Читать книгу Eine Geschichte über rein gar nichts - Thomas Arndt - Страница 15
Bekanntschaften
ОглавлениеDas Zusammenleben mit Tania gestalte sich für Susanne weniger problematisch als erwartet. Vor Beginn des Experiments hatte sie mit erheblichen Zweifeln zu kämpfen. Sie wunderte sich, über welche dunklen Kanäle Tania in Erfahrung gebracht hatte, dass ein Zimmer zu vergeben war und warum sie ausgerechnet mit ihr die Wohnung teilen wollte. Auch schien ihre stets stumme und in sich gekehrte Verwandte kein ideales WG-Mitglied zu sein, sodass sie ernsthaft in Erwägung gezogen hatte, ihre Bitte mit Hilfe ihrer Mitbewohner zurückzuweisen. Das jedoch brachte die herzensgute Susanne nicht zustande und so unterstützte sie Tania überdies nach Kräften, als es an den Umzug ging.
Letztendlich war es der Blutsverwandtschaft geschuldet, die ihr die Entscheidung, ihrer Cousine das freie Zimmer zu überlassen, erleichtert hatte. Doch selbst als die Tinte unter dem Mietvertrag getrocknet war, konnte Susanne sich lange nicht mit der neuen Situation anfreunden. Tanias Verhalten war in ihren Augen mehr als fragwürdig, nicht zuletzt, weil sie nicht damit einverstanden war, wie sie Paul behandelte, aber das ging sie nichts an, wie sie sich ständig vor Augen hielt.
Kaum war Tania eingezogen, erlebte Susanne die ihr ganz und gar unwirklich anmutende Verwandlung ihrer Cousine. Schon bald musste sie sich angestrengt ins Gedächtnis rufen, dass diese lebensfrohe, aufgeweckte und spontane junge Frau identisch mit derjenigen war, die jahrelang niemanden zu nahe an sich herangelassen hatte. Auch begegnete sie der Streberin, die stets zu den Besten in ihren Seminaren gehörte, öfter mit einer Tasse Kaffee und einer Zigarette in der Küche, als mit einem Buch in ihrem Zimmer. Auch die Tania nachgesagte überdurchschnittliche Intelligenz, die bisher nur allzu leichtfertig und undifferenziert dazu benutzt wurde, ihr merkwürdiges soziales Verhalten zu erklären, wirkte sich nicht negativ aus, sondern erleichterte – von Tania geschickt eingesetzt – die Kommunikation.
Es gab aber noch einen weiteren Grund, der Susanne in Bezug auf Tanias Einzug Bauchschmerzen bereitet hatte. Mit langsamen Schritten nahte der Tag, an dem sie vor knapp einem Jahr Paul ihrer Cousine vorgestellt hatte: ihr Geburtstag. Susanne fühlte sich jedes Mal beklommen, wenn sie daran zurückdachte. Dann war ihr, als entschwinde sämtliche Kraft aus ihren Beinen, sie taumelte, verlor ihren Halt und etwas, das vorher da war, war plötzlich weg und schaffte Raum für etwas ganz anderes.
Sie erinnerte sich genau, wie sie damals ein paar Wochen vor ihrem Geburtstag von Freunden auf eine Party mitgenommen wurde. Dort erfuhr sie, dass ein gewisser Paul Geburtstag feierte. Später am Abend lernten sie sich kennen und verstanden sich von der ersten Sekunde an so gut, dass keiner von beiden den Alkohol als Ursache dafür anerkennen wollte, der an diesem Abend geradezu in Strömen floss. Sturzbetrunken gelang es ihnen, nicht nur nicht ihre Namen und Gesichter zu vergessen, sondern auch ihre Handynummern zu tauschen, die nach mehrmaliger Überprüfung fehlerfrei gespeichert wurden. Danach trafen sie sich hin und wieder. Und eines Abends lud ihn Susanne schließlich zu ihrer Geburtstagsparty ein, ohne zu ahnen, welch für sie unglückliche Entwicklung sie damit in Gang setzte. Zu diesem Zeitpunkt spürte sie bereits ein nur allzu bekanntes Gefühl heranwachsen, dessen sie sich zum ersten Mal bewusst wurde, als er sie eines Tages zur Begrüßung zaghaft umarmte und sie einen Geruch an ihm wahrnahm, der zwar nicht wirklich zu riechen war, der sie aber dennoch in Windeseile einnahm.
Obwohl Susanne klar war, warum sie Paul eingeladen hatte, sich über seine Zusage wie blöde freute und ihn derart mädchenhaft strahlend anlächelte, dass sie vor Scham am liebsten in Grund und Boden versunken wäre, wollte konnte durfte sie diese Klarheit nicht ohne Weiteres akzeptieren und kämpfte einen sinnlosen Kampf gegen ihr törichtes Herz, das, kaum war ihre letzte Beziehung in die Brüche gegangen, nichts Besseres zu tun hatte, als eine neue kleine Verliebtheit auszubrüten, die sich weiß Gott jederzeit ohne ihr Zutun und gegen ihren Willen so mir nichts dir nichts in einen Flächenbrand ungeahnten Ausmaßes verwandeln konnte. Ihr Verstand hielt es nicht für angebracht, schon jetzt eine neue Liebelei zu wagen. Außerdem hatte sie herausgefunden, dass Paul vor nicht allzu langer Zeit seine Freundin verlassen hatte. Sie wusste, dass sich ihr von einem unwiderstehlichen Duft betörtes Herz nicht für solche unwichtigen Nebensächlichkeiten interessierte, und so hoffte sie insgeheim, dass es ihrem Verstand gelingen werde, ein Sandkorn des Zweifels in ihrem Herzen und eins der Vorsicht in ihrer Seele zu platzieren, allerdings nur, um bloß nichts Unüberlegtes zu tun.
Was an ihrem Geburtstag zwischen Tania und Paul geschah, kann Susanne bis heute nicht verstehen. Sie machte als Gastgeberin diejenigen miteinander bekannt, die das nicht selbst tun konnten oder wollten, und zu denen, auf die beides zutraf, gehörte ihre Cousine. Wie nicht anders zu erwarten, saß Tania desinteressiert und – wie es schien – geistesabwesend am Tisch oder stand für eine Weile irgendwo herum, um nichts weiter zu tun, als die Gäste zu mustern.
Susanne konnte sich rückblickend nicht erklären, durch was, wie aus dem Nichts, Tanias Aufmerksamkeit dergestalt auf Paul gelenkt wurde, dass sie den Unbekannten zur Überraschung aller, die bereits mit ihrer Art eigene Erfahrungen gesammelt hatten, ansprach und in ein Gespräch verwickelte. Dabei legte sie eine Natürlichkeit an den Tag, die allen auffiel und nicht mit der Vorstellung in Einklang zu bringen war, die man sich bisher vollkommen berechtigt von ihr gemacht hatte. Wie normal sie doch sein konnte, staunten einige Beobachter. Warum sie sich nicht auch ihnen gegenüber so verhielt, fragten sich andere. Ob Tanias verlorene Zwillingsschwester plötzlich aufgetaucht sei, spekulierten Dritte.
Mehr oder weniger wich sie Paul an diesem Abend nicht von der Seite. In seiner Gesellschaft beteiligte sie sich an Gesprächen jeglicher Art, gleichgültig über welche Themen gesprochen wurde. Und diejenigen, die zum ersten Mal in den Genuss kamen, ein paar Worte mit ihr zu wechseln, konnten nicht fassen, wie sie innerhalb weniger Sekunden ihr Verhalten in einem Maße zu verkehren in der Lage war, das, in physischer Bewegung ausgedrückt, jedem Menschen zweifellos mehrere Male das Genick gebrochen hätte.
Susanne wusste auf das Benehmen ihrer Cousine nicht zu reagieren. Sie registrierte fassungslos, wie sie Paul umgarnte. Und entsetzt darüber, dass er sich das offenbar nicht nur gefallen ließ, sondern auch noch darauf einging und sich aus der Ferne betrachtet äußerst charmant verhielt (um es einmal vorsichtig auszudrücken), konnte sie nur daran denken, dass es ihr Wunsch gewesen war, ein Sandkorn möge das aufkeimende Gefühl ersticken, das, wäre es erst einmal groß genug, ihr wahrscheinlich wiederum nichts als Kummer brächte. Dass dieses Sandkorn allerdings Tania sein würde, damit hatte sie nicht gerechnet.
Nach einer Weile fand sie diesen Vergleich passend. Trocken und hart, meinte Susanne, so sei Tania wirklich. Außerdem lernte sie an diesem Abend Paul von einer ganz anderen Seite kennen. War er denn nicht ihretwegen hier? Und war nicht auch bei ihm eine leichte Unsicherheit, ein wenig Nervosität und Unruhe wahrzunehmen, wenn sie sich miteinander verabredet hatten und noch mehr, wenn sie sich zufällig über den Weg liefen? Jedenfalls, und das muss festgehalten werden, verhielt sich Paul wirklich anders, wenigstens ein kleines bisschen, kaum wahrnehmbar, noch weniger zu beschreiben, doch ganz unbedingt spürbar, fühlbar, ahnbar. Und war es denn falsch, dass sie sich deswegen fragte, ob er nicht auch etwas spüre? Offensichtlich ja!, sagte sich Susanne nun mit aller Strenge.
Wieder fühlte sie sich von ihrem Herzen betrogen. Ohne es bemerkt zu haben, empfand sie längst viel mehr für Paul, als ihr lieb war. Es hatte doch alles so gut begonnen, rief sie sich in Erinnerung. Seit ein paar Wochen kannten sie sich, sie hatten viel miteinander gelacht, Spaß gehabt, gemeinsam Verschiedenes unternommen und ja, Susanne war sicher, dass es sehr wohl eine gegenseitige Anziehung gab.
Gestern Abend noch, als sie an die bevorstehende Party dachte, führte sie sich die vielen Stunden, die sie mit Paul verbracht hatte, vor Augen und stellte sich vor, wie der kommende Abend verlaufen könnte. Und plötzlich kam ihr der einzig richtige Gedanke ganz von allein: morgen würde er sie küssen!
Erstaunt darüber, aber nicht unerfreut, den ersten Kuss erwarten zu dürfen, dachte sie darüber nach, wie schön es sei, diesen Kuss an ihrem Geburtstag zu bekommen. Damit schlösse sich gewissermaßen ein Kreis, wie sie meinte, denn an seinem Geburtstag hatten sie sich schließlich kennengelernt.
Diese Gedanken brachten Susanne verständlicherweise gegen Tania auf. Sie empfand ihr Verhalten heimtückisch, bösartig und demütigend. Wie konnte sie nur so unverschämt vor den Augen ihrer Freunde an ihrem Geburtstag Paul angraben? Tanias Verhalten war eine einzige Beleidigung. Susannes Freunde, zumindest diejenigen, die bemerkt hatten, dass sich zwischen ihr und Paul etwas tat, fanden Tanias Verhalten schlichtweg unmöglich und inakzeptabel. Nicht wenige ereiferten sich, wie schamlos sie sich an Paul heranmachte. Tania jedoch wusste nicht, dass ihre Cousine ein Auge auf ihn geworfen hatte und anstatt sie darüber in Kenntnis zu setzen, zog man es vor, den Stein rollen zu lassen und sie abzuqualifizieren – ein eiskaltes und impertinentes Miststück sei sie.
Susannes Kontakt zu Paul ließ nach ihrem Geburtstag deutlich nach; sie sahen sich weit weniger als in den Tagen zuvor, bis sie sich beinahe vollständig aus den Augen verloren hatten. Von Anfang an beschlich Susanne das Gefühl, Tania sei dafür verantwortlich. Und kurze Zeit später fand sie ihre Vermutung durch das Gerücht bestätigt, Tania und Paul seien zusammen. Sie hatte zwar damit gerechnet, doch trotz der zahllosen Versuche, sich innerlich darauf vorzubereiten und abzuhärten, schlug ihr die Nachricht dadurch, dass ihr Verstand sie von ihrem Herzen ablenkte, so sehr auf den Magen, dass ihr zwei Wochen lang schlecht war und sie kaum einen Bissen hinunter bekommen konnte.
Es sollte Monate dauern, bis sie sich von dem Schock erholt hatte. Da erst legte sich der Groll in ihrer Seele und der nicht versiegen wollende Tränenstrom, der weniger ihren Augen als vielmehr ihrem Herzen entsprang, versickerte irgendwo in ihrem Inneren, wo er die Narben bedeckte, die sich riesigen Schluchten gleich gebildet hatten. Allmählich verwandelte sie sich in die grundgute und fröhliche junge Frau zurück, die sie zuvor gewesen war. Indem sie sich sagte, Tania hätte ganz bestimmt nicht gewusst, wie es mit ihr und Paul bestellt war und nicht einmal sie es ihr im entscheidenden Augenblick hatte sagen können, verflüchtigte sich ein großer Teil ihres Zorns und sie vergab ihrer Cousine tief im Herzen, ohne es ihr freilich jemals zu sagen, wozu genau genommen auch kein Anlass bestand.
Was sie dagegen von Paul halten sollte, wusste sie nicht. Vielleicht hatte sie sich schlicht und einfach in ihm getäuscht und er hatte zu keinem Zeitpunkt mehr als ein freundschaftliches Gefühl für sie empfunden. Immerhin, meinte sie, sei das möglich, auch wenn sie dieser Theorie keinen Glauben schenkte. Sie hätte sich noch viele Gedanken machen können, warum wieder einmal alles so verdammt schief gelaufen war. Glücklicherweise aber gehörte sie zu den Menschen, die unter unangenehme Begebenheiten konsequent einen Schlussstrich ziehen können, sei es auch nur, um sich zu schützen.
Nun, da sie mit Tania unter einem Dach lebte, konnte sie täglich, ja beinahe stündlich die Entwicklung ihrer Cousine zu einer ganz normalen Frau bestaunen. Die Unterhaltungen, die sie mit ihr führte, brachten schon bald zu Tage, warum sie einst so verschlossen gewesen war. Susanne verstand sie in den meisten Fällen sehr gut, sie vollzog ihre Leiden mit einer Intensität nach, die selbst Tania in Erstaunen versetzte. Und ohne die wahren Gründe für Susannes Interesse auch nur zu ahnen, sagte sich Tania, dass es mehr als dumm gewesen sei, wie sie bisher gelebt hatte. Susannes Beispiel zeigte ihr, dass es Menschen gab, mit denen sie über alles hätte reden können. Ihr ewig währendes Misstrauen schien ihr plötzlich unerklärbar und durch nichts zu rechtfertigen. Ermuntert und bestärkt durch das Verständnis ihrer Cousine baute Tania die sie umgebenden Mauern Stein um Stein ab und öffnete sich, um mit ihrer Hilfe die ersten Schritte in einer fremden Welt zu gehen.
Spätestens als Susanne klar wurde, wie wichtig sie für Tania binnen kurzer Zeit geworden war und wie viel diese ihr mittlerweile bedeutete, machte sie sich ernsthafte Gedanken über die vielen unausgesprochenen und unverdauten Erinnerungen, die tief in ihr verborgen lagen. Denn unabhängig von ihrer Blutsverwandtschaft konnte Susanne nicht aufhören daran zu denken, nun mit der Frau die Wohnung zu teilen, die ihr Paul vor der Nase weggeschnappt hatte. Zutiefst verletzt hätte sie ihre Cousine damals lieber in der Hölle gesehen, als sie in Pauls Armen zu wissen. Auch als das größte Herzeleid überwunden war, verursachte bereits der harmloseste Gedanke (doch solche Gedanken sind niemals harmlos!) an Tania oder Paul das Gefühl einer nahenden Ohnmacht.
Oftmals hatte Susanne sich ihre Reaktion vorzustellen versucht, würde sie Tania, Paul oder beiden begegnen. Die Szenarien, die sie sich ausmalte, reichten von gegenseitigem Ignorieren über Grüße im Vorbeigehen, bis hin zu Wutausbrüchen. Da sie also nicht wusste, was geschehen würde, war sie umso verwunderter, was eines Tages wirklich geschah: umweht von warmer Sommerluft und umgeben vom Duft ungezählter Blumen fand sie sich wieder wie sie mit Paul auf einer grünen Wolke tanzte, leicht wie eine Feder, berauscht wie von süßem Wein, und sich windend im rasenden Takt seines Pulses.
Danach sah Susanne Paul nicht wieder. Sie konnte sich nicht erklären, was in sie gefahren war, geschweige denn, was ihn dazu gebracht hatte, zu tun, was sie gemeinsam getan hatten. Ohne eine Entschuldigung zuzulassen, führte sie sich vor Augen, dass sie und Paul Tania betrogen hatten. Fassungslos stellte sie fest, dass es nicht einmal etwas gegeben hatte, was sie als Grund, Ursache oder Auslöser dieses Geschehnisses hätte bezeichnen können. Es war einfach passiert; es hätte nicht sein müssen. In welche Richtung auch immer Susanne ihre Gedanken lenkte, sie fand keine zufriedenstellende Erklärung. Das war doch nicht sie gewesen, wunderte sie sich, so etwas hatte sie noch nie getan. Und doch wurde sie von einer wundersamen Mischung aus Entsetzten und Staunen gepackt, sobald ihr die Leichtigkeit dieser Nacht aus den Nebeln ihrer Gedanken ins Bewusstsein trat; eine Leichtigkeit, in der sie Spuren von Gleichgültigkeit, Verdrängung und Egoismus entdeckte, in der sie daneben aber auch Verlangen, Sehnsucht, Lust und Leidenschaft sah.
In dem Maße, wie sich eine Freundschaft zwischen ihr und Tania entwickelte, entzog sich ihr die Möglichkeit, über das Geschehene mit ihrer Cousine zu sprechen. Schon bald war es für eine Beichte zu spät. Die Tania, die Susanne nun vor sich hatte, glich nicht mehr derjenigen, die sie mit ihrem Freund betrogen hatte. Schnell fand sie die Vorstellung absurd, den Fehltritt zu offenbaren. Nichts passte mehr zusammen, nichts ergab noch einen Sinn. In ihren Gedanken war sie die zugunsten einer anderen Verstoßene, die sich rächte, indem sie den begehrten Mann verführte (dabei hatte sie ihn gar nicht verführt!); sie dachte an Tania und sah in ihr die Ursache ihres Unglücks, die ihr den Mann entrissen hatte, ohne dass sie das gewusst hatte, denselben wieder verließ und ausgerechnet bei ihr Zuflucht suchte, nicht wissend, betrogen worden zu sein; und sie dachte an Paul und warf ihm vor, ihre Gefühle verletzt zu haben, da er, wenn er nicht geradezu ein Tölpel war, hätte spüren müssen, dass sie etwas für ihn empfand; und ganz und gar nicht konnte sie verstehen, warum er, nachdem er sich offensichtlich für sie zu interessieren begonnen hatte, ihr ohne Weiteres eine andere vorzog.
In diesen Gedanken hätte sich Susanne um ein Haar stranguliert. Sie drehte sich im Kreis und wusste, dass der einzige Ausweg darin bestand, mit allen Beteiligten ein klärendes Gespräch zu führen. Davor aber schreckte sie zurück, denn schließlich war Paul vergessen und Tania wurde mehr und mehr zu einer Freundin. Durch sie sollten die Ereignisse dieser Nacht folglich nicht ans Tageslicht kommen.
Merkwürdig ist das alles, dachte Susanne von Zeit zu Zeit. Bei solchen Gelegenheiten versuchte sie sich die Frage zu beantworten, ob sie Tania wirklich nur habe einziehen lassen, weil sie Cousinen waren. Im Grunde genommen waren sie quitt, meinte sie manchmal. Ein anderes Mal kam ihr jedoch der Verdacht, dass sie ihr das WG-Zimmer verschafft hatte, weil die Nacht, in der sie und Paul eins waren, mit der Schwere einer Sünde auf ihrem Gewissen lag. Sie wollte das Geheimnis zwar nicht lüften, doch war es ihr ein Bedürfnis, ihrer von ihr betrogenen Cousine im Stillen zu helfen. Vielleicht war es tatsächlich Mitleid, sagte sie sich dann und wann erstaunt.
Doch auch dieser Gedanke stiftete nichts als Verwirrung. Wer hatte denn mit ihr Mitleid gehabt? Und wie stand es um Paul? Hatte Tania ihn nicht ohne jede Erklärung verlassen? Wie fühlte er sich? Aber hatte er Mitleid verdient? Hatte Tania Mitleid verdient? Hatte sie Mitleid verdient? Schluss damit!, sagte sie sich. Es hatte keinen Sinn, derart darüber nachzudenken. Instinktiv spürte sie, dass sie es anders angehen musste, um zu vernünftigen Gedanken zu gelangen. Doch hatte sie keinerlei Vorstellung davon, wie das zu bewerkstelligen war, wurde doch ihre Denkweise durch die von all diesen Ereignissen hervorgerufene Sicht begründet, die nur schwerlich eine andere zuließ. Gefangen zwischen unregelmäßig wiederkehrenden Gewissensbissen und einer stets inniger werdenden Verbundenheit gegenüber Tania, wusste Susanne sich keinen besseren Rat zu geben, als zu sehen, wie es weitergehen würde.
