Читать книгу Eine Geschichte über rein gar nichts - Thomas Arndt - Страница 12
Feiertage
ОглавлениеAls Frank mit seiner Geschichte am Ende angelangt war, sah Paul ihn ungläubig an. Er war zutiefst verwirrt. Anscheinend hatte er von der Beziehung seines Freundes ein völlig falsches Bild. Ein Berg von Fragen türmte sich in seinem Kopf auf, die allesamt zur gleichen Zeit nach einer Antwort strebten. Einander verdrängend, überlagernd und beiseite stoßend suchten sie jeweils die erste zu sein, die Paul stellen würde. In seinem Hirn entstand ein Chaos, das nur übereinander stürzende Gedanken auszulösen vermögen. Weder gelang es ihm, für Ordnung zu sorgen, noch eine einzige Frage so zu formulieren, dass sie einen Sinn ergeben hätte.
Noch bevor Paul seine Gedanken bändigen konnte, erklärte Frank, es eilig zu haben. »Aber etwas muss ich dich unbedingt noch fragen. Es geht um eine ganz und gar praktische Angelegenheit«, erklärte er und fuhr mit einer Stimme zu sprechen fort, die Paul an eine Allerweltsfrage denken ließ und nicht an eine existentielle: »Sag mal, jetzt wo Tania ausgezogen ist, zahlt sie eigentlich noch Miete, oder gehört die Wohnung quasi dir allein?«
Paul sah Frank mir offenem Munde an. Darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht, wie er beschämt feststellte, obwohl es sich um ein Problem höchster Dringlichkeit handelte. Er war finanziell keineswegs in der Lage, die Wohnung allein halten zu können. Er erklärte, diese Frage nicht beantworten zu können, dazu habe sie nichts gesagt. Darauf entgegnete Frank, dass ungeachtet aller Liebe solche praktischen Aspekte geregelt sein sollten. Paul stimmte vorbehaltlos zu, konnte aber zum Ärger seines Freundes keine weiteren Auskünfte geben.
Die folgenden Überlegungen, die allesamt Frank anregte, förderten zu Tage, dass Tania ihren Mietvertrag nicht gekündigt hatte. Daraus schlossen beide, dass sie weiterhin ihren Anteil zahlen müsse. Für Frank blieb unverständlich, warum Tania zwar mit Sack und Pack die Wohnung verlassen hatte, aber selbst ihr der Mietvertrag anscheinend nicht in den Sinn gekommen war.
Paul jedoch kam auf ganz andere Gedanken. Der nicht gekündigte Mietvertrag erklärte alles! Endlich machten ihre Worte Sinn! All die Verzweiflung der letzten Tage kam ihm so sinnlos, so unnötig vor, dabei hätte er sich nur an den Mietvertrag erinnern müssen und ihm wäre klar geworden, dass ihre Worte nicht nur so daher gesagt waren. Wenn sie weiterhin Miete zahle, rief Paul freudig aus, könne das nur heißen, dass sie ganz bestimmt zurückkommt. In einem plötzlichen Ausbruch eines lange nicht mehr erlebten Glücksgefühls zitterte er vor Aufregung, als ihm klar wurde, dass sie jederzeit, theoretisch in dieser Minute, ja sogar in dieser Sekunde durch die Tür hereinspaziert kommen könnte. Ja! Natürlich! Denn auch die Wohnungsschlüssel hatte sie behalten.
Frank teilte Pauls Meinung nicht. Schon als er ihm berichtet hatte, was vorgefallen war, dachte er nicht eine Sekunde lang daran, dass sie zurückkehren würde. »Paul!«, sagte er eindringlich. »Ich will dir deine Hoffnungen nicht nehmen, aber seien wir mal ganz ehrlich, glaubst du allen Ernstes, was du da gesagt hast? Ich meine, eine gewisse Logik kann ich deinen Gedanken nicht absprechen, aber ich glaube trotzdem, dass du dich irrst!« Frank untermauerte seine These, indem er bewies, dass Tania unlogisch gehandelt hatte, sonst hätte sie wenigstens die finanzielle Seite zur Sprache gebracht; und wo von Anfang an keinerlei Logik im Spiel gewesen sei, laufe man Gefahr, sich mit ihrer Hilfe zu verrennen. Es tat Frank ehrlich leid, zu sehen, wie er seinem Freund den Mut nahm, den dieser eben erst zurückgewonnen hatte. Bedauernd und mitleidend sah er ihn an, versprach bald wieder vorbeizuschauen, verabschiedete sich und ging.
Kaum hatte Frank die Wohnung verlassen, stieg in Paul eine namenlose Wut auf. Als diese nach einer Weile verflogen war, fühlte er sich müde und ausgelaugt und hätte nichts lieber getan, als hemmungslos zu weinen, um all seinen Schmerzen und seiner Traurigkeit einen Weg zu weisen, auf dem sie ihn verlassen konnten. Doch sie wollten ihn nicht verlassen! Sie machten es sich im Gegenteil noch gemütlicher in seinem brennenden Herzen und inmitten seiner winselnden Seele.
Pauls gescheiterter Versuch zu weinen führte zu so etwas wie einem Erstickungsanfall, mindestens sieben Minuten wälzte er sich röchelnd auf dem Boden. Als der Anfall überstanden war, geschah etwas Unvorhersehbares: geweckt durch diese wenigstens entfernt lebensbedrohliche Situation erlangte sein Verstand die Kontrolle über ihn zurück. Innerhalb kürzester Zeit gelang es Paul, sich alles Geschehene zu vergegenwärtigen. Gerade als er mehrere Optionen prüfte, die seine Situation verbessern sollten – unter Berücksichtigung verschiedener Szenarien, mit deren Hilfe er sich im Guten wie im Bösen klar zu machen versuchte, was noch auf ihn zukommen könnte – läutete das Telefon.
Nicht schon wieder!, war Pauls erster Gedanke, als er fühlte, wie Herz und Puls zu rasen begannen. Dahin war es mit der kurzen Weile der Ruhe. Adieu, meine lieben Freunde, meine Gedanken! Lebt wohl!, sagte er sich zynisch und fühlte in sich aufsteigen die Hitze seines vor Unsicherheit kochenden Blutes und vernahm die Schreie in seiner Seele, die für fremde Ohren nicht hörbar, für die eigenen jedoch deutlich Tanias Namen schrien. Und sich in sein Schicksal fügend nahm er den Hörer in die Hand, nuschelte etwas, was wohl sein Name sein sollte und wartete halb ohnmächtig darauf, die Stimme am anderen Ende zu hören.
»Na, Brüderchen!«, tönte es ihm fröhlich entgegen und noch bevor er etwas sagen konnte, fuhr die Stimme gutgelaunