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Die Einsamkeit der Gedanken

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Niemand begibt sich aus freien Stücken in die Einsamkeit der Gedanken. Es ist wahrlich nicht angenehm dort; es ist ein Ort des Schmerzes, der Kälte, des Verlassenseins. Hier ist der Sitz des Gerichts, das Anklage gegen die eigene Person erhebt, keinerlei Verteidigung anerkennt, erbarmungslos alle Fakten offenlegt und am Ende ein mitleidloses Urteil sprechen wird. In der Einsamkeit der Gedanken wohnt schonungslose Selbsterkenntnis. Und wie jeder Mensch, der einigermaßen bei Verstande ist und dem seine Schwächen klar vor Augen liegen, fürchtete Paul, von sich selbst seines bisherigen Lebens wegen angeklagt zu werden. Doch der Prozess hatte bereits begonnen.

Von Anfang an hatten die meisten seiner Freunde ihm von Tania abgeraten. Sie taten das in teils verletzender und beleidigender Deutlichkeit, die Paul nicht verstand und die ihm vollkommen unangebracht schien. Zwar erreichten sie anfangs dadurch, dass er insgeheim ihre Zweifel ernst nahm, mehr noch brachten sie ihn aber gegen sich auf.

In dem Maße, in dem seine Liebe wuchs, verloren alle Einwände und Bedenken jegliches Gewicht. Er ertrug sie mit der geduldigen Ungeduld des Verliebten, der nichts Hässliches mehr sehen kann. Paul war es leid, vor seinen Freunden seine Beziehung und seine Freundin rechtfertigen zu müssen. Selbst wenn ihre harsche Kritik berechtigt sein sollte – was er keineswegs glaubte –, mangelte es dieser an Respekt gegenüber einem Freund. Außerdem mischten sie sich nach seinem Dafürhalten viel zu sehr in seine Angelegenheiten ein.

Paul war sicher, dass sich seine Freunde in Tania täuschten, und diese Haltung entsprang keiner Trotzreaktion. Er bildete sich ein, sie nach nur wenigen Tagen wirklich zu kennen, während er seinen Freunden vorwarf, sich voreilig eine negative Meinung über sie gebildet zu haben. Er verzieh ihnen dennoch in der festen Überzeugung, sie würden ihrer Irrtümer später gewahr werden, obgleich er guten Grund gehabt hätte, ihnen längere Zeit zu zürnen. Glücklicherweise verlor sich das Thema nach und nach, bis es von niemandem mehr zur Sprache gebracht wurde.

Wie alle von Liebe entflammten wähnte sich Paul im Recht, Tania konnte nur so sein, wie er sie sah. Es war ihm nicht möglich, die Perspektive seiner Freunde einzunehmen. Die Gründe ihrer Ablehnung blieben ihm verborgen.

Pauls Freunden missfiel an Tania, dass sie sich offenbar nicht für sie interessierte. Es war ganz und gar unmöglich, sie im Freundeskreis zu integrieren. Selbst diejenigen, die ihr offen, neugierig und freundlich entgegentraten, brüskierte sie mit einer derartigen Zurückhaltung, die nur auf den ersten flüchtigen Blick an Schüchternheit erinnerte, schon bald verträumt und weltfremd erschien, sich anschließend als gesellschaftsunfähig bewerten ließ, und sich zu guter Letzt als pure Ignoranz entpuppte. Dafür gab es nur eine Erklärung: Tania verabscheute seine Freunde.

Als Paul ihr Frank vorstellte und als seinen besten Freund bezeichnete, genügte ihr ein einziger Blick, um alle seine Freunde abzulehnen. Während es Paul zu Beginn ihrer Beziehung (als Tanias Ruf in der Clique noch nicht ruiniert war) nicht schnell genug gehen konnte, sie in seinem Freundeskreis einzuführen, wurde Tania das Gefühl nicht los, in Gesellschaft dieser Menschen nur ihre Zeit zu verschwenden. Sie hielt sie für langweilig und oberflächlich. Schon bald erfand sie allerlei Ausflüchte, um sich die Abende mit ihnen zu ersparen. Eines Tages erklärte sie Paul rundheraus, dass sie nicht länger willens sei, gemeinsame Aktivitäten mit Lisa, Frank oder wem auch immer zu unternehmen, auf eine Begründung dafür bestand er vergebens. So unbewusst wie unmerklich begann Paul daraufhin, seine Freundschaften zu vernachlässigen. Seltsamerweise war es aber Tania, die ihn geradezu zwang, sich auch ohne sie mit seinen Freunden zu treffen. Im Grunde genommen war es offensichtlich gewesen: die gegenseitige Antipathie zwischen ihr und der Clique.

Die Tragweite dieses Problems hatte Paul nie erkannt, ja nicht einmal geahnt. Tania und seine Freunde waren ihm wichtig. Da er jedoch nicht imstande war, beide Seiten miteinander zu verbinden, gab er seiner Freundin aus verständlichen Gründen den Vorzug.

Tatsächlich störte es ihn vorerst nicht, dass er durch Tania weniger Zeit mit seinen Freunden verbrachte. In seiner blinden Verliebtheit meinte er, sie ganz allein besitzen zu können. Dabei kam ihm eine ihrer wesentlichsten Eigenschaften zu Gute, ihre ureigene Form der Unnahbarkeit. Paul war begeistert, als er bemerkte, dass sie nicht über einen allzu großen Freundeskreis verfügte, obwohl er sich das nie erklären konnte. Sie unternahm außerdem nicht den geringsten Versuch, ihn in ihre Familie einzuführen. Sie lege keinen Wert darauf, erklärte sie ihm eines Tages, als sich ihr Geburtstag näherte und sie es ablehnte, ihn bei dieser Gelegenheit vorzustellen. Paul konnte das nur recht sein. Schließlich war er auf nichts weniger erpicht, als auf langweilige Familienfeiern fremder Familien. Er musste Tania mit kaum jemandem teilen; sie selbst sorgte dafür, dass sein Freundeskreis sie sich nicht einverleibte und die kühle Distanz, mit der sie seiner Familie begegnete, ließ nur wenige gemeinsame Besuche zu.

Wehmütig dachte Paul an diese Zeit zurück. Wie sehr hatte er sie genossen; doch wie sehr hatte er alles missverstanden! Er begriff, dass er sich etwas vorgemacht hatte, als er meinte, Tanias zweifellos starke Neigung zur Zurückgezogenheit mit seiner Anwesenheit ausgleichen zu können, ihr entgegenwirken zu können, in der vollkommen unbegründeten Annahme, dass sie genau das wollte. Er rief sich eine der vielen Situationen ins Gedächtnis, in der er ihr zuliebe auf eine Unternehmung verzichten wollte. Er sah ihr Bild vor Augen, ihre Gesten, er vernahm ihre Worte. Obwohl er wusste, dass Erinnerungen das Vergangene nie so wiedergeben, wie es wirklich geschehen ist, erkannte er etwas Grundsätzliches. Er sah Tania und sich; er wollte bei ihr bleiben, während sie wünschte, dass er geht!

Diese willkürlich ausgewählte Situation verglich er mit weiteren Erinnerungen. Die gerade gewonnene Erkenntnis ließ sich problemlos übertragen. Und Tania als ein Geschenk des Himmels, als ein der Einsamkeit frönender Engel, dessen Weltschmerz – den er sich eingebildet hatte – nur er allein erträglicher machen konnte, verwandelte sich unter dem Verlust alles ihr einst anhaftenden Sakralen in etwas Merkwürdiges, das Paul unverständlich war, obwohl es sehr menschliche Züge trug.

Noch einmal tauchte er in seine Erinnerungen. Wieder stand er Tania gegenüber. Verständnislos schüttelte sie mit dem Kopf und sagte, er solle ganz unbesorgt gehen und sie ein Weilchen allein lassen. Was auch immer er jemals über sie gedacht hatte, was auch immer er gefühlt und empfunden hatte, das alles war falsch und wenn nicht ganz falsch, so doch zumindest verzerrt, sagte er sich und schlug die Hände vor seinem Gesicht zusammen.

In der Vorstellung gefangen, nichts verstanden zu haben, drehten sich seine Gedanken im Kreis. Unzählige auf ihn einstürzende Eindrücke blockierten seinen Verstand, bis das Chaos schließlich in der Frage mündete, ob Tania ihm jemals gesagt habe, dass sie ihn liebe. Er wusste es nicht mehr. Er konnte keine sichere Antwort finden. Unsystematisch durchwühlte er sein Gedächtnis in der Hoffnung, diese Frage positiv beantworten zu können. So sehr er sich jedoch bemühte, im gleichen Maße scheiterte jedweder Versuch. Warum war sie überhaupt mit ihm zusammen?, überlegte er daraufhin. Warum war sie zu ihm gezogen? Warum verließ sie ihn ohne Erklärung und Trennung?

Pauls Abrechnung mit sich selbst in der Einsamkeit seiner Gedanken schritt voran und nahm an Geschwindigkeit zu; seine Gedankengänge wurden sprunghaft und unstrukturiert, vor allem aber steigerte sich die Intensität. Er spürte bereits eine leichte Übelkeit aufsteigen, die sich aller Voraussicht solange steigern würde, bis er sich aus sich selbst heraus auskotzen würde. Sein Innerstes würde nach außen gekehrt werden und wäre schutzlos preisgegeben den peinlichen Fragen seiner Inquisition. Er würde leiden müssen, wie er wusste; doch obwohl diese Art der Katharsis nicht nur quälend, sonder vor allem notwendig war, empfand er ein unsagbar großes Verlangen nach Ruhe und Frieden aufkommen, das sofort erfüllt werden wollte. Es galt folglich, die Gegensätze zwischen peinvoller Selbstreflektion und innerer Harmonie in Einklang zu bringen. Da er nicht zu der Art Mensch gehörte, der sich der Einsamkeit der eigenen Gedanken bis zum bitteren, aber reinigendem Ende auszusetzen vermochte, musste er aller guten Absichten zum Trotz einen anderen Weg gehen. Man isst nicht so heiß, wie man kocht, sagte er sich.

Paul kam ein gutes Stück aus der Einsamkeit der Gedanken zurück, schlüpfte in seine Sportsachen und lief ein paar Runden durch den nahegelegenen Park. Die nun von seinem Körper benötigte Konzentration und Aufmerksamkeit führte dazu, dass sein Verstand den eigenen Gedanken nicht länger nachjagte wie Tieren, wodurch diese ihre wilde Flucht einstellten und sich leichter fassen ließen. Er wollte die wichtigen aus der Masse herausgreifen, festhalten und in eine angemessene Ordnung bringen. Nachdem sich sein Kreislauf durch Anpassung der Atem- und Herzfrequenz sowie durch Erhöhung des Pulses auf das Laufen eingestellt hatte, reagierte sein Verstand wie erwünscht und war nicht länger in der Lage, einen tosenden Sturm im eigenen Kopf aufrecht zu erhalten.

Nun aber geschah etwas, womit Paul nicht gerechnet hatte. Während er seine Runden drehte, verblasste die Erinnerung an Tanias physische Gestalt zusehends, bis sie schließlich in der Hitze des Sommertages in luftigen Höhen entschwand. Übrig blieb von ihr nur etwas ihm vollkommen Unbekanntes, das er nie zuvor wahrgenommen hatte, jedoch den Anschein erweckte, untrennbar mit ihr verbunden zu sein. Intuitiv dachte er an Begriffe wie Wesen, Seele oder Herz, war sich aber nicht sicher, die passenden Bezeichnungen gefunden zu haben. Er fühlte sich unsicher, denn ihm wurde bewusst, solche Termini schon lange nicht mehr benutzt zu haben. Auch konnte er diesbezüglich nicht auf fremde Gedanken zurückgreifen, er fand schlicht keine Beispiele.

Paul wurde schnell klar, dass er in dieser Frage nicht weiter kam. Der physischen Anstrengung wegen konnte er sie leicht beiseite schieben. Ohnehin hatte er sie ursprünglich nicht auf seiner Liste gehabt, ihm ging es um ganz andere Dinge.

Er erinnerte sich an die Geschichte, die Frank erzählt hatte. Offensichtlich habe er falsche Ansichten über die Beziehung der Freunde gehabt, dachte Paul. Und ein von seiner Nase fallender Schweißtropfen riss den Irrtum mit sich, dem er lange Zeit aufgesessen war, dass sie nämlich eine ganz und gar harmonische Beziehung führten. An die Erzählung denkend wurde ihm bewusst, wie gravierend es sein kann, nicht miteinander über Dinge reden zu können, die für das Fortbestehen einer Beziehung essentiell sind, weil es eine geheimnisvolle Macht zu geben scheint, die das verhindert. Was für Aussichten eine solche Beziehung habe, fragte er sich gerade, als sich seine Gedanken ein Stück weiter bewegten und Vergleiche zogen zwischen seiner Beziehung und der der Freunde.

Großer Gott!, dachte er. Haben wir denn jemals über uns gesprochen? Nein!, konnte die ehrliche, doch umso ernüchternde Antwort nur lauten. Sofort wurde Paul der Unterschied zwischen ihm und Frank in diesem Punkt klar. Während Frank die Probleme in seiner Beziehung bekannt waren, hatte er nicht die geringste Ahnung, dass überhaupt etwas im Argen liegen könnte. Der nötige Überblick hätte ihm gefehlt, meinte er. Deshalb waren ihm die Gründe für Tanias Handlungen noch immer unbekannt, deshalb fand er in seinem Gedächtnis keine warnenden Anzeichen, deren Existenz er sich sicher war. Wieder schalt er sich naiv, blind, dumm und bedachte sich mit weiteren ähnlichen Attributen, als er plötzlich an die Tage zurückdenken musste, die er anlässlich seines Geburtstages bei seiner Familie verbracht hatte.

Nicht einmal an seinem Geburtstag hatte Tania sich gemeldet, hatte womöglich nicht einmal an ihn gedacht. War das nicht ein untrügliches Zeichen, dass ihr nichts mehr an ihm lag? Zeigte das nicht in aller Deutlichkeit, was ihre Aussage bedeutete, sie würde sich bei ihm melden? Erst am Sanktnimmerleinstag würde er wieder von ihr hören, dachte Paul; sich etwas anderes einzubilden wäre töricht.

Ebenso bedrückend war die Andeutung seiner Schwester, die Eltern würden möglicherweise in Zukunft nicht mehr unter dem gleichen Dach leben. Erst jetzt, als ihm dies wieder in den Sinn kam, spürte er die ungeheure, niederschmetternde Kraft dieser Hiobsbotschaft. Aufgeregt rief er sich ihre Worte so gut es ging ins Gedächtnis, um die Fakten von ihrer Interpretation zu scheiden. Sie schliefen in getrennten Zimmern und gingen sich so weit wie möglich aus dem Weg. Was sollte er davon halten, fragte er sich. Seiner Meinung nach waren das zu wenige belastbare Indizien, die Spekulationen über eine Trennung gerechtfertigt hätten. Doch sofort kam ihm der Gedanke, dass er diese womöglich ebenso übersehe, wie er auch die Anzeichen nicht gesehen hatte, die Tanias Auszug vorausgegangen waren. Letztendlich war die schiere Möglichkeit einer Trennung der Eltern nicht von der Hand zu weisen. Außerdem musste er sich eingestehen, über die wahren Verhältnisse nicht im Bilde zu sein. Er war weit weg und zu selten zu Hause.

Angesichts dieser Überlegungen beschleunigte Paul unbewusst das Tempo. Der zunehmende Kraftaufwand kompensierte die katastrophalen Aussichten, hielt seine Gedanken im Zaum, bändigte seine quälende Phantasie, indem sein Körper dem Verstand die Energie entzog, die dieser nur dazu genutzt hätte, ihn geradewegs in einen Abgrund zu stürzen. Es gelang ihm, sich die familiäre Situation vor Augen zu führen, wenn auch nur in groben Zügen.

Spannungen hatte es freilich immer gegeben, wie Paul sich ins Gedächtnis rief, und diese reichten viele Jahrzehnte zurück. Vor allem war es die Großmutter mütterlicherseits, die für Konflikte sorgte, auch wenn ihm die Dimensionen des durch sie verursachten Unheils erst spät aufgegangen waren. Als der Großvater sie und aus diesem Grunde auch die Stadt verließ, zog sie das Regiment in der Familie rücksichtslos an sich.

Die Erinnerungen an seinen Opa waren für Paul durchweg positiver Natur und so konnte der kleine Junge lange Zeit nicht verstehen, warum dieser eines Tages nicht nach Hause kam und es auch nie wieder tun sollte. Die Großmutter ließ kein gutes Haar an ihrem Ehemann, beschuldigte ihn, ein hartes Herz sowie grobe Umgangsformen zu haben und überhaupt sei er ein Eigenbrötler und alter Griesgram. In Wahrheit aber hatte er sie verlassen, weil er sie nicht mehr ertragen konnte.

Der Großvater war Tischlermeister und führte einen kleinen Handwerksbetrieb, der später in einem Kombinat aufging. Er war ein angesehener Mann, nicht zuletzt, weil er der Familie sowie Freunden und Nachbarn in jeder Situation zur Seite stand und half, wie und wo er nur konnte. Dennoch hatte die Großmutter nie damit hinterm Berg gehalten, mit ihm eine schlechte Partie gemacht zu haben. Es störte sie, die schmutzige Wäsche ihres Gatten waschen zu müssen, die sie vorher mühsam vom gröbsten Dreck befreien musste. Vor seinen mit was auch immer verschmutzten Händen ekelte sie sich und behauptete, ein guter Chef müsse sauber sein. Eines schönen Tages untersagte sie ihm, sie und ihre saubere Wäsche mit seinen ungewaschenen Händen zu berühren. Überhaupt vertrat sie die Meinung, dass der Schmutz seines Handwerks jegliche von ihm hervorgerufene Annehmlichkeit wenn nicht zu Nichte mache, so doch über die Maßen relativiere. Im Laufe der Jahre versteifte sie sich so sehr in diese Meinung, dass sie den Großvater geradezu boykottierte, wenn es im Haus etwas zu erledigen gab. Und da es das Haus ihrer Eltern war, in dem sie lebten, setzte sie sich durch und duldete ihren Ehemann beinahe nur noch als Gast. Selbst die von ihm nach ihren Vorstellungen und Wünschen gefertigten Stühle, Tische, Bänke und Schränke beförderte sie allesamt nacheinander auf perfide Weise aus dem Haus.

Den wahren Grund für den Exodus der Möbel durchschaute der Großvater erst spät. Mehrmals schon hatte er die merkwürdigsten Schäden beispielsweise an den von aller Welt bewunderten Küchenstühlen behoben, die aus für ihn unersichtlichen Gründen plötzlich aufgetreten waren, als er endlich dahinter kam, wie sie entstanden.

Eines Tages kam er zu ungewohnter Zeit von der Arbeit nach Hause und was er sah, verschlug ihm den Atem. Er überraschte seine Frau, wie sie sich intensiv mit einem gerade instand gesetzten Stuhl beschäftigte, sodass eine neuerliche Reparatur erforderlich wurde. So konzentriert verrichtete sie ihr Werk, dass sie ihren Mannes nicht bemerkte; sie erschrak, als er plötzlich neben ihr stand, sie anschrie und ihr den Stuhl aus den Händen riss. Außer sich verließen noch weitere Schreie seine Kehle, er drohte sogar mit dem Stuhlbein, das sich in seiner Hand abgelöst hatte. Sie erhob sich leise, jedoch keineswegs peinlich berührt, vielmehr durch das Holz in seiner Hand in ihrer eigenen Wut über sein Erscheinen gebremst und blickte ihn stumm an. Über ihr Schweigen in Rage geratend bereitete der Großvater persönlich dem Stuhl ein Ende. Auch die restlichen Stühle entgingen diesem Schicksal nicht, begleitet von Schreien wie »lass nur, ich kümmere mich schon drum«, »siehst du, ich bin schneller und effektiver als du« oder einfach nur »warum?, verdammt noch mal warum?«. Die Großmutter wagte nicht einmal, mit der Wimper zu zucken.

Als der letzte Stuhl zerbrochen auf dem Boden lag und sie noch immer keine Reaktion zeigte, fragte der Großvater resigniert, ob sie auch den Tisch loswerden wolle. Sie schüttelte mit dem Kopf, ihr Mann verließ die Küche. Inmitten von Trümmern stand sie nun, den Tränen nahe und nach einem klaren Gedanken ringend, der nicht kommen wollte. Wer aber zurückkam war der Großvater, doch diesmal nicht allein. In seiner Hand hielt er die langstielige Axt, die schon durch die Luft sauste, kaum dass sie mit ihm die Küche betreten hatte. Und ohne länger als nötig unter der Zimmerdecke zu verweilen rauschte sie kraftvoll nieder und spaltete den massiven Küchentisch mit nur einem einzigen Hieb. Die Axt hatte nicht einmal gewartet, bis irgendjemand die Blumenvase hätte beiseite stellen können, so emsig ging sie ans Werk. Schlag um Schlag wurde das wehrlose Möbel kleiner und kleiner, bis es nicht mehr lohnte, dieser Arbeit weiter nachzugehen. Mit den Füßen stieß der Großvater die Überreste zum Ofen und übergab kleinere Stücke, die bereits durch die Türe passten, sogleich den Flammen.

Einige Minuten kniete er daneben und sah durch die geöffnete Luke dem Feuer zu, wie es die ihm dargebotene Nahrung verschlang; hin und wieder legte er nach. Zur Salzsäule erstarrt stand seine Frau noch immer an Ort und Stelle und wagte sich nicht zu rühren; aus den Augenwinkeln sah sie die Axt neben ihrem Mann. Dem Feuer zugewandt, das Stück für Stück den Tisch verzehrte, fragte der Großvater, ob weitere Möbel aus dem Haus zu entfernen seien, erhielt aber keine Antwort. Nur die Flammen, die um das Holz züngelten, antworteten auf eine Frage, die er ihnen gar nicht gestellt hatte. Sie sagten: »Ihre Ehe ist schon lange gescheitert, und nun ist es auch deine.«

Aus den Überresten von sieben Küchenstühlen gelang es dem Großvater in mühevoller und wochenlanger Arbeit, zwei Stühle herzustellen, die er seiner Tochter und seinem Schwiegersohn zum Hochzeitsgeschenk machte.

Staub und Schmutz waren seit jeher die erklärten Todfeinde der Großmutter. Aufgewachsen in einer Familie, die einst ein florierendes Industrieunternehmen führte und allerlei Kapitalgeschäften nachging, lebte sie in makelloser Sauberkeit bis zum Tag ihrer Hochzeit. Sie hatte nie verstanden, warum ihr Vater so sehr wünschte, dass sie ausgerechnet diesen Mann heiratete, war ihm jedoch folgsam und ergeben. Als er ihr ihren zukünftigen Ehemann vorstellte, war sie sogar ein wenig beeindruckt von seiner gebräunten Haut, seinen starken Schultern und nicht zuletzt von seinen großen und kräftigen Händen. Dem einen oder anderen Gespräch zwischen ihrem Vater und ihrem Bräutigam lauschend, stellte sie befriedigt fest, dass er über ein gewisses Maß an feingeistiger Bildung verfügte. Er kannte sich aus in Geschichte und wusste mit philosophischen Themen umzugehen. Er konnte sich ausdrücken, war gebildet und zeigte Manieren. Einer Hochzeit zwischen der Industriellentochter und dem Handwerker stand somit nichts im Wege. Doch unmittelbar nach den Flitterwochen, als der Alltag der Großmutter das Leben vor Augen hielt, das sie bis zu ihrem Tode führen sollte, entdeckte sie, dass ihr Mann zwar der liebe und nette Kerl war, den sie erwartet hatte, den sie sich jedoch nicht in ihrem Freundeskreis vorstellen konnte, in dem er der einzige Handwerker neben Fabrikanten, Geistesmenschen und Künstlern gewesen wäre, und in dem sich die Gespräche einzig und allein um entsprechende Themen drehten. Ebenso verflüchtigte sich ihre Illusion, dass er nach einem harten Arbeitstag für Zerstreuung solcher Art zu begeistern war.

Eines Tages stand die Großmutter vor dem Spiegel und betrachtete ihren wachsenden Bauch. Sie stellte sich den kleinen Jungen vor, der in ihr heranwuchs und malte sich das Leben ihres Sohnes aus. Sie würde ihm die bestmögliche Erziehung angedeihen lassen und aus ihm einen solchen Mann machen, den sie sich selbst und ebenso aufrichtig allen anderen Frauen als Ehemann wünschte: einen charmanten, gepflegten und kultivierten Mann, unter keinen Umständen einen gewöhnlichen Handwerker. Mit anderen Worten: das offenkundige Gegenteil ihres Mannes.

Sehnlichst erwartet nahte der Tag der Geburt ihres Sohnes. Bald könne sie beginnen, ihre Vorstellungen und Wünsche in die Tat umzusetzen. Doch welch ein Schock traf sie, als die Hebamme ihr mit strahlendem Lächeln den Jungen entgegenhielt und erfreut über die ohne Komplikationen verlaufene Geburt laut verkündete, dass ihr Sohn ein Mädchen sei. Die junge Mutter erlitt auf der Stelle einen Nerven- und Kreislaufzusammenbruch und vergoss, sobald sie wieder bei Bewusstsein war, bittere Tränen über ihr Unglück. Vergebens versuchte sie sich in ruhigen Momenten einzureden, dass kein Leid ihr zugestoßen war; nur hatte sie sich viel zu sehr in die Vorstellung versteift, einen Sohnes zu gebären, dass sie sich nicht über eine Tochter freuen konnte. Nicht einmal einen Sohn konnte er machen, sagte sie sich ohne Unterlass. Damit ihr ein solches Missgeschick nicht noch einmal widerfahren würde, verwehrte sie dem Großvater den ehelichen Beischlaf. Pauls Mutter sollte keine Geschwister bekommen.

Nach der Geburt ihrer Tochter und dem Beschluss, unter keinen Umständen ein zweites Kind zu empfangen, verminte sie ein für alle Mal den Weg zu ihrem Herzen, den sie ihrem Mann einst nur dem väterlichen Willen folgend geöffnet hatte. Diese Minen bargen genug Sprengstoff, um die Ehe zu einem Spießrutenlauf für ihren Mann werden zu lassen und durch deren Einsatz sie dutzende Ehemänner hätte in die Flucht schlagen können.

Allein dem Großvater war es zu verdanken, dass ihr Bund viele Jahre Bestand hatte. Liebevoll kümmerte er sich um seine von der Mutter ungeliebte Tochter und ebenso um seine Enkeltochter, der es nicht gelang, großmütterliche Gefühle zu wecken. Als schließlich Paul das Licht der Welt erblickte, glimmte noch einmal ein starker, aber, wie sich herausstellen sollte, kurzlebiger Funken Hoffnung in ihm auf. Verwundert registrierte nicht nur er, sondern die gesamte Familie, mit wie viel wahrer Liebe und Fürsorge die Großmutter ihren Enkel bedachte. Der Großvater meinte darin ein Zeichen zu sehen, dass ihm sagte, nun endlich wären die schlimmen Jahre vorüber, nun endlich sei die Großmutter wieder zu der Frau geworden, die sie zu Beginn ihrer Ehe gewesen war und die er einmal geliebt hatte; dass er sich jedoch irrte, daran bestand schon bald keinerlei Zweifel mehr.

Dennoch schien es, als sei mit Pauls Geburt der Großmutter sozusagen ein guter Geist geboren worden. Hatte sie sich zuvor ausschließlich um ihre eigenen Belange gekümmert und den Rest der Familie wenn nicht tyrannisiert, so doch wenigstens durch ihre abweisende und überhebliche Art das Gefühl vermittelt, Dummköpfe und Ignoranten zu sein, so sprudelte nun ihre Energie, die sich wie ein Geysir einen Weg bahnte, allein in Richtung des Enkels. Der Erlöser der Familie war erschienen, der durch ihre Hilfe in die Lage versetzt werden sollte, die barbarische Sippe in bessere Zeiten zu führen.

Die Familienmitglieder staunten nicht wenig über die merkwürdigen Launen der alternden Matriarchin, bis sich herausstellte, dass es keine Launen waren, sondern Überzeugungen. In immer stärkerem Maße bemächtigte sie sich des kleinen Jungen, um aus ihm einen Dichter, einen Schauspieler, einen Maler oder Bildhauer zu machen; er sollte ein – wie sie sagte – musisch gebildeter und sensibler Mann werden. Ihre Eingenommenheit für ihn stand in keinem Verhältnis zu der weiterhin wachsenden Abneigung gegen den Rest der Familie. Ihrem Ehemann machte sie wiederholt schwere Vorwürfe, weil er es nicht verstanden habe, die leichteste Sache der Welt zu vollbringen, nämlich einen Sohn zu zeugen. Dass das kein allzu schwieriges Unterfangen sein könne, erkenne man schon daran, dass es selbst ihrem Schwiegersohn geglückt sei, wenngleich sie es für sein Meisterstück hielt und meinte, es müsse ihm viel Mühe gekostet haben. Sticheleien solcher Art waren es, die dem Großvater klar machten, was ihm gründlich, doch ohne wirkliche Schuld misslungen war und warum seine Frau ihn verachtete. All seine zahllosen verzweifelten Anläufe, mit ihr zu reden und sie aus diesem Irrglauben zu befreien, schlugen jedoch fehl. Je mehr er sie drängte, ihn anzuhören, desto schneller verwandelte sich ihre Verachtung in Verabscheuung, Ekel und Hass. Trotz allem blieb der Großvater noch einige Jahre bei seiner Familie, obwohl er wusste, dass es keine Aussicht auf Versöhnung gab. Es sollten die bittersten Jahre seines Lebens werden.

Paul wuchs heran und spürte kraft des untrüglichen Instinkts eines Kindes, dass seine Großmutter, die er sehr mochte, ihn anders behandelte als alle anderen und dass im Gegenzug der Oma mit Vorsicht begegnet wurde. Der kleine Paul konnte sich das nicht erklären und niemand, den er je danach gefragt hatte, gab ihm eine zufriedenstellende Antwort. So verbrachte er eine glückliche Kindheit im Schoße der Familie. Selbst die Großmutter, die ihn zu vereinnahmen suchte so stark es nur ging, spielte ihren Enkel nicht gegen die Familie aus, und so verurteilens- und beklagenswert ihr Verhalten auch oftmals war, sobald es um Paul ging, war sie nicht wiederzuerkennen.

Bevor der Großvater eines Tages die Familie verließ, ging er seiner Frau so weit wie möglich aus dem Weg. Jahrelang kam er nur nach Hause, um nach seiner Tochter und seinen Enkeln zu sehen. Die Trennung von ihnen brach ihm zwar das Herz, doch der unerträglich gewordenen Großmutter hätte er andernfalls irgendwann etwas angetan. Das aber hätte er sich niemals verziehen, jedoch nicht, weil sie es nicht verdient hätte, sondern weil er schlicht der felsenfesten Überzeugung war, dass man keinem Menschen Gewalt antun darf. So gab er nach und richtete sich in seinem Büro im mittlerweile staatseigenem Betrieb illegal häuslich ein, wurde aber von seinen Vorgesetzten und Kollegen geduldet, die dunkel ahnten, in welch prekärer Lage er sich befand. Die Großmutter indes, als sie sich der bevorzugten Zielscheibe ihrer Feindseligkeiten beraubt sah, verschoss ihre Giftpfeile vermehrt auf Tochter und Schwiegersohn. Sie konkretisierte ihre Meinung über den nichtsnutzigen Tölpel und stellte fest, dass dieser unfähige Mensch unmöglich Paul gezeugt haben konnte. Um einen Knaben zu zeugen, brauche es mehr als schlaffe Lenden, dünne, blasse Waden, einen Bauchansatz und eine sich ausbreitende Wüste auf dem Kopf, wie sie nicht oft genug wiederholen konnte. Wahrscheinlich habe Paul einen anderen biologischen Vater, behauptete sie und bestritt fortan vehement jede Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn.

Solche und in ähnliche Richtung weißende Äußerungen konnte Pauls Mutter unter keinen Umständen hinnehmen. Zum ersten Mal setzte sich sie mit allen Mitteln gegen die Mutter zur Wehr und gab ihre Strategie der Verteidigung zugunsten des Angriffs auf. Die ihr vorgeworfene Untreue sprengte endgültig den Rahmen des Erträglichen. Und so kämpfte sie mit ihrer Mutter in gar nicht so übertragenem Sinne bis aufs Blut, sodass ihr Mann sie davon abhalten musste, mit Porzellantassen nach der Großmutter zu werfen, als diese wieder einmal eine ihrer absurden Theorien kundtat.

Während die Frauen miteinander kämpften, versuchte Pauls Vater zu vermitteln. Seine Bemühungen jedoch, seine Frau zu beschwichtigen und seine Schwiegermutter gütlich zu stimmen, konnten nur fehlschlagen. Seine Gattin verlangte nämlich nichts anderes, als dass er bedingungslos zu ihr stand und sie nach Kräften unterstützte. Die Großmutter ihrerseits hatte sich längst in ihrer Meinung über ihn verschanzt und sprach ihm jegliches Mitspracherecht ab. Aus dieser unglückseligen Konstellation gab es kein Entrinnen. Verbunden in einem Kampf, der beide Frauen mehr und mehr vereinnahmte, isolierte dessen Logik jegliche Einflüsse, die nicht zu ihm gehörten.

Verwundert stellte Pauls Vater eines Tages fest, dass er in etwa zwanzig Jahren das Alter erreichte, in dem sein Schwiegervater die Familie verlassen hatte. Dann wäre die Reihe an ihm, er würde es ihm gleichtun.

Desillusioniert hinsichtlich seines Schicksals betrachtete er an diesem Tag auf der Gartenbank sitzend das Haus mit gleichmütigem Blick. Benebelt vom Rauch des feuchten Herbstlaubs des vergangenen Jahres, das er gerade verbrannte, sah er durch die dicken Rauchschwaden wie drinnen der Kampf tobte. Die Schreie, die er zwar nicht hören konnte, doch an den weit aufgerissenen Mündern und den wütenden Gesichtern der Kriegerinnen erkannte, waren ihm längst nur allzu vertraut. Doch etwas anderes fesselte seine Aufmerksamkeit: unentwegt warfen die Frauen prüfende Blicke zu einer bestimmten Stelle im Raum, die er nicht einsehen konnte. Und noch während er sich fragte, was da wohl sein mochte, traten die Rivalinnen je näher an sich heran, je hitziger der Kampf wurde und als nur noch wenige Zentimeter zwischen ihnen lagen, sah er seine Tochter auf der Seite der Mutter kämpfen; sie war noch nicht einmal acht Jahre alt.

Ohne die geringste Gefühlsregung angesichts eines Krieges, der auch vor Kindern nicht halt machte, wurde Pauls Vater bewusst, dass es in diesem Hause solange keinen Frieden gäbe, wie Mutter und Tochter gemeinsam darin lebten. Dennoch machte er sich nichts vor. Keine von beiden würde je lebend das Haus verlassen. Obschon den Frauen klar war, dass sie etwas in Gang gesetzt hatten, dem sie sich nicht entziehen konnten, dass sie einander bekämpften, nur um weiter kämpfen zu können, waren sie nicht im Stande, diesen Krieg zu beenden, sondern versuchten nicht einmal, das Mädchen aus den Gefechten und Grabenkämpfen herauszuhalten.

Zwanzig Jahre noch!, sagte sich Pauls Vater, dann könne er endlich gehen. Seine Kinder wären sechsundzwanzig und achtundzwanzig Jahre alt, vielleicht hätten sie selbst schon Kinder, bestimmt aber würden sie auf eigenen Beinen stehen. Ja!, wenn er in zwanzig Jahren die Familie verließe, wäre es wie damals, als der Großvater ging. Im Lichte dieser Gedanken und nach wie vor benebelt vom Rauch des nassen Laubs stellte er sich vor, wie er bis dahin langsam aus der Familie scheiden werde. Er führte sich die Rückzugsstrategie seines Schwiegervaters vor Augen. Wie sich gezeigt hatte, fand er Mittel und Wege, sich jeweils an den Geburtstagen seiner Enkel, seiner Tochter und seines Schwiegersohns sowie an Feiertagen bei ihnen zu melden und sie sogar manchmal zu sehen, sodass eine gewisse Beziehung bis zum heutigen Tag aufrecht gehalten werden konnte.

Sich weiterhin in der Zukunft betrachtend, stellte Pauls Vater zu seiner Genugtuung fest, dass er immer seltener in der Schusslinie stünde, da er das Wesen des Krieges der Frauen nicht verstand und nicht direkt beteiligt war. Seine Kinder würden heranwachsen und mit der Zeit würde er für sie eine immer weniger wichtigere Rolle spielen. Schritt für Schritt könne er sich unbemerkt zurückziehen, bis er nur noch seine Koffer zu packen und den Weg anzutreten hätte. Nur ein einziges Detail blieb offen: Paul passte nicht in die Familie. Als Liebling aller stand sein Weg in den Sternen und konnte sowohl gut, als auch schlecht verlaufen – aber das konnte nur die Zeit zeigen.

Runde um Runde durch den Park drehend, führte Paul sich all das vor Augen, wobei er sich nicht jedes mehr oder weniger folgenreiche Ereignis detailliert ins Gedächtnis zurückrief, das in den Tiefen seiner Erinnerungen abgespeichert war. Dazu war er auch gar nicht mehr in der Lage, da seine Kräfte zu schwinden begannen. Außerdem hatte er das gar nicht vorgehabt. Ihm war daran gelegen, seine engsten Verwandten und deren Geschichten in einem großen Zusammenhang zu sehen, auf dessen Grundlage er später gedachte, sich den einen oder anderen tiefer gehenden Gedanken hinzugeben.

Beinahe völlig entkräftet beschloss er, den Heimweg anzutreten. Die letzten Meter wollte er nutzen, um die vielen Gedanken, denen er hinterhergejagt war, zu systematisieren. Er hoffte, einen besseren Überblick über seine Lage zu bekommen. Da ihm das Denken nun jedoch sehr schwer fiel, machte er sich lediglich von Neuem klar, was er ohnehin bereits wusste oder wenigstens ahnte: nichts war so, wie es ihm erschien. Zu allem Überfluss hatte er es sich selbst zu verdanken, dass sich die Welt, in der er bisher gelebt hatte, vor seinen Augen in eine andere verwandelte, die sich zwar rein äußerlich von der ersten nicht unterschied, in der jedoch alles eine andere Bedeutung besaß. Und diese Bedeutung konnte Paul nicht nach seinem Willen und seinen Wünschen bestimmen. Nun galt es, sich neu zu orientieren.

Nachdem er in seine Wohnung zurückgekehrt war, einen Schluck Wasser getrunken und geduscht hatte, fiel sein Blick auf das Blatt Papier, auf dem sich vor einigen Tagen siebenundzwanzig Worte verewigt hatten. Zum wiederholten Male las er die Verse und machte sich klar, dass die in ihnen aufgeworfenen Fragen noch immer einer Antwort harrten, denn schließlich habe er in der seitdem vergangenen Zeit keine grundlegend neuen und vor allem unanfechtbaren Erkenntnisse gewonnen. Vielmehr war das Gegenteil der Fall: er sah sich mit Problemen konfrontiert, die ihm jegliche Sicherheit raubten.

Paul stand mit dem Zettel in der Hand im Wohnzimmer und fühlte sich unruhig, verlassen, unsicher. So fühlt man sich, dachte er, wenn fünfundzwanzig Jahre lang alles gut gegangen ist; wenn man überzeugt war, alles unter Kontrolle gehabt zu haben und es keinen wirklichen Anlass gab, etwas Gegenteiliges anzunehmen; wenn dann plötzlich Dinge geschehen, die alles auf den Kopf stellen, wenn man dadurch gezwungen wird, alles anders zu sehen und man bemerkt, dass wirklich alles anders ist und womöglich schon immer war; so fühlt man sich, wenn man nach fünfundzwanzig Jahren redlicher Träumerei zum Sehen gezwungen wird. Schließlich legte er das Blatt auf den Tisch, nahm einen Stift, dachte an Tania, an Frank, an seine Eltern und an die Möglichkeit ihrer Trennung, die ihm – so ahnte er dunkel – weit mehr als nur den Boden unter den Füßen entziehen würde und fügte vier weitere Zeilen hinzu:

Weißt du, ob du noch lachen kannst

Oder würdest du nicht lieber weinen

Fühlst du dich denn wirklich stark

Oder liegst du schon im Dreck

Eine Geschichte über rein gar nichts

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