiß.«

»Ja ja ja!«, lachte Susanne. »Mach dich nur über mich lustig. Ich dachte nur, dass du dich, wie soll ich sagen?, vielleicht unwohl fühlst.«

»Wieso sollte ich mich unwohl fühlen? Warum? Könntest du bitte zum Punkt kommen?«, forderte Tania mit Nachdruck.

Und Susanne antwortete, dass sie sich ganz bestimmt merkwürdig fühlen würde, wenn sie sich von ihrem Freund trennen und aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen würde. Derartige Schritte könnten ihrer Meinung nach nicht spurlos an einem Menschen vorüber gehen.

»Also daher weht der Wind.«, sagte Tania. »Weil du denkst oder weißt, dass dich sowas emotional mitnimmt, projizierst du deine, einer solchen Situation entsprechenden Gefühle auf mich und meinst, es ginge mir, um es mal klar auszudrücken, mies. Berichtige mich bitte, wenn ich dich falsch verstehe.«

»Nein, nein.«, antwortete Susanne. »So in etwa hab ich das gemeint.«

»Also!«, fuhr Tania fort: »Erstens geht es mir gut und zweitens bin ich noch mit Paul zusammen. Haben wir denn nicht darüber gesprochen?«

»Haben wir.«, antwortete Susanne. »Und ich will dich auch nicht nerven, aber so richtig verstehe ich das noch immer nicht.«

»Schon gut. Du nervst mich nicht, wenn du nachfragst, denn immerhin führt mir das die Situation noch einmal vor Augen und ich muss mich mit ihr auseinandersetzen. Es nervt mich aber, wenn du um den heißen Brei herumredest und nicht sagst, was du von mir willst. Wir sind doch verwandt, kennen und verstehen uns gut, wir können doch direkt sein, oder?«, sagte Tania versöhnlich lachend.

»Hast ja Recht.«, erwiderte Susanne in einer Mischung aus verständnisvollem Seufzen und Lächeln. »Hast ja Recht, Cousinchen. Darf ich dir noch eine Frage stellen?«

»Frag doch.«

»Gut.«, sagte Susanne und suchte nach einer geeigneten Formulierung. Dann holte sie tief Luft und fragte: »Und wie soll es jetzt weitergehen? Ich meine, es betrifft ja nicht nur dich, sondern auch Paul.«

»Genau!«, entgegnete Tania aufbrausend. »Da hast du es auf den Punkt gebracht. Paul! Paul! Paul! Wer auch immer durch wen auch immer davon erfährt, es dauert keine zwei Sätze und ich bin vergessen. Verstehst du, was ich meine? Ich werde nicht einmal gefragt, warum wieso weshalb ich ausgezogen bin, und diese Fragen könnte ich verstehen, aber jeder fragt mich, wie sich der arme Paul fühlt, wie es ihm geht und was weiß ich, was ich nicht schon alles gehört habe. Ich hab echt genug davon! Gibt es mich eigentlich auch noch?«

Mit einem derartigen Ausbruch hatte Susanne nicht gerechnet und entsprechend überrascht saß sie regungslos auf ihrem Stuhl. Tania zündete sich eine Zigarette an, stand auf, sah aus dem Fenster und bat Susanne leise um Verzeihung. Dann drehte sie sich um und blickte ihre Cousine an.

»Tut mir wirklich leid!«, wiederholte sie. »Ich wollte nicht laut werden. Wir sind doch nicht nur Cousinen, sondern auch Freundinnen, nicht wahr?«

»Ja.«, antwortete Susanne und schaute Tania fragend an.

»Kann ich mit dir reden? Also, ich meine eher, kann ich etwas loswerden?«

»Natürlich kannst du.«, entgegnete Susanne.

»Ich muss dich aber warnen: es könnte dauern und wahrscheinlich wird es ziemlich idiotisch klingen.«

»Idiotisch?«, fragte Susanne neugierig. »Macht doch nichts. Schieß einfach los.«

»Danke.«, sagte Tania. »Dann werde ich dir eine kleine Geschichte erzählen. Und wenn du keine Lust mehr hast, dem Unsinn zuzuhören, dann kannst du mich jederzeit unterbrechen und ich höre auf.«

»Nein, nein! Ich höre zu.«, erklärte Susanne und nachdem Tania noch einmal tief eingeatmet hatte, begann sie zu erzählen:

»Es war einmal ein kleines Mädchen, das den Namen Tanja trug. Dieses kleine Mädchen verlebte eine wunderschöne Kindheit, bis es von der eigenen Mutter eines Tages in den Kindergarten gebracht wurde. Sie begriff nicht, was die Mutter mit ihr tat und noch weniger konnte sie sich erklären, warum sie es tat. Sie war verzweifelt, konnte ihre Verzweiflung aber nicht ausdrücken. Am liebsten hätte sie getobt, gespuckt, um sich geschlagen und getreten, oder gekratzt und gebissen, um sich zu wehren. Sie war jedoch nicht in der Lage, überhaupt zu protestieren. So musste sie stumm und hilflos hinnehmen, was mit ihr geschah. Vollkommen passiv verhielt sie sich allerdings nicht. Sie unternahm einen Fluchtversuch, der unglücklicherweise bereits an der Tür des Kindergartens endete. Dieser Versuch scheiterte, weil sie nicht wusste, wie sie nach Hause zurückgelangen sollte; sie kannte schlicht und ergreifend den Weg nicht. Die Kindergärtnerinnen hatten davon nichts mitbekommen und hätten sie demnach auch nicht aufhalten können. Tanja aber wurde klar, wie hilflos sie war, sobald sie aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen wurde. Sie dachte oft darüber nach und hatte Angst, weil sie nicht wusste, was man noch alles mit ihr machen würde. Sie konnte nicht abschätzen, welche Überraschungen das Leben noch für sie bereit hielt. Angesichts der Tatsache, von der eigenen Mutter weggegeben worden zu sein, glaubte sie, dass sich derartige Dinge wiederholen würden.

Auf ihre natürlich noch sehr kindliche Art und Weise lernte Tanja das eine oder andere aus dieser Begebenheit. Sie beschloss, aufmerksam zu sein und genau zu beobachten, was um sie herum geschah. Von nun an stand sie ständig unter Strom, was ihr äußerlich, wie sie aus heutiger Sicht und der Meinung verschiedener Menschen über sie folgend sagen kann, nicht anzusehen war. Sie fühlte sich ohnmächtig und ausgeliefert. Und diesen Gefühlen konnte sie nur begegnen, indem sie herauszufinden versuchte, was ihr als nächstes bevorstand. Da sie voraussichtlich nicht würde verhindern können, nach dem Kindergarten in die Schule gehen zu müssen, wollte sie wenigstens darauf vorbereitet sein.

Im Laufe der Jahre erlebte sie nie wieder solch eine böse Überraschung. Sie gab sich neugierig und fragte allen Erwachsenen Löcher in die Bäuche. Man hielt sie für klug, intelligent, wissbegierig und fleißig, nicht wenige waren begeistert von ihr. Doch warum sie so war, erfuhr nie jemand. Tanja konnte mit niemandem darüber reden. Sie begriff zwar schnell, dass dadurch ein falscher Eindruck von ihr entstand, aber das störte sie nicht. Darüber hinaus wurde ihr klar, dass sie eine Rolle spielte, die sie sich selbst auferlegt hatte und dass sie jemanden spielte, der nicht sie war. Als sie das verstanden hatte, und das ist noch nicht allzu lange her, zogen sich ihre Eingeweide zusammen, ihr wurde schlecht und sie musste sich tatsächlich übergeben. Nun verstand sie, dass sie sich einen noch größeren Schock versetzt hatte, als es damals ihre Mutter getan hatte. Indem sie viele Jahre lang alles, aber auch wirklich alles in ihrer Umgebung beobachtet, ausgespäht und so gut es ging analysiert hatte, um auf alle erdenklichen Katastrophen vorbereitet zu sein, hatte sie ganz und gar vergessen, sich mit einem Teil von ihr zu beschäftigen, der das Ich genannt wird. Ständig alles andere überwachend, wuchs sie still und heimlich in sich versteckt und vor ihren eigenen Blicken verborgen heran. Doch sie wuchs und wuchs, unaufhörlich, unentwegt, und eines Tages forderte diese Tanja ihr Recht.«

An dieser Stelle unterbrach sie ihre Erzählung und blickte versonnen aus dem Fenster, während Susanne ihre Cousine anstarrte. Einige Augenblicke später fuhr Tania folgendermaßen fort: »Ja! Es ist wirklich so. Bei Paul auszuziehen und nun hier mit dir und den Jungs zu wohnen, war erst die zweite wirkliche Entscheidung, die ich in meinem Leben getroffen habe. Verstehst du mich? Ich meine so eine richtige Entscheidung, bedeutender und weitreichender, als zwischen zwei, drei, vier oder fünf Apfelsorten im Supermark zu wählen. Das war ich, verstehst du? Ich ganz alleine! Und davor haben mich meine Eltern in den Kindergarten und in die Schule gesteckt. Es war auch ihre Idee, dass ich aufs Gymnasium gehen sollte. Ich kann ein bisschen Gitarre und Flöte spielen, weil sie mir sagten, wie gut es sei, wenn ich ein oder besser mehrere Instrumente beherrsche. Gott!, wie hab ich meine Gitarrenlehrerin gehasst! Ich war so froh, als ich bemerkte, dass meine Eltern keine Wunderdinge von mir erwarteten, so konnte ich einmal im Monat den Unterricht schwänzen; die Lehrerin hat es nicht verraten, hat einfach des Geld genommen. Hätten Vater und Mutter sich ein musikalisches Wunderkind gewünscht, ich wäre es geworden. Doch um mit dieser blöden Ziege nicht noch mehr zu tun zu haben, habe ich immer schlechter gespielt, als ich konnte. Die anspruchsvolleren Sachen habe ich immer allein gemacht.«, sagte Tania bitter lachend.

