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Zwanzig Jahre
ОглавлениеZwanzig Jahre!
Zwanzig Jahre schon lebte Tania in dieser Stadt. Hier wurde sie geboren, hier verbrachte sie Kindheit und Jugend und nun besucht sie hier die Universität. Hier lebt sie mit ihren Eltern, deren einziges Kind sie ist. Ebenso leben in dieser Stadt ihre Großeltern. Hier leben ihre Tanten und Onkel, ihre Cousinen und Cousins und beinahe alle entfernteren Verwandten. Hier starben und liegen begraben ihre Urgroßeltern, deren Eltern sowie zahllose weitere Vorfahren. Hier würden sterben und einst begraben liegen auch ihre Großeltern, Eltern und vermutlich die restliche Familie. Schon seit frühester Kindheit gab es für sie keinen anderen Ort auf der Welt, an dem zu leben sie sich vorzustellen vermochte. Ihr ganzes Leben spielte sich in dieser Stadt ab (unterbrochen nur von Urlaub), die ihre Familie vor Generationen in ihrem Schoß aufgenommen und nicht mehr hergegeben hatte.
Geboren wurde Tania in der Deutschen Demokratischen Republik, wenige Jahre vor der Wende; sie war viel zu jung, um den real existierenden Sozialismus bewusst erlebt zu haben. Viel bedeutender als die Wende war für sie, dass sie in dieser Zeit das Alter erreichte, in dem für gewöhnlich Kinder in den Kindergarten gesteckt wurden.
Der erste Tag in dieser Institution war ein Schock für das kleine Mädchen, das nicht in der Kinderkrippe gewesen war. Als Einzelkind und auch weil in ihrer Verwandtschaft und Nachbarschaft gleichaltrige Spielkameraden fehlten, war sie im Umgang mit anderen Kindern sowie generell mit nicht zur Familie gehörenden Menschen kaum geübt. Was sollte sie also davon halten, von einem Tag auf den anderen von der eigenen Mutter irgendwohin gebracht zu werden, wo eine Meute schreiender Kinder herumtobte, eine dicke, freundlich dreinblickende Erzieherin das als Spielen bezeichnete und der Mutter versicherte, es werde der Kleinen schon gefallen? Tania sagte zu alldem nicht ein einziges Wort, jedoch nicht, weil es nichts zu sagen gab, sondern weil sie eingeschüchtert war von dem fremden Ort und der Aussicht, allein zurückgelassen zu werden, dass es ihr schlichtweg die Sprache verschlug. Sie war entsetzt über das hier vor sich Gehende und konnte nicht verstehen, warum die Mutter ihr das antat. An diesem Tag und im zarten Alter von drei Jahren fühlte sie sich zum ersten Mal verraten und im Stich gelassen – wenn man ihre Empfindungen in die Sprache der Erwachsenen überträgt – und diese Eindrücke brannten sich tief in ihr ein.
Als Tania nach sechs endlosen Stunden von ihrer Mutter abgeholt wurde, lobte die dicke Erzieherin das brave Mädchen in den höchsten Tönen. Ganz artig habe sie getan, was von ihr verlangt wurde. Sie habe ordentlich ihren Kartoffelbrei mit Sauerkraut und einer Scheibe Jägerschnitzel gegessen und auch von der Schale Rote Beete sei nichts übrig geblieben. Außerdem habe sie schön gespielt, sei lieb, ruhig und unauffällig gewesen. Sie musste sich sogar einige Male vergewissern, ob Tania überhaupt noch da war, und geschlafen habe sie nach dem Mittagessen wie ein kleines Engelchen. Ja!, von solchen Kindern wünsche sie sich mehr, versicherte sie der stolzen Mutter, und fügte an Tania gewandt hinzu, sich zu freuen, sie am kommenden Tag wiederzusehen.
Tania hörte der dicken Frau zu, ohne sie auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen. Sie wusste es besser und wollte sich nicht verraten: kaum hatte ihre Mutter den Kindergarten verlassen, dachte sie bereits daran, Jacke und Schuhe anzuziehen – denn sie konnte sich bereits ohne fremde Hilfe die Schnürsenkel binden –, ihre kleine Brottasche zu nehmen und nach Hause zu laufen. Als die Erzieherin sich um das Essen kümmern musste und eine Zeitlang abgelenkt war, wollte sie ihr Vorhaben in die Tat umsetzen. Leise schlich sie in den Flur, in dem sich die Garderobe befand, suchte nach Jacke und Schuhen, fand beides und musste zu ihrem Unglück feststellen, dass sie ihre Jacke nicht erreichen konnte, da sie viel zu hoch an einem Haken hing. So suchte sie nach einem Stuhl, einem Hocker oder nach etwas Vergleichbarem, mit dessen Hilfe sie ihre Jacke ergattern könnte, doch außer einer schweren Bank, die sich an der gegenüberliegenden Wand befand und die sie unmöglich alleine bewegen konnte, fand sich kein geeigneter Gegenstand. Still ihre Jacke anblickend überlegte sie kurz, was sie tun sollte und fasste den Entschluss, sie einfach zurückzulassen, für den Nachhauseweg brauchte sie nur ihre Schuhe; auch die Brottasche, die sie – wie ihr dämmerte – einzig und allein für den Kindergarten bekommen hatte, konnte sie entbehren, denn sie hoffte, keinen weiteren Tag hier verbringen zu müssen.
Daraufhin setzte sie sich auf die Bank und zog sich ihre Schuhe an. Sie ließ sich ausnehmend viel Zeit dafür, denn sie legte großen Wert darauf, dass die Schleifen eine regelmäßige Form aufwiesen. Dennoch musste sie die Schleife ihres linken Schuhs noch einmal lösen, weil der Knoten darunter für ihren Geschmack viel zu locker saß. Den rechten Schuh musste sie gar noch einmal ausziehen, da die Strumpfhose darin eine Falte geworfen hatte und sie wusste, wie sehr sie das stören würde.
Sich schließlich über die tadellose Symmetrie der Schleifen freuend ging sie zur Tür, öffnete sie (sie war tatsächlich nicht verschlossen!) und blickte hinaus. Da stand sie nun auf der Schwelle, bereit, den Heimweg anzutreten und wusste nicht, wo sie war. Sie versuchte ein bekanntes Haus zu entdecken, sei es ein Geschäft, in dem sie mit der Mutter schon einmal gewesen war, sei es ein Wohnhaus, in dem die Verwandtschaft lebte. Doch nach wenigen Sekunden wurde ihr klar, dass sie niemals zuvor in dieser Straße gewesen war und nicht allein nach Hause zurück finden würde.
Erstaunlicherweise behielt Tania in dieser unangenehmen Situation einen klaren Kopf. Weder verließ sie den Kindergarten ohne zu wissen, in welche Richtung sie gehen sollte, noch brach sie in Tränen aus, wie es wohl vielen anderen Kindern ergangen wäre. Mit aller Kraft ihres dreijährigen Verstandes beschloss sie angesichts ihrer verzwickten Lage, dass es besser wäre, auf die Mutter zu warten. Erneut setzte sie sich auf die Bank, betrachtete bedauernd einige Sekunden die wunderschönen Schleifen ihrer Schnürsenkel, zog dann die Schuhe aus, stellte sie exakt an die Stelle zurück, an der sie zuvor gestanden hatten, schlich sich anschließend in den Raum, in dem die Mutter sie zurückgelassen hatte und setzte sich auf den Stuhl, der ihr von der Erzieherin zugewiesen worden war, sodass ihr gescheiterter Fluchtversuch unbemerkt blieb. Dort blickte sie abwechselnd auf die Tapete der gegenüberliegenden Wand, auf den Boden, zur Decke und auf vorbeirennende Kinder, bis sie von einer anderen Erzieherin, die sie noch nicht kannte, nach ihrem Namen gefragt wurde.
Der erste Tag im Kindergarten endete zu ihrer Überraschung mit einer kleinen Feier im Haus der Eltern. Als Tania und ihre Mutter daheim ankamen, wartete beinahe die gesamte Verwandtschaft und stellte viele Fragen, um in Erfahrung zu bringen, wie es ihr gefallen habe. Mama hat mich allein gelassen!, dachte sie trotzig, brachte jedoch keine Silbe über die Lippen, da sie an den erfreuten Gesichtern ablesen konnte, dass eine positive Antwort erwartet wurde, die sie aber nicht geben konnte. Eine Weile blickte sie ratlos drein und da sie nichts erwiderte, löste die Großmutter die Verlegenheit. Erste Tage seien immer komisch, sagte sie, weil einem so viel Neues begegne und man sich zuerst daran gewöhnen müsse, bevor man urteile. Sie sei ein kluges Mädchen, ergänzte sie, da sie zuerst nachdenke, bevor sie spreche. Kurzum, die Erwachsenen waren stolz und sprachen ihr gut zu. Im Handumdrehen werde sie sich an den Kindergarten gewöhnt haben und viele neue Spielkameraden finden, und nach drei Jahren warte bereits die Schule auf sie – das werde erst ein Spaß werden, versicherten sie einhellig; Tania fühlte sich immer hilfloser.
An diesem Nachmittag hörte sie den Erwachsenen aufmerksamer zu, als sie es je zuvor getan hatte und kam zu folgenden Erkenntnissen: 1) drei Jahre alt musste sie werden, um in den Kindergarten gesteckt zu werden; 2) drei Jahre müsse sie dort bleiben, um dann 3) in die Schule zu gehen, die ihrer Meinung nach so etwas wie ein anderer Kindergarten war; 4) dort würde sie wahrscheinlich weitere drei Jahre verbringen und 5) ihre Verwandten freuten sich, weil sie von ihrer Mutter einen ganzen Tag lang einfach so weggegeben worden war.
Was sie von alldem halten, wie sie damit umgehen sollte, wusste sie nicht. Bisher war ihre Mama das Zentralgestirn ihres Universums gewesen. Auch wenn sie nicht zu sehen war, konnte Tania sicher sein, dass sie sich ganz in ihrer Nähe befand und wenigstens ihre Stimme hören würde, wenn sie nach ihr riefe. Diese Mutter, die sich immer so liebevoll, geduldig und aufopfernd um ihre Tochter gekümmert hatte, übergab diese dem Kindergarten und freute sich mit den anderen darüber. Tania verstand das nicht. Dachten sie denn wirklich, dass es ihr bei den tobenden, schreienden und kleckernden Kindern gefalle? Ach!, wie wenig sie doch wussten! Nichts wussten sie! Gar nichts! Sie überließen sie der Obhut völlig fremder Menschen und veranstalteten deswegen ein Fest. Was für ein merkwürdiger Anlass!
Als die Erwachsenen Kaffee trinkend und Kuchen essend am Tisch saßen und sich unterhielten, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: ihr Leben, so wie es bisher gewesen war, hatte sich an diesem Tag grundlegend verändert. Niemals mehr würde es so sein wie bisher. Die kommenden drei Jahre müsse sie im Kindergarten verbringen, weil die Mutter sie nun einmal dorthin gebracht hatte und, wie sie vermutete, darauf bestand, dass sich daran nichts mehr änderte.
Tania kletterte auf den Schoß ihres Vaters und betrachtete aufmerksam ihre Mutter; in diesem Augenblick wurde ihr bewusst, dass sie diese Frau, von der sie gestern Abend zu Bett gebracht wurde, nur um sie heute wegzugeben, niemals zuvor so gesehen hatte.
Tania versuchte zu beschreiben, worin der Unterschied bestand, den sie zu erkennen glaubte und ebenso fragte sie sich, ob ihre Augen schlechter geworden wären, da sie viel zu selten ihre Brille aufsetzte und sie vielleicht deshalb ihre Mutter nicht mehr richtig erkennen konnte. Sie wollte verstehen und ausdrücken, was anders war, doch fehlten ihr angesichts ihres Alters die rechten Worte und der dazu nötige Überblick, von Erfahrung ganz zu schweigen. Als sie einsah, dass sie keine Erklärung finden würde, kam sie zu dem Entschluss, dass die Mama ein Gesicht hatte, dass sie kannte und liebte und eins, dass sie nicht kannte und nicht verstand.
Kurzzeitig stolz machte Tania an diesem Tag einzig der Umstand, dass man sie nun für groß genug hielt, eine Tasse Malzkaffee zu trinken. Diese war jedoch über die Hälfte mit warmer Milch gefüllt, von der ihr schlecht wurde, woran auch die vielen Süßigkeiten, die ihr heute nicht verwehrt wurden, nichts änderten. Die Erwachsenen aber hörten nicht auf, sich vollkommen törichte Dinge über sie und den Kindergarten zu erzählen. Tania wunderte sich, warum allesamt so viel Unsinn reden durften, wo sie doch oft genug ermahnt wurde, derartiges zu unterlassen; und zu allem Überfluss schienen sie von ihren Worten auch noch überzeugt zu sein.
Erwachsene sind komisch, dachte sie und konnte selbst ihre Mama nicht davon ausschließen, worüber sie sehr traurig war. Wie gerne hätte sie ihr oder zur Not auch jemand anderen mitgeteilt, dass ihr der Kindergarten überhaupt nicht gefalle, doch eine Stimme in ihr sagte, dass niemand sie ernst nehmen werde. Denn eine weitere erschreckende Wahrheit wurde ihr rein intuitiv bewusst: dass nämlich von heute an ihre kindlichen Bedürfnisse nicht mehr anerkannt werden würden und dass man nun Dinge von ihr erwartete, denen sie nachkommen müsse. Alles in Allem, resümierte sie, konnte sie sich von nun an als junge Frau fühlen.
Fortan wuchs sie in zwei Welten heran. Neben der vertrauten Welt im Schoße der Familie, in der sie wohlbehütet aufgewachsen war, gab es die Welt außerhalb desselben, in die sie hineingestoßen wurde und sich unsicher fühlte.
Schon am erstem Tag in der Fremde erwachte ein Misstrauen in ihr (ohne dass sie dies freilich beim Namen nennen konnte), für dessen Existenz es keiner Ursache bedurfte. Von da an empfand sie es beinahe jedem Menschen gegenüber, ganz gleich, ob es einen Anlass dazu gab oder nicht. Es war die erste ihrer Eigenschaften, die sie nie mehr verlieren sollte und die dafür sorgte, dass sie die Welt um sich herum voller Argwohn beäugte. Niemals mehr vertraute sie vorbehaltlos irgendjemandem, denn der Eindruck, von der geliebten Mama in den Kindergarten abgeschoben worden zu sein, erwies sich über die Jahre hinweg als unüberwindbar. Infolgedessen lernte Tania, ihre Umgebung genau zu beobachten und ihre Gefühle und Emotionen hinter einer ausdruckslosen Miene zu verbergen. Bald verstand sie es, die Wünsche der Erwachsenen zu erfassen und entwickelte verschiedene Strategien, mit deren Hilfe es ihr gelang, die an sie gerichteten Erwartungen zu erfüllen.
Ohne eine einzige echte Freundschaft geschlossen zu haben, die diese Bezeichnung verdient hätte, verließ Tania pünktlich nach drei Jahren den Kindergarten und wurde eingeschult. Darauf hatte sie sich indes gründlich vorbereitet. Durch Gespräche mit Mutter, Vater und anderen hatte sie frühzeitig in Erfahrung gebracht, dass ihre Rechnung hinsichtlich der zu absolvierenden Schuljahre nicht stimmte. Den großen Schrecken darüber, dass ihr mindestens eine neunjährige Schulzeit bevorstand, verbarg sie sogar dann noch äußerst geschickt und tapfer, als ihr erklärt wurde, dass zehn Jahre zu einem höheren Abschluss führten und dass sie nach zwölf Jahren sogar das Abitur in der Tasche hätte, mit dem sie studieren könne. Erst dann stehe ihr die Welt wirklich offen, wie ihr beteuert wurde, doch wurde ihre Bestürzung durch diese Aussichten nur noch vergrößert. Denn Tania begriff freilich nicht, was es mit den unterschiedlichen Schuljahren auf sich hatte und mit der Vorstellung einer ihr offenstehenden Welt konnte sie auch nichts anfangen. Sie fragte sich, was die Erwachsenen mit ihr vorhatten und wünschte sich in die Zeit ohne Kindergarten und Schule zurück. Weil sie jedoch hinnehmen musste, zu all dem gezwungen zu werden, wollte sie alles so schnell wie möglich hinter sich bringen, um danach in ihre geliebte Welt zurückzukehren. Zu diesem Zeitpunkt hatte ihr noch niemand gesagt, dass nach der Schule beziehungsweise dem Studium das Berufsleben wartete, obschon sie wusste, dass Erwachsene arbeiteten. Da aber ihre gesamte Aufmerksamkeit auf die Gegenwart gerichtet war, sah sie noch weniger als das ohnehin möglich gewesen wäre die eigene ferne Zukunft.
In der Schule wurde Tania klar, dass die Tore ihrer Welt ein für allemal verschlossen waren. Noch in der Unterstufe begriff sie, dass es kein Zurück in eine Zeit ohne Institutionen gab, die sie durchlaufen musste, weil man es von ihr erwartete. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich mit ihrem Schicksal zu arrangieren und verschiedene Verhaltensweisen, Fertigkeiten und Taktiken zu entwickeln und zu erproben, mit deren Hilfe sie diesen ganzen Schlamassel möglichst unbeschadet überstehen konnte. Denn keine Sekunde bezweifelte sie, dass sowohl Kindergärten als auch Schulen etwas vollkommen Schlechtes seien.
Über die Jahre entwickelte sich Tania zu einem stillen Kind. Die Eltern freuten sich, weil sie keine ernsten Probleme mit ihrer Tochter hatten, selbst dann nicht, als diese die Pubertät durchlief. Ihren Lehrern diente sie als gutes Beispiel, wenn andere Schüler den Unterricht störten. Und überhaupt staunten alle, die sie kennenlernten, über ihr geradezu irritierend gutes Auftreten.
Eines Tages jedoch wurde ihr tadelloses Verhalten plötzlich kritisch gesehen und als auffällig erkannt. Im Nachhinein wusste niemand mehr recht zu sagen, wem es zuerst aufgefallen war und warum, doch stimmten nicht wenige darin überein, dass der deutlichste Unterschied zwischen Tania und Gleichaltrigen in der Kindern eigenen Unbeschwertheit liege. Sie lache viel zu wenig, wurde argumentiert, spiele selten mit anderen Kindern, ob nun in der Schule oder in der Freizeit, und mache auch sonst einen ernsten, gefassten und beherrschten Eindruck, der einem Kind nicht gut zu Gesicht stand.
Tanias Mutter interessierte und beschäftigte sich wenig mit dieser Seite ihrer Tochter. Sie hielt sie für ein liebenswertes, nettes und intelligentes Mädchen, das sie zweifellos war. Und sehr wohl lache ihre Tania auch, erwiderte sie verständnislos, wenn man sie darauf ansprach, und natürlich spiele sie mit anderen Kindern, das könne doch niemand ernsthaft leugnen. In der Tat war es so gut wie unmöglich, die Mutter vom Gegenteil zu überzeugen, denn gewiss hatte sie recht. Dennoch entging ihren mütterlichen Blicken, was fremde Augen sahen: ein hochkonzentriertes Kind, das jegliche Spontaneität vermissen ließ. Die genauen Unterschiede in Worte zu fassen stellte jedoch jeden, der es versuchte, vor große Schwierigkeiten. Tania tat, was alle anderen Kinder auch taten, wodurch sie sich oberflächlich betrachtet nicht von ihnen differenzierte, nur tat sie es auf schwer zu beschreibende Weise anders.
Eine fremde Frau, deren Schwester mit Tanias Mutter eng befreundet war, beschrieb dieses anders, als die drei Frauen sich eines Tages unverabredet auf einem Spielplatz begegneten und ihre Kinder beobachteten, in etwa folgendermaßen: ihr scheine, Tania würde, wenn sie mit anderen Kindern spiele, irgendwie doch nicht spielen. Sie sei merkwürdig zurückhaltend, gehe nicht aus sich heraus, wirke beherrscht, so als ob sie sich beim Spielen genauestens überlege, was als nächstes zu tun sei. Man solle einmal genau hinschauen! Das unkontrollierte Gebaren anderer Kinder wäre bei ihr nicht festzustellen. Tobt die Meute los, stehe sie noch Sekunden lang auf der Stelle, scheine zu beobachten, was die anderen taten und lief alsdann entweder hinterher oder warte, bis sie wiederkamen und etwas anderes taten.
Tanias Mutter blickte, als sie die Fremde über ihre Tochter sprechen hörte, zum ersten Mal nicht durch ihre eigenen Augen auf ihr Kind, sondern vielmehr durch eine Art vorgeschobene objektive Perspektive, die sich über ihre Wahrnehmung gelegt hatte. Diese Worte gaben ihr zu denken. Ihr wurde klar, dass der Frau etwas aufgefallen sein musste, das ihr bisher verborgen geblieben war, etwas, das im Wesen ihrer Tochter lag und mehr zu ahnen als zu sehen war.
Am Abend dieses Tages versuchte die Mutter mit Tania darüber zu sprechen. Die Einschätzung der Fremden, um die sie nicht gebeten worden war, die sie demzufolge unaufgefordert abgegeben hatte und die der Mutter deshalb umso ehrlicher erschien, gesellte sich in die Reihe derjenigen, die meinten, Tania sei ein kleines bisschen anders als andere Kinder. Die Mutter konnte sich nicht erklären, warum eine Stimme in ihr plötzlich dieser Meinung recht gab, obwohl sie nichts Neues gehört hatte.
Eine merkwürdige Unruhe legte sich auf ihren Magen. Ihr war weder klar, wie sie an diese Angelegenheit herangehen sollte, noch wusste sie, wo genau das Problem lag. Nur war da dieses unangenehme Gefühl, das ihr keine Ruhe ließ und sie trieb, mit Tania zu sprechen und zu hören, dass da nichts sei, dass da rein gar nichts sei, einfach nichts, nichts. Denn sie konnte sich keine Vorstellung davon machen, was überhaupt sein könnte, sodass sie für das ungute Gefühl nicht einmal einen Namen fand.
Als ihr während des Gesprächs schnell bewusst wurde, dass Tania offensichtlich nicht verstand, worum es ging, sagte sie offen heraus, sie frage sich, warum sie so wenig mit anderen Kindern spiele und sich auch in der Freizeit nicht mit ihnen verabrede. Das kleine Mädchen zuckte hilflos mit den Schultern, sah die Mutter erstaunt an und erwiderte, dass sie oft und gerne mit anderen Kindern spiele.
Eine schönere Antwort hätte Tania nicht geben können! Eine Welle der Erleichterung ergoss ihre Flut über alle Bedenken und spülte die mütterlichen Sorgen fort. Schon war sie zufrieden und erklärte Tania, von der sie noch immer verwundert angesehen wurde, dass sie sie ein wenig beobachtet habe, wie Mütter das eben tun, und ihr aufgefallen sei, sie spiele und verhalte sich ein wenig anders im Vergleich zu ihren Spielkameraden. Tania schaute ihre Mutter verständnislos an, wiederholte, dass sie gerne spiele und wusste nichts hinzuzufügen. Die Mutter aber war beruhigt, da sie sicher zu wissen glaubte, ihre Tochter habe schlicht ihre eigene Art und ihr eigenes Wesen, wodurch ihr Verhalten hinreichend begründet wurde. Sie strahlte Tania an, strich ihr zärtlich übers Haar und sagte: »Keine Sorge, mein Schatz. Es ist ja nichts. Ich hab mich nur ein bisschen gewundert, dass du nicht so wild herumtobst wie die anderen Mädchen und Jungen. Aber das macht nichts, das macht gar nichts. So ist es auch gut, vielleicht sogar noch besser.« Diese Erklärung aber weckte Tanias Misstrauen und sie fragte: »Mama? . . . Hast du dich schon lange gewundert?«
»Aber nein! Es ist mir nur so aufgefallen.«
»Warum ist es dir aufgefallen?«, fragte Tania weiter.
»Ich weiß nicht.«, antwortete die Mutter. »Man beobachtet dies und das und macht sich seine Gedanken.«
»Und ist Papa das auch aufgefallen?«
»Papa? Ich weiß nicht. Ich habe noch nicht mit ihm darüber gesprochen.«
»Und Oma und Opa?«, bohrte Tania weiter.
»Ich glaube nicht.«, beruhigte sie die Mutter.
Unter dem Vorwand, etwas erledigen zu müssen, beendete sie das Gespräch und ließ Tania in ihrem Zimmer zurück. Während für sie die Angelegenheit geklärt war, dachte Tania noch lange darüber nach. Die Mutter wunderte sich also, dass sie nicht so herumtobte wie andere Kinder? Sie fand das aber gut, wie sie sagte, und für Tania gab es keinen Grund, daran zu zweifeln. Aber warum hatte sie sie dann überhaupt darauf angesprochen, fragte sie sich und fand keine einleuchtende Antwort. Da müsse noch etwas sein, meinte sie, ein anderer Grund, den sie nicht erraten konnte. Also machte sie es sich zur Aufgabe, genau zu beobachten, ob sie sich wirklich anders verhielt als andere Kinder.
Gemessen an ihrem Alter hatte Tania eine außerordentliche Beobachtungsgabe entwickelt. Einige Situationen genügten ihr, um innerhalb der Grenzen ihres Verstandes zu sehen und zu begreifen was ihre Mutter meinte. Sie verstand, dass man von ihr erwartete, sich nicht allzu sehr von anderen Kindern zu unterscheiden, ohne dass sie begreifen konnte, warum das so sein sollte.
Tania gelang es hier und da, das eigene Verhalten dem anderen Kinder anzupassen. Sie nutzte nicht wenige Gelegenheiten sie nachzuahmen und es ihnen gleich zu tun. In einigen Fällen führte das soweit, dass sich beispielsweise einige Lehrer über sie zu beschweren begannen: sie störe durch Schwatzen den Unterricht, raufe mit anderen Mädchen und sogar mit Jungs. Dies und anderes mehr tat sie nicht, weil sie es tun wollte oder weil es ihrem Charakter entsprochen hätte, sondern weil sie noch immer nicht vergessen, geschweige denn verarbeitet hatte, wie sie ohne jegliche Vorwarnung eines Tages aus ihrer behüteten Welt verbannt worden war.
Dieser Tag ging ihr einfach nicht aus dem Kopf. Inzwischen vermutete sie, dass sie etwas getan hatte, was die Mutter zu diesem drastischen Schritt gezwungen hatte, wusste jedoch nicht, was es gewesen war und meinte, es vergessen zu haben. Fortan wurde eine gewisse Unsicherheit ihr ständiger Begleiter, denn die schiere theoretische Möglichkeit, dass ihr etwas Ähnliches noch einmal widerfahren könnte, war nicht von der Hand zu weisen. In ihr fand sie den Antrieb und die nötige Energie, um ihre geheimen Spionage- und Verhörtechniken zu verfeinern, mir deren Hilfe sie unbemerkt schon so manchem Erwachsenen das eine oder andere Geheimnis entlockt hatte, wenn sie herauszufinden versuchte, was von ihr erwartet wurde und was nicht. Auf diese Weise gelang es ihr aus eigener Kraft, ihren Status quo zu festigen. Sie richtete sich ein in dieser zweiten ungewollten Welt; und je klarer sie erkannte, dass sie in dieser Welt ihre eigenen Regeln erschaffen konnte, desto wohler fühlte sie sich, ohne jedoch ihre geliebte wie auch vermisste mütterlich behütete Welt jemals zu vergessen.
Aus der Ferne betrachtet konnte ein jeder mit ruhigem Gewissen behaupten, Tania entwickle sich ganz normal. Sie fand einige Freundinnen in der Schule, mit denen sie ihre Geburtstage feierte, sie bekam viele gute Noten und nur wenige schlechte, zeigte sich zurückhaltend und freundlich, doch konnte ebenso bösartig und rücksichtslos wie alle anderen Kinder sein, was zwar in entsprechenden Situationen getadelt, doch ebenso in gewisser Weise toleriert wurde, wie sie längst bemerkt hatte. Kurz gesagt, Tania war ein Kind wie jedes andere, nur das sie es deshalb war, weil sie ständig ihr Umfeld überwachte und zu sich in Beziehung setzte. Sie bemühte sich sehr und es kostete ihr einige Anstrengungen, sich ihren Beobachtungen entsprechend anzupassen. Doch sah sie in diesen Investitionen den Schlüssel zu ihrem Glück, der die Tür zu ihrer Unsicherheit zu schließen vermochte und ihr einzutreten und sich zu bewegen erlaubte in der zweiten Welt.
Es kam die Zeit, in der ihre Freundinnen das andere Geschlecht entdeckten. Kaum hatte die erste einen Freund präsentiert, eiferten ihr auch schon andere nach und Tania meinte, nichts anderes als eine Seuche grassiere, die ihren Freundinnen die Sinne vernebelt hätte.
Im Laufe der Zeit war es ihr gelungen, zu einer Vertrauensperson zu werden, mit der man über alles reden konnte. Deshalb wusste sie, dass nicht wenige Mädchen, die plötzlich so unsterblich verliebt waren, als wären sie niemals nicht verliebt gewesen, noch ein paar Tage zuvor keinerlei Interesse an Jungs gehabt hatten. Plötzlich sah sie sich von einer Horde wild knutschender Altersgenossen umgeben, die nicht mehr ihre Hände und Münder voneinander lassen konnten und sich an Stellen ihrer jugendlichen Körper krabbelten, küssten und berührten, an denen es ihr, wenn nicht absurd, so doch wenigstens vollkommen merkwürdig erschien.
Tania war klar, dass all dies auch auf sie zukam. Sie ahnte, dass ihre Freundinnen sie bald ausfragen würden, ob es nicht einen süßen Jungen gäbe, den sie möge. Sie beschloss, die verbleibende Zeit, in der sie mit solcherlei Angelegenheiten nicht konfrontiert wurde, in Ruhe verstreichen zu lassen.
Nach einigen Monaten konnte sie sich der Notwendigkeit eines Freundes nicht länger entziehen. Sie entschied sich für Benjamin, einem Mitschüler aus der Parallelklasse, der bei den Mädchen ob seiner freundlichen Art und seines guten Aussehens nicht gerade unbeliebt war. Dass keine andere bisher mit ihm zusammengekommen war, lag in seinem vergleichsweise weit entwickelten männlichen Äußeren. Seine stark behaarten Arme und Beine nämlich sowie die unschönen Pickel in seinem Gesicht, gereichten ihm ebenso zum Nachteil wie seine markanter werdenden Gesichtszüge. Bezüglich seiner ungegelten Haare entbrannte unter den Mädchen sogar eine angeregte Spekulation über die Ursachen, in die recht schnell die Fragen einbezogen wurden, wie es um seine Brustbehaarung bestellt war und ob er sich die zweifellos sprießenden Schamhaare rasiere oder nicht. Obwohl Benjamin also einige interessante Eigenheiten besaß, konnte man so einen Kerl nie und nimmer vor seinen Freundinnen als süß bezeichnen – und das war ein kaum zu kompensierender Makel. Außerdem hatte er es fertig gebracht, mindestens zwei Mädchen aus Tanias Freundeskreis, die sich um ihn bemüht hatten, einfach abgewiesen zu haben. Da ihm dasselbe ungebührliche Verhalten gerüchteweise in drei bis sieben weiteren Fällen nachgesagt wurde, wussten die Mädchen nicht, was sie von ihm halten sollten. Dass Tanias Wahl dennoch auf ihn fiel, war wohlüberlegt und hatte rein rationale Gründe.
Wochenlang hatte sie sich den Kopf zerbrochen, wer als ihr Freund in Frage käme. Benjamin wurde es deshalb, weil er nicht wie so viele andere Jungs dauernd blöde und anzügliche Sprüche machte. Er war ein ruhiger Typ, mehr Mann als Junge, war anerkannt und galt als gescheit. Der wichtigste Grund aber war, dass sie davon ausging, er wäre nicht an ihr interessiert. In diesem Falle würden ihre Freundinnen bestimmt verstehen, wenn sie, nachdem er ihr das Herz gebrochen hatte, für unbestimmte Zeit nichts mehr von Jungs wissen wollte. Frühzeitig legte sie sich die Worte zurecht, mit denen sie anschließend ihr Gefühlsleid klagen wollte und die nichts anderes als die Herzlosigkeit dieses rohen Klotzes der ganzen Welt kundtun sollten. Sollte dennoch der unwahrscheinlichste aller denkbaren Fälle eintreten, Tania + Benjamin = Liebe, so hoffte sie, dass er nur tun würde, was alle anderen auch taten beziehungsweise was sie ihm gestattete.
Und so kam es, dass nur wenige Tage vergingen und Tania, ob sie nun wollte oder nicht, ihren ersten Freund hatte. Da sie nach gründlicher Erwägung des Sachverhaltes und unter Einsatz ihrer subtilen Verhörmethoden wusste, dass Benjamin gerade keine Freundin suchte, nahm sie das Heft in die Hand. Mit der Bitte, kein Sterbenswörtchen über ihre zarten, aufkeimenden Gefühle zu verlieren, benutzte sie ihre Freundinnen als Überbringer unwahrer Botschaften und konnte sicher sein, dass ihre Worte in nur wenigen Augenblicken Benjamins Ohren erreichten.
Sieht man einmal davon ab, dass sie lieber die Zurückgewiesene gespielt hätte, verlief soweit alles nach Plan, wenn auch nach Plan B. Benjamin war nett und freundlich und entpuppte sich als guter Kumpel, mit dem sie viel Spaß haben konnte, der sich in der Öffentlich gegen einen Kuss nicht wehrte und sich nicht zierte, wenn es um obligatorische Verhaltensweisen ging wie Schmusen, Umarmen, Händchenhalten und dergleichen mehr. Sofern Tania nicht lernen musste und Benjamin Zeit hatte, weil er gerade nicht mit seinen Kumpels zum Zocken oder Fußballspielen verabredet war, trafen sie sich gelegentlich und gingen entweder in ein Café, in den Park, oder unternahmen etwas mit ihren Freunden.
Auf diese Weise vergingen Wochen, bis Tania sich fragte, wie es sich anfühle, wenn er ihre Brüste berühre. Ein wenig war sie irritiert über ihre eigenen Gedanken und konnte sich keine Antwort darauf geben, wo diese auf einmal hergekommen waren. Gegen ihren Willen versuchte sie in den folgenden Tagen, die Vorstellungen von Benjamins Händen, ihren Brüsten sowie der Gefühle, die seine Berührungen hervorrufen mochten, in ihrem Kopf zusammenzubringen. Ihre Einbildungskraft aber zeigte sich mit diesen drei unvereinbaren Dingen vollkommen überfordert. Auch deshalb erlaubte sie ihm eines Tages, als sich eine günstige Gelegenheit bot, seine Hände wandern zu lassen. Sie konzentrierte sich so sehr auf die erwartete Berührung, dass sie nicht einmal mitbekam, wie er sie von Shirt und BH befreite.
Sie schloss ihre Augen und fühlte und horchte in sich hinein. Sie bemerkte, wie seine Hände ihre Brüste mal sanft drückten, um sie dann abwechselnd in die eine oder andere Richtung zu bewegen. Das alles fühlte sich beileibe nicht schlecht an, wirklich umwerfend war es aber auch nicht. Als er allerdings ihre Brustwarzen vorsichtig zwischen seinen Fingern hin und her zu rollen schien (was tat er da nur?), wurde es ihr unangenehm, da sie sich derart empfindsam nicht kannte; sie schob ihn weg. Ohne sich über die Zurückweisung im Mindesten zu beklagen, sah er sie an und strahlte übers ganze Gesicht, so als ob er gerade eine weiß Gott wie große Wohltat empfangen hatte. Tania hatte mit beinahe jeder Reaktion gerechnet: dass er sie schelten würde, dass er protestiere, dass er versuche, sie noch einmal zu berühren, dass er etwas sage; doch Benjamin saß einfach nur da und grinste und strahlte von einem Ohr zum anderen.
»Was ist?«, fragte Tania, als ihr sein Grinsen unangenehm zu werden drohte.
»Och!«, platzte es fröhlich aus ihm heraus: »Ich bin so verliebt in dich!« Und er strahlte sie an mit diesem Lächeln, das so gar nicht zu ihm passen wollte, wie Tania meinte, und er fuhr fort und sagte, dass er unbeschreiblich glücklich sei, mit ihr zusammen sein zu dürfen. Sie hätte ihm schon immer gefallen, nur konnte er sich nicht vorstellen, dass das auf Gegenseitigkeit beruhe. Schon einmal sei er drauf und dran gewesen, sie anzusprechen, vielleicht sogar einzuladen, um herauszufinden, was sie von ihm halte. Ja!, er sei ganz und gar froh darüber, dass er solange gewartet habe, denn genauso gut hätte alles auch ganz anders kommen können. Schließlich schloss er seine kleine Offenbarung mit den viel zu feierlichen Worten: »Tanja! Wirklich! Ich will für immer mit dir zusammen sein! Ich bin so verliebt in dich und möchte mit dir schlafen.«
Als Tania Benjamin das sagen hörte, verschlug es ihr die Sprache. Regungslos saß sie da und wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Sein erwartungsvoller Blick forderte jedoch eine Reaktion und so dachte sie darüber nach, was sie erwidern könne. Aber was sollte sie sagen, nachdem ihr plötzlich klar wurde, worauf sie sich eingelassen hatte? Niemals hätte sie es für möglich gehalten, dass er zu solchen Emotionsausbrüchen fähig wäre. Hatte sie einst geglaubt, er wolle nichts von ihr wissen, so dachte sie später, sie würden nicht lange zusammen bleiben. Doch nun hatte sie eine Liebeserklärung aus seinem Munde vernommen, aus dem Munde eines Jungen, den sie mochte, der immer lieb und nett zu ihr war, den sie hin und wieder in der Schule sah und seltener außerhalb derselben, der aber nun einmal ihr Freund war.
Sie sah ihn an, noch immer nicht wissend, was sie sagen oder tun sollte und stellte sich vor, was geschehen würde, wenn sie miteinander schliefen, nachdem schon die Berührung ihrer Brüste eine solch überwältigende Reaktion hervorgerufen hatte; das hatte sie nicht gewollt! Sie blickte in sein noch immer strahlendes Gesicht und bemerkte, wie ihm das Warten zusetzte. Seine Züge verhärteten sich zunehmend und drohten den Ausdruck puren Glücks einer Lähmung gleich für alle Ewigkeit zu konservieren. Angesichts dieser Aussicht überwand sie die Distanz und schlang ihre Arme um seinen Hals. Sie klammerte sich so fest an ihn, dass sie kaum sein erleichtertes tiefes Ausatmen hören konnte. Sie verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter und hielt die Augen fest geschlossen, um in den kommenden Sekunden und Minuten nichts mehr sehen zu müssen. In dieser Lage verharrten sie, sodass ein jeder, der die beiden gesehen hätte, nicht umhingekommen wäre, ins Schwärmen zu geraten.
Die Zeit verflog und beide wagten nicht, sich von der Stelle zu rühren, geschweige denn, sich vom anderen zu lösen. Erst als Beine und Arme der Umschlungenen allmählich taub wurden, lockerten sie zögernd ihre Umarmung und lösten sie schließlich vollends auf. Beim Blick auf die Uhr bemerkte Tania, dass es längst Zeit war, nach Hause zu gehen. Sie verabschiedete sich mit einem Kuss und sah in Benjamins Augen, dass er noch immer auf etwas wartete. Aber sie hatte es eilig und war nicht in der Lage, ihm seinen Herzenswunsch – vermutlich nur ein paar liebe Worte – zu erfüllen.
Einige Tage später reifte in ihr nach ausführlichen Überlegungen der Entschluss, dass es weder für sie gut wäre, mit ihm zusammenzubleiben, da er sie viel zu sehr liebte, noch konnte es für ihn gut sein, mit ihr zusammenzubleiben, wo sie ihn doch, wie sie sich eingestand, rein gar nicht liebte. So gut sie es vermochte ging sie ihm aus dem Weg und vergeudete keinen Augenblick, nicht darüber nachzusinnen, auf welche Weise sie sich von ihm trennen könnte. Indem sie sich Benjamin aber entzog, steigerte sie nur sein Verlangen. Langsam dämmerte ihr, dass ihre erste Beziehung vermutlich kein gutes Ende nehmen würde. Tania stand kurz vor der Einsicht, dass es unumgänglich sei, alle Schuld auf sich zu nehmen und zu gestehen, ihn nicht mehr zu lieben. Ganz bestimmt wäre es schrecklich für ihn, malte sie sich in drastischen Bildern aus, die Benjamin in aller nur vorstellbaren Verzweiflung zeigten. Doch noch schrecklicher wäre, wenn sie zusammen blieben und das nicht nur für ihn, sondern vor allem für sie. Vollkommen willkürlich bestimmte sie daher einen Tag, an dem sie ihn verlassen wollte.
Noch bevor der Kalender dieses Datum anzeigte, erschien eine Freundin vollkommen aufgelöst bei Tania. Sie müsse sich unbedingt aussprechen, erklärte Laura unter Tränen. Sie kenne sich selbst nicht mehr, verstehe sich nicht, begreife gar nichts, wisse nicht, wie das geschehen konnte: gestern Nachmittag hatte sie ihren Freund betrogen!
Tania sah sie überrascht an. Mit einer schlechten Note oder familiären Problemen hatte sie gerechnet, aber dass Laura Philip betrogen hatte, wäre ihr nicht in den Sinn gekommen. Sie solle nur erzählen, ermutigte Tania sie, sie werde zuhören und zu helfen versuchen, wenn es möglich wäre. Die Freundin ließ sich nicht lange bitten und vergaß nicht das kleinste Detail. Sie seien verabredet gewesen, berichtete sie, er aber sei nicht erschienen. Viel zu lange habe sie gewartet und nicht gewusst, warum er nicht kam und wo er war. Immer wütender wurde sie, als er nicht auf ihre zahllosen SMS und Anrufe reagierte. Und als sie sich vor Augen führte, dass er im Grunde genommen nie pünktlich war und sie nicht zum ersten Mal versetzte, erreichte ihr Zorn ungeahnte Dimensionen. Schließlich traf sie zufällig einen seiner besten Freunde, als sie noch immer am verabredeten Ort ausharrte, der berichtete, er habe gerade mit Philip und anderen bei einer Bekannten abgehangen.
»Er ist mit mir verabredet!«, schrie Laura Philips Freund ihrer Wut freien Lauf lassend an. »Ich warte hier seit Stunden während er irgendwo rumhängt und nicht mal ans Handy geht?«
»Ähm . . . bleib doch ruhig. Komm runter! Deshalb musst du doch nicht so schreien.«, antwortete dieser, der sich erst jetzt der Situation bewusst wurde, in die er hineingeraten war und die ihm ganz und gar nicht gefiel. »Wir waren ja nicht irgendwo, sondern bei Simone und was ist schon dabei, wenn man mal ein paar Minuten mit seinen Freunden abhängt.«, versuchte er Philip und auch ein wenig sich selbst zu rechtfertigen, ahnte jedoch, dass er womöglich nicht den richtigen Ton getroffen, nicht die passenden Worte gefunden hatte.
»Hast du eigentlich eine Freundin?«, fragte Laura und sagte, als er ihre Frage kopfschüttelnd verneint hatte, dass sie das gut verstehe und blickte ihn bedeutungsvoll an. Wissend, mit jedem weiteren Wort seine und Philips Lage nur verschlechtern zu können, schlug er zu seiner eigenen Überraschung vor, in den Park zu gehen und eine zu rauchen, um in Ruhe reden zu können. Da Laura nun ohnehin nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen wusste, willigte sie ein und so fanden sie sich einige Minuten später auf einer Wiese im Schatten eines Baumes wieder, wo es dann geschah und sie ihn küsste, wie Laura Tania tief betrübt schluchzend und schniefend gestand.
»Und dann?«, fragte Tania in Erwartung weiterer delikater Einzelheiten.
»Was dann?«, fragte die Freundin.
»Weiter ist nichts passiert? Ihr habt euch nur geküsst?«, versicherte sich Tania.
»Ich habe ihn geküsst!«, jammerte sie. »Ich ihn und nicht wir uns oder er mich. Das ist doch das Schlimme! Verstehst du? Auf einmal kam es über mich. Ich weiß überhaupt nicht wie und warum. Da hab ich ihn geküsst und dabei finde ich ihn doch so, so, so . . . BÄHHHHHHHHHH!«
Tania verstand, dass dieser Kuss für die Freundin eine Katastrophe darstellte, da er von ihr ausgegangen war, weder Sinn noch Bedeutung hatte und Laura den Geküssten nicht einmal mochte. Mit diesem Kuss war sie Philip untreu geworden und befürchtete nun, er könne sie verlassen, wenn er davon erfuhr. Eine Lösung musste gefunden werden, um den worst case vorzubeugen, denn vermutlich würde es sehr schwer werden, den Ausrutscher vor Philip zu verheimlichen.
Nachdem sich Laura nach einigen Stunden beruhigt hatte, brachte Tania sie nach Hause. Sie wolle sich etwas einfallen lassen, versprach Tania, es werde sicher nicht einfach werden, doch schließlich gäbe es immer einen Weg. Dankbar aus ihrem verheulten Gesicht lachend verabschiedete sich Laura von Tania, die nochmals bekräftigte, ihr unter allen Umständen zu helfen.
Als sich die Freundinnen am nächsten Tag in der Schule trafen, deutete Tania an, eine Idee zu haben, wie das Problem aus der Welt geschafft werden könnte. Sie wollte Laura jedoch nicht verraten, was sie im Sinn hatte, sondern bat vielmehr um Vertrauen und ein wenig Geduld. Sie müsse sich noch über einige Einzelheiten klar werden, bevor ihr Plan in die Tat umgesetzt werden könne, schließlich müsse alles zusammenpassen, Sinn machen und unverdächtig sein, wie sie umständlich und doch nichts sagend ausführte und selbstbewusst stellte sie ihrer begeisterten Freundin in Aussicht, dass Philip sogar dann mit ihr zusammenbleiben werde, sollte er je von dem Kuss erfahren. Die überglückliche Laura forderte Tania auf, zu tun und zu lassen, was sie für richtig hielt; darüber hinaus bot sie ihre volle Unterstützung an, denn natürlich werde sie alles in ihrer Macht stehende tun, um ihre eigene Dummheit wieder gutzumachen. Womöglich werde sie darauf zurückkommen, meinte Tania, aber das werde sie ihr zu gegebener Zeit mitteilen, bis dahin solle sie sich so normal wie nur irgend möglich verhalten, bestimmt wisse noch niemand von dem Kuss und das solle schließlich auch so bleiben.
Schon das folgende Wochenende bot eine gute Gelegenheit für Tania, ihr Vorhaben anzugehen, über dessen Details sie in den vergangenen Tagen ununterbrochen nachgedacht hatte. Im Garten seiner Eltern feierte ein Mitschüler eine große Geburtstagsparty, bei der alle Beteiligten anwesend waren. Tania beabsichtigte, Philip und auch den Geküssten auf den Zahn zu fühlen und bat Laura, unbedingt Ruhe zu bewahren, mit den anderen zu feiern und zu warten, bis sie ihr sagen werde, was sie in Erfahrung gebracht, vielleicht sogar erreicht beziehungsweise unter ungünstigeren Umständen nicht erreicht habe. Nun sei es an der Zeit, ihr die zugesagte Unterstützung zu gewähren, indem sie Benjamin ablenke und von ihr fernhalte. Sie hätten sich in letzter Zeit nicht oft gesehen, sagte sie Laura, und vermute deshalb, dass er ihr nicht von der Seite weichen werde, wodurch sie die ganze Angelegenheit in Gefahr wähnte. Laura verließ sich voll und ganz auf Tania und versprach, sich um Benjamin zu kümmern.
Mit Philips Freund hatte Tania kaum Mühe, ins Gespräch zu kommen, obwohl sie ihn nur vom Sehen kannte und nie zuvor ein Wort mit ihm gewechselt hatte. Durch geschickte Andeutungen eröffnete sie ihm, dass sie betreffs des Kusses im Bilde war. Der Geküsste schüttete ihr daraufhin sein Herz aus. Offensichtlich war er froh über die sich unverhofft bietende Gelegenheit und beteuerte tausendmal, das Geschehene niemals beabsichtigt zu haben, da Philip einer seiner besten Freunde sei und Laura nicht nur deshalb für ihn tabu war, sondern auch, weil sie ihm nicht einmal gefiel. Dennoch sei er seit diesem Tag durch seine Loyalität derart hin und her gerissen, dass er nicht wisse, ob er Philip von dem Kuss erzählen solle oder nicht. Ihm sei klar, dass Philip einerseits seine Freundin liebe und eine mögliche Beichte die Beziehung ernsthaft gefährden könnte – und er wolle ganz bestimmt nicht derjenige sein, der die beiden auseinanderbringe – andererseits habe sie ihn geküsst und er wisse nicht, ob sie nur ihn geküsst habe oder auch andere beziehungsweise ob dies noch geschehen werde, und schließlich verursachte ihm die Vorstellung, Philip könnte hintergangen werden, erhebliche Kopfschmerzen; sollte es denn unter guten Freunden nicht selbstverständlich sein, auch heikle Dinge anzusprechen? Aber wie gesagt, die Beziehung wolle er nicht gefährden und außerdem würde durch sein Geständnis ebenso die Freundschaft zu Philip auf dem Spiel stehen. Er versicherte, bisher zu niemandem ein Wort über den Kuss verloren zu haben, wollte aber nicht garantieren, dass das nicht irgendwann, vielleicht schon bald, geschehen werde.
Er solle sich um Himmels Willen jeden seiner Schritte gut überlegen, riet Tania. Und vor allem solle er nicht so naiv sein und der Vorstellung erliegen, Philip werde glauben, er sei völlig schuldlos. Was könne er denn zu seiner Verteidigung vorbringen, wenn Philip frage, warum er beispielsweise nicht zurückgewichen sei? Zu einem Kuss gehörten immer noch zwei, erklärte Tania, und das Allerbeste in dieser Situation sei ohnehin, dafür zu sorgen, dass so etwas nicht noch einmal geschehe, doch dazu brauche sie seine Hilfe. Tania schlug vor, sich um Laura zu kümmern und mit ihr zu sprechen, um ihr in aller Deutlichkeit die Gefahren ihres impulsiven Verhaltens vor Augen zu führen; seine Aufgabe sei, Philip zu bewegen, mehr Zeit mit seiner Freundin zu verbringen, sich besser um sie zu kümmern, pünktlich bei ihren Verabredungen zu erscheinen und diese nicht zu vergessen. Er müsse aber wohlüberlegt vorgehen, Philip dürfe nicht auf die Idee kommen, dass sich mehr hinter der Sache verberge. Tania teilte ihm ihre feste Überzeugung mit, er sei all das seinem Freund schuldig. Sicher, der Kuss könne nicht rückgängig gemacht werden; aber habe er denn nicht betont, dass er nicht für eine Trennung verantwortlich sein wolle? Und wenn er ihr schon nicht aus Mitleid Laura gegenüber zu helfen gedenke, dann solle er es eben als einen Freundschaftsdienst ansehen; er mache einiges gut, was er sich mit dem empfangenen Kuss eingebrockt habe.
Als sich der Geküsste dergestalt in die Enge getrieben sah, stimmte er prinzipiell zu. Sein Gewissen jedoch war mit diesem Plan weitaus weniger zufrieden als sein Verstand. Er solle bloß vorsichtig vorgehen, insistierte Tania noch einmal, ein falsches Wort, ein Satz zu viel und Philip könnte Verdacht schöpfen. Was auch immer er sagen und tun werde, er solle darauf achten, dass alles Sinn ergäbe.
Tania machte sich keine Illusionen: der Geküsste würde ein Unsicherheitsfaktor bleiben, dem noch einige Kämpfe mit seinem Gewissen bevorstanden. Nun war es an der Zeit, Philip gründlich auf den Zahn zu fühlen. Sie traf ihn in einer merkwürdigen Stimmung an. Er war gereizt und misslaunig. Als sie ihn nach den Gründen fragte, antwortete er, Laura unterhalte sich schon den gesamten Abend intensiv mit Benjamin, bemerke ihn gar nicht und gehe ihm sogar aus dem Weg. Tania brach daraufhin in Lachen aus und fragte, ob er denn wirklich der Letzte sei, der nicht wisse, dass Benjamin ihr Freund sei. Daraufhin hellte sich zumindest seine Miene etwas auf, obschon ein diffuses Gefühl blieb.
Die Gelegenheit beim Schopfe packend fragte Tania ironisch, ob er denn wirklich so eifersüchtig sei, wie es gerade den Anschein habe, wo sich doch seine Freundin lediglich mit ihrem Freund unterhalte. Das habe er nicht gewusst, antwortete er, offensichtlich bestehe kein Grund zur Eifersucht. »Aber gestört hat es dich schon, nicht wahr?«, bohrte sie weiter.
»Na ja.«, antwortete Philip zögernd. »Es hat mir nicht unbedingt gefallen. Immerhin geht das schon den ganzen Abend so.«
»Und was würdest du tun, wenn sie dir einen wirklichen Grund zur Eifersucht gäbe?«, fragte Tania mit Unschuldsmiene.
»Ich weiß nicht?«, sagte er. »Woher soll ich das wissen? Was meinst du überhaupt?«
»Also nur mal so: stell dir vor, rein theoretisch natürlich, sie küsst einen anderen. Was dann? Was würdest du tun? Wie würdest du reagieren?«
»Oh mein Gott! Ich weiß es nicht. Das wäre absolut scheiße!«
»Ja!«, erwiderte Tania. »Aber was würdest du machen? Hätte das Konsequenzen?«
»Wir haben eine Abmachung.«, sagte Philip entschieden und setzte eine bedeutungsvolle Miene auf. »So was machen wir nicht. Einer kann sich auf den anderen verlassen. Was willst du überhaupt? Wieso fragst du mich das?«
»Na . . . nur so.«, sagte Tania und hatte verstanden, was er nicht aussprechen wollte. »Es interessiert mich eben, wo wir doch beim Thema sind.«, fuhr sie fort. »Übrigens: mir würde es auch nicht gefallen, wenn Benjamin eine andere küsst. Und weißt du was? Ich glaube, für mich wäre das so schlimm, dass ich mich von ihm trennen würde. Ich könnte ihm nicht mehr vertrauen. Magst du noch Bier?«
»Klar mag ich noch Bier. Danke. Würde mich wahrscheinlich auch von ihr trennen, wenn sie so was macht und ich es erfahre. Das ist schon scheiße!«
»Ja ja, das ist es. Aber mach dir keine Sorgen, jetzt wo du weißt, dass sie sich mit meinem Freund unterhält. Da passiert schon nichts.«, sagte sie lachend und fügte hinzu, dass sie gerne ein Stück laufen wolle, nur ein paar Meter. Hinter dem Garten sei ein kleiner Weg und sie könnten ihre Flaschen mitnehmen, danach werde sie sich um Benjamin kümmern und er hätte Laura ganz für sich alleine.
So entfernten sie sich von ihren Freunden, die ihnen einige anzügliche Sprüche hinterher riefen. Misstrauisch sah Benjamin Tania gehen und wurde nur durch Laura beruhigt, von der er wusste, dass sie die Freundin desjenigen war, mit dem Tania gerade die kleine hintere Gartentür passierte. Tania ihrerseits hoffte auf eine Eingebung, mit der sie das dünne Seil der Beziehung ihrer Freundin in ein Stahlseil verwandeln konnte, denn ihr war klar, dass der Kuss auf die Lippen eines anderen die Klinge war, die dieses Seil ohne Weiteres zerschneiden konnte.
Langsam laufend und schnell trinkend erreichten sie eine Bank, die am Wegesrand stand, und ließen sich auf ihr nieder. Die Nacht war warm, der Himmel klar, dazu wehte ein sanfter Wind, der leicht ihrer beider Haut berührte. Sie redeten über dies und jenes und mit jedem Schluck wurden ihre Zungen schwerer und die Nacht dunkler. Bald schon saßen sie stumm nebeneinander und wussten nicht, was sie davon halten sollten. Die Stimmen ihrer Freunde, die sie eben noch vom Wind getragen im Flüsterton vernommen hatten, zogen sich diskret in den Garten zurück und überließen die beiden sich selbst. Nun waren sie allein, ohne dass sie das gewollt hatten, und sahen sich unschlüssig an. Auf diese Weise türmten sich die vergehenden Sekunden aufeinander und wuchsen zu einem riesigen, schweigenden Berg heran, der endlich hoch genug war, um den Himmel zu berühren. Nur ganz leicht und ohne jede böse Absicht touchierte er einen kleinen Stern, der sich unglücklicherweise zur falschen Zeit am falschen Ort befunden hatte; die Wucht der Kollision warf den im Schlaf beim Träumen überraschten Himmelskörper aus der Bahn und ließ ihn auf die Erde purzeln. Kerzengerade rauschte er vom Himmelszelt in die Tiefe und schlug nur wenige Meter neben der Bank auf, auf der Tania und Philip saßen. Erstaunlicherweise verursachte sein Aufprall lediglich ein leises Rascheln, geradeso, als würde ein kleines Tier durch nächtliches Gras laufen. Erschrocken blickten beide in die Richtung, aus der sie das Geräusch vernommen hatten, und als sie langsam ihre Gesichter wieder einander zuwandten, war es Tania, die, nun hellwach, die Gelegenheit nutzte, Philip in die Augen sah und ihn zu küssen begann.
So unentschlossen, zögernd und misstrauisch Philip auch gewesen war, als sie ihn zu küssen begonnen hatte, er spielte mit ihr in dieser warmen Sommernacht inmitten einer Blumenwiese ein Spiel, dass beiden nur allzu gut gefiel; es war Tanias erstes Mal.
Als sie wieder bei Sinnen waren, schworen sie einander, niemandem zu erzählen, was geschehen war. Philip fühlte sich sichtlich unwohl, hatte er doch vor wenigen Minuten erst vom Treueversprechen zwischen ihm und Laura gesprochen. Tania gefiel es, ihn beschämt und niedergeschlagen zu sehen. Die untrüglichen Zeichen, die ein schlechtes Gewissen in die Gesichter der Menschen zu stempeln vermag, tanzten in seinem Angesicht. Er fühlte sich wie ein Sünder, stand wie blöde da und wusste nicht, was er sagen oder tun sollte. Er kam sich so dumm vor, sich selbst so fremd, das hatte er nicht gewollt. Laura dürfe das nie erfahren, stammelte er unentwegt in einer Mischung aus Beschwörung, unterschwelliger Aggressivität, Unsicherheit und Verwunderung; Tania lachte in sich hinein.
Niemand werde es je erfahren, versicherte sie, er könne sich ganz auf sie verlassen. Sie versuchte sich so gut wie möglich zu verstellen, um den Eindruck zu erwecken, als bereue sie die vergangenen Minuten genauso wie er. Sie wisse nicht, wo ihr der Kopf stehe, erklärte sie und fügte hinzu, dass sie sich unter keinen Umständen etwas anmerken lassen durften, denn schließlich habe er eine Freundin und sie einen Freund. Dann gingen sie in den Garten zurück.
Tania glaubte ihr Ziel erreicht zu haben. Nach dem, was geschehen war, hatte Philip in ihren Augen kein Recht, sich allzu sehr über Laura aufzuregen, sollte er je von dem Kuss erfahren. Außerdem hatte sie nun ein Druckmittel in der Hand; sein Fehltritt ließe sich gegen ihn ins Feld führen, wenn es nötig werden sollte.
Nachdem die beiden den Garten wieder betreten und sich unter die Feiernden gemischt hatten, teilte Tania Laura mit, sie habe mit Philip gesprochen, ohne dass dieser auch nur den geringsten Verdacht hätte schöpfen können; sie sei sich ziemlich sicher, dass sich der Ärger in Grenzen halten würde, sollte er jemals von dem Kuss erfahren. Tanias Worte machten Laura augenblicklich glücklich und überschwänglich dankte sie ihr für alles, was sie getan hatte. Tania fühlte sich gut. Als sie dann sah, wie innig sich Laura und Philip küssten, verstärkte sich noch dieses Gefühl. Offen blieb nur die Sache mit Benjamin, der schon auf sie zukam.
Tanias angeblicher Plan war alles andere als bis ins kleinste Detail sorgfältig ausgetüftelt. Im Grunde genommen hatte sie lediglich einige vage Ideen verfolgt, die allesamt darauf zielten, Lauras und Philips Beziehung zu retten – nicht mehr und nicht weniger. Sie war überzeugt, umsichtig und richtig gehandelt zu haben, da weder der Kuss, noch der One-Night-Stand jemals ans Tageslicht kamen, außerdem festigte sich das Band, das Laura und Philip noch viele Jahre verbunden hielt.
Dennoch darf man fragen, ob es wirklich nötig war, mit Philip zu schlafen, nur um ihm rein präventiv den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ist denn nicht vorstellbar, dass Philips Freund geschwiegen hätte? Sicher ist das eine nicht von der Hand zu weisende Möglichkeit. Doch darum geht es nicht. Was geschehen ist, ist geschehen, sagte sich Tania, wenn sie von Zeit zu Zeit an jene Nacht dachte, und bei diesen Gelegenheiten versäumte sie nicht, sich die unabweisbare Notwendigkeit ihres Handelns ein ums andere Mal zu bestätigen. Dadurch erhärtete sich ihre Vorstellung, sie habe tatsächlich nach einem Plan gehandelt, dessen strikte Einhaltung und Durchführung den angestrebten Erfolg gesichert hatten, und selbstredend wiesen Pläne auch weniger angenehme Seiten auf.
Was auch immer von ihrem Plan im Endeffekt zu halten ist, eines ist sicher: an dieser Stelle bietet sich ein interessanter Einblick in Tanias Wesen Psyche Charakter. Verfolgte sie denn nicht in ihrem bisherigen Leben stets irgendwelche Pläne? Doch wie waren diese beschaffen? Verdienten sie wirklich die Bezeichnung Plan? Ähnelten sie nicht eher rohen Entwürfen, Skizzen und Ideen, die allesamt niemals wirklich detailliert ausformuliert worden waren? Oder hatte sie vielmehr ständig Fakten geschaffen, mit deren Hilfe sie ihr Leben ordnen konnte und ein wenig auch ihre nächste Umgebung? Und zu guter Letzt: gleicht ihr Leben, ihr ständiges Beobachten der Welt, ihr unentwegt auf sie selbst zurückfallender Blick, ihr andauerndes sich selbst in Bezugsetzen zu . . . nicht doch einem Plan? Ideen - Entwürfe - Pläne: Voraussetzungen relativer Sicherheit in einer unsicheren Welt; sicherer Untergrund für einen festen Stand; ein gemütliches Zuhause während draußen der kalte Wind heult. Wer interessiert sich angesichts solcher Vorzüge für das Kleingedruckte? Was zählt ist das eigene Leben als Resultat eigener Handlungen, die der eigenen Souveränität entspringen und somit Zeugnis ablegen über die eigene Autonomie, oder anders ausgedrückt, den Beweis liefern, ein selbstständig handelndes Wesen zu sein.