*
Nach so vielen Jahren zum ersten Mal über ihre Vergangenheit zu reden, öffnete eine Schleuse in Tanias Seele, durch die sich eine Schlammlawine einen Weg bahnte und all das mit sich riss, was sie eben noch daran gehindert hatte, unbefangen mit ihren Mitmenschen umgehen zu können. Nachdem sie sich von der Last all dieses Unrats befreit wusste, putzte sie gründlich ihr Zimmer, in dem es ärger roch als auf einem mit Gülle gedünktem Feld, entsorgte die verdorrten Pflanzen, die allesamt den Pesthauch nicht überstanden hatten und dankte dem Himmel, dass niemand in der Wohnung war, als es passierte. Als sie ihr Zimmer vom gröbsten Dreck befreit hatte, musste sie einsehen, dass sich nicht alle Spuren würden beseitigen lassen. Deshalb entschied sie, den Wänden einen neuen Anstrich zu verpassen, ihre Möbel durch neue Farben etwas aufzufrischen und neue Vorhänge für beide Fenster zu besorgen. Außerdem fehlte noch ein Teppich auf dem kalten Boden und neue Pflanzen, auch brauchte sie Bilder für die Wände, ein paar schicke Accessoires, Bettwäsche, einen kleinen Fernsehapparat vielleicht und Kleidungsstücke aller Art.
Im Spiegel, der ganz in die Nähe der Tür hing, reflektierte die Abendsonne nach getaner Arbeit und tauchte den nicht wiederzuerkennenden Raum in ein angenehm warmes dunkelrotes Licht. Als Tania das letzte Staubkörnchen dem Staubsauger zu sicherer Verwahrung überantwortet hatte, als sie sich und ihr vom Schmutz befreites Zimmer zufällig im Spiegel sah, bemerkte sie beeindruckt, wie die Behaglichkeit ihres neuen Zuhause sich daran machte, die freigelegten Gletscher abzutauen, die unter dem Schlamm gelegen hatten und nun zu Tage gefördert vor ihren Augen lagen.
Das erste Eis schmolz durch die stundenlangen Gespräche mit ihrer Cousine. Einen bis dato unbekannten Impuls folgend, der ihre Zunge wie durch Wunderkraft entkrampfte, fühlte sie sich von diesem merkwürdig schönen Gefühl durchströmt, dass man spürt, wenn man sich beachtet und verstanden glaubt. Für Tania war es nichts anderes als ein schwieriger Lernprozess. Und hätte sich dieser Impuls verbunden mit ersten, wenn auch noch geringen angenehmen Erfahrungen nicht zu einem regelrechten Antrieb entwickelt, der förmlich dazu zwang, immer wieder das Gespräch zu suchen, wäre sie noch längst nicht im Stande, all die Veränderungen zu durchlaufen, die gerade ihr Leben bestimmen und die sie die Welt sehen lassen, wie sie sie bisher nicht gesehen hatte.
Es dauerte nicht lange und Tania pflegte zu ihren beiden männlichen Mitbewohnern ein nahezu ebenso freundschaftliches Verhältnis wie zu Susanne. Doch kaum hatte sie sich in ihrem neuen Zuhause eingelebt, wurde sie von einer ihr unbekannten Neugier schon nach draußen gezogen. Gelockt vom Treiben auf den Straßen fühlte sie das Bedürfnis aufsteigen, inmitten Unbekannter ziellos durch die Stadt zu streifen. Nicht, dass sie noch einmal bereits wiederentdeckte Relikte ihres bisherigen Lebens aufsuchen und erkunden wollte, auch kam es ihr nicht darauf an, die Stadt, die sie ohnehin zur Genüge kannte, noch einmal zu erforschen und kennenzulernen. Wichtig war einzig die Gegenwart anderer Menschen, mit denen sie die Gehwege teilen musste, in die Schaufenster der Läden blickte, oder beim Gemüsehändler auf dem Markt Obst kaufte. All diese Menschen erregten ihr Interesse, wie ihr verwundert auffiel. Plötzlich erschienen sie ihr wie potentielle Freunde. Erhobenen Hauptes schritt sie ihnen entgegen und atmete die selben dreckigen Ausdünstungen in ihre Lungen. In ihr wuchs das Gefühl, dass sie dazuzugehören begann. Eine von ihnen würde sie bald sein und nicht länger ein Fremdkörper, als solchen sie sich rückblickend empfand, der nicht beachtet wurde und selbst nicht beachtete.
An Susannes Seite eroberte sie die Plätze der sommerlichen Stadt, die Cafés, die Mensen, schließlich die Restaurants und endlich auch einige Kneipen sowie diverse Bars, Clubs und Diskotheken. Ihr Leben wurde innerhalb weniger Tage aufregender als je zuvor. Gemeinsam stellten Tania und Susanne fest, als sie nach einer durchtanzten Nacht nach Hause kamen und in der Morgendämmerung noch einen Kaffee tranken, wie sehr sich Tania und damit ihr gesamtes Leben verändert hatten. Und angetrunken wie sie waren, brachen sie darüber in helles Gelächter aus.
Der dumpfe Druck verschwand, der jahrelang auf Tanias Ohren, Augen und Lippen gelegen und sie gezwungen hatte, sich stets ein wenig abseits zu bewegen. An seine Stelle trat das Bedürfnis, etwas zu hören von all den Geräuschen der Welt, etwas zu sehen von all dem, was vor sich ging, und all das zu kommentieren, wozu sie Lust hatte und mit wem sie wollte. Ihr wurde bewusst, wie viel sie in ihrem Leben versäumt hatte. Ihr war zwar klar, dass sie nichts davon nachholen konnte, da sie spürte, dass bestimmte Erlebnisse und Erfahrungen an ein spezifisches Alter gekoppelt waren, doch diese Erkenntnis ließ sich umso leichter ertragen, je deutlicher sie die Möglichkeiten sah, die sich nun eröffneten.
Tanias Lust auf Leben brachte es mit sich, dass sie immer seltener an Paul dachte. Darin lag keine böse Absicht oder der Wunsch, ihn zu vergessen, vielmehr meinte sie, als sie eines Tages feststellte, wie sie sich die Zeit, die sie mit ihm verbracht hatte, regelrecht ins Gedächtnis zurückrufen musste, dass er einfach nicht zu ihrem neuen Leben gehörte, sondern fester Bestandteil und Erkennungszeichen des alten war. Wollte sie sich noch unmittelbar nach ihrem Auszug Gedanken darüber machen, wie es mit ihr und ihm weitergehen könnte, so verflüchtigte sich der pure Wille dazu, je mehr Zeit ins Land ging. Erinnerte sie sich zufällig dann und wann an ihn, so sah sie ihn undeutlich und verschwommen, doch stetig klarer werdend in demselben Kindergarten, in dem sie von ihrer Mutter als kleines Mädchen den Erzieherinnen übergeben worden war, den sie jedoch längst verlassen hatte. Dort sah sie Paul, wie er als erwachsener Mann auf einem viel zu kleinen Stühlchen, an einem viel zu kleinen Tischchen saß und von viel zu kleinem Geschirr sein Mittagessen aß. Hin und wieder lief ihr ein eiskalter Schauer den Rücken herunter, wenn sie dieses Bild vor ihrem geistigen Auge betrachtete, ohne sich sofort von ihm abwenden zu können, denn ihr war, als würde sie der große kleine Paul mit sehnsüchtigen Kinderblicken anschauen. Diese Blicke erweckten den Eindruck, als blicke er sie durch ihre Erinnerung hindurch an. Sie ahnte, dass er wusste, wer sie war und wo er sie finden könne, zumindest sagten ihr das seine Augen und fügten hinzu, dass er auf sie warten werde, bis sie komme, um ihn abzuholen. Einige Male wurde Paul des Wartens überdrüssig, doch vergebens versuchte er, aus ihrer Erinnerung zu entfliehen, da er seine kleinen Kinderschuhe einfach nicht über seine großen Männerfüße bekam.
Tania wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Einerseits erinnerte sie eine kleine, unangenehme Gefühlsregung daran, dass sie Paul eine Erklärung schuldete. Allerdings rief diese recht kraftlose Empfindung nicht viel mehr als ein flaues Gefühl hervor. Andererseits wurde ihr klar, dass dahinter ein Imperativ stand, dessen Ausrufezeichen Paul in der Hand hielt. Auf diese Entdeckung reagierte sie allergisch. Gerade erst hatte sie Freiheit gefunden und begonnen, ein Leben zu führen, wie sie es zuvor nicht für möglich gehalten hatte. Sämtliche Altlasten abschüttelnd und jegliche Fremdansprüche von sich weisend, konnte es ihr einfach nicht gefallen, Pauls Forderung anzuerkennen oder gar nachzukommen, obschon sie an deren Berechtigung nicht zweifelte.
Der Imperativ! – machte Tania wütend – auf sich, auf Paul und darauf, dass alles immer so kompliziert sein musste. Sie verspürte nicht die geringste Lust, mit Paul zu reden. Warum musste sie überhaupt noch an ihn denken, wo es ihr in ihrer neuen Welt doch so gut ging? Für sie bestand nicht die geringste Notwendigkeit, zurückzublicken und etwas zu erklären, was nicht erklärt werden konnte. Es sei schließlich ihr Recht, zu tun und zu lassen, was sie allein für richtig hielt, meinte sie. Es ging um nichts Geringeres als um ihr Leben und sie allein trüge die Verantwortung, wie auch alle anderen Menschen für sich selbst verantwortlich waren. Die wirklich wichtigen Entscheidungen könne einem niemand abnehmen, wie sie vor nicht allzu langer Zeit erst gelernt hatte. Warum also ließ Paul sie nicht auf irgendeinem Wege wissen, dass sie ihm nichts schuldete, ihm gegenüber nicht länger zu etwas vollkommen Absurden verpflichtet war; warum teilte er ihr nicht mit, dass sie frei sei?, fragte sie sich erstaunt darüber, dass er das noch nicht getan hatte. So wäre es für sie beide das Beste, dachte sie. Und außerdem versprach sie sich davon, dass Susanne sich nicht länger Gedanken um Paul machen würde. Es wäre doch sonnenklar, erklärte Tania ihr eines Abends, den Menschen ginge es am allerbesten, wenn sie sich um sich kümmerten und die anderen in Ruhe ließen.
Susanne verstand, was Tania sagen wollte, war aber der Meinung, eine solche Denkweise zeuge von Naivität und zeige ein außerordentliches Maß an Egozentrik. Mit durchaus überzeugenden Gegenargumenten versuchte sie klar zu machen, dass es unmöglich sei, sich Ansprüchen seiner Mitmenschen oder deren Einflüssen gänzlich zu entziehen. Doch ebenso schnell wurde Susanne bewusst, dass Tania der dazu nötigen Erfahrungen entbehrte. Dennoch widersprach sie ihr, wenn es ihr unerlässlich erschien. Im Stillen ahnte sie, dass ihre Cousine das eine oder andere Abenteuer erwarten dürfe, das einige ihrer Ansichten revidieren würde. Und je deutlicher sie erkannte, wie unbekümmert und geradezu einfältig Tania durchs Leben spazierte, desto eher werde sich etwas Seltsames ereignen, glaubte sie. Diese Überzeugung lag in ihren eigenen Erfahrungen begründet.
Tania spürte, dass Susanne sich anschickte, die Rolle einer Lehrerin einzunehmen. Belehrend versuchte sie immer wieder bei verschiedenen Gelegenheiten auf Tania einzuwirken. Diese wiederum verstand es, dezent und geschickt den gut gemeinten Ratschlägen ihres Kindermädchens auszuweichen und deutlich zu machen, dass es ihr lieber wäre, eigene Erfahrungen zu sammeln und aus diesen zu lernen. Tanias Hartnäckigkeit war nicht zu überwinden. Selbst die vernünftigsten Erklärungen, Berichtigungen und Hinweise, mit denen Susanne Tanias denkwürdige Ansichten in bessere Bahnen zu lenken versuchte, fielen nicht auf fruchtbaren Boden. Nicht selten sagte sich Susanne in solchen Situationen, dass Tania ganz und gar entfesselt sei. Wenn sie sich in solchen Momenten all die Veränderungen vor Augen hielt, die ihre Cousine in nur wenigen Tagen umgekrempelt hatten, dann fragte sie sich beinahe ängstlich, wohin das alles noch führen werde.
Tania wirkte auf sie wie ein kleines Schiffchen, dass jahrelang fest am Kai vertaut war. Eines schönen Tages wurde durch einen von was auch immer verursachten Kurzschluss der Motor des Schiffchens gestartet. Volle Kraft voraus stach es in See und konnte von den morsch gewordenen Haltetauen nicht daran gehindert werden. Niemand hatte dieses Ereignis vorausgesehen, weshalb auch niemand sagen konnte, ob das Schiffchen hochseetauglich sei, denn es steuerte geradezu aufs offene, bisweilen stürmische Meer hinaus. Würde die Maschine des Schiffchens den zu erwartenden Anstrengungen genügen? Verrichtete der Kompass gewissenhaft seine Arbeit oder würde er es ins Unglück navigieren? War das Steuerrad zum Manövrieren zu gebrauchen oder gab es nur eine einzige Richtung? Und nicht zuletzt: würde ein Leuchtturm vor möglichen Gefahren warnen oder gäbe es einen Fels in der Brandung, der es aus jeglicher Not erretten könnte? Und vom Gestade blickte Susanne dem Schiffchen nach und sandte ihm einen Gruß nebst allen nur erdenklichen guten Wünschen hinterher. Sie konnte nur hoffen, dass Tania als Steuermann das Ruder fest im Griff behielt.