»Und was noch?«, fuhr sie überlegend fort. »Ach ja! Tanzschule, Fahrschule, Konfirmation! Alles ihnen zuliebe, weil sie es wollten. Und nun das Studium. Dass ich in einer anderen Stadt studiere, kam gar nicht in Frage. Und glaube mir, es ist nicht untertrieben, wenn ich sage, dass ich nur mit größter Mühe und Not verhindern konnte, von Mutter in BWL eingeschrieben worden zu sein. Außerdem musste ich, wie du weißt, während des gesamten ersten Semesters zu Hause wohnen. Dann hab ich gleichzeitig mit meinen Eltern Paul auf deiner Geburtstagsfeier kennengelernt. Er war ihnen sympathisch und seitdem hatten sie sich gewünscht beziehungsweise die Hoffnung geäußert, dass ich mir auch mal wieder einen Freund suche. Das hört sich jetzt bestimmt ziemlich schräg an, aber mit Paul eine Beziehung einzugehen und zu ihm zu ziehen, war auch nicht allein meine Entscheidung . . . Ich kann das nicht mehr!«, sagte Tania nach einer kurzen Pause. »Darum und noch vieler anderer Dinge wegen habe ich momentan große Probleme, auf Wünsche, Bedürfnisse und Erwartungen anderer einzugehen.«

Mit diesen Worten beendete sie ihre Offenbarung. Sie setzte sich und zündete sich eine Zigarette an. Endlose Sekunden saßen sich Tania und Susanne stumm gegenüber. Nach einer Weile zündete Susanne sich ebenfalls eine Zigarette an und sagte: »O.k. Ich muss das erst mal verdauen. Das war mir neu, also deine Sicht auf die Dinge war mir neu. Ich kenne dich anders, ganz anders sogar. Darf ich trotzdem noch eine Frage stellen?«

»Frag einfach!«

»Du hast gesagt, dass deine zweite wirklich eigene Entscheidung war, bei Paul auszuziehen. Du hast auch gesagt, dass es nicht allein deine Entscheidung war, mit ihm zusammen zu sein und bei ihm einzuziehen. Was war denn dann deine erste richtige eigene Entscheidung?«

»Du wirst lachen!«, sagte Tania. »Meine erste eigene Entscheidung habe ich getroffen, kurz nachdem ich mich sozusagen selbst entdeckt hatte. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt in einer echten Krisen gesteckt, war überempfindlich und dementsprechend reagierte ich bisweilen auf kleinste Kleinigkeiten vollkommen überzogen. Während dieser Phase kam ich an einem Tag, an den ich mich nicht mehr genau erinnern kann, von der Uni nach Hause. Paul war nicht da, weil er noch einmal in die Bibliothek musste. Er hatte mir einen Zettel geschrieben, auf dem neben einer Nachricht für mich mein Name stand und als ich ihn las, kam plötzlich eine riesige Wut in mir hoch. Ich war nicht mehr ich, nicht mehr die, die ich doch war, also konnte das nicht mein Name sein. In diesem Augenblick kam auch Paul nach Hause und ohne weiter darüber nachzudenken, was ich tat, ja ohne dazu überhaupt fähig gewesen zu sein, zerriss ich den Zettel, warf ihn ihm vor die Füße und schrie, dass mein Name von nun an bis in alle Ewigkeit mit i statt j geschrieben wird. Der Arme wusste gar nicht, wie ihm geschah, es tat mir auch leid und ich habe es wieder gut gemacht. Meine erste eigene Entscheidung war also, meinen Namen von Tanja mit j in Tania mit i zu ändern.«

»Und was wird deine nächste richtige Entscheidung sein?«, wollte Susanne daraufhin wissen.

»Was für eine Entscheidung muss ich denn jetzt schon wieder treffen?«, fragte Tania erstaunt zurück.

»Irgendwann, schon bald vielleicht, solltest du dir und auch Paul klar machen, ob du mit ihm zusammenbleibst, falls das überhaupt noch möglich ist.«

»Was? Wieso? Wir sind doch zusammen!«, antwortete Tania erregt.

»Meinst du wirklich, dass es so bleiben kann? Ich will dich nicht nerven, aber sei nicht naiv! Für eure Beziehung ist dein Auszug ein Schritt zurück. Das wird nicht folgenlos bleiben.«

»Ich weiß. Aber ich kann nicht anders!«, antworte Tania mit fester, leiser, doch umso entschlossenerer Stimme und fügte hinzu: »Lass uns frühstücken! Ich kann und will jetzt nicht mehr darüber reden.«

Eine Geschichte über rein gar nichts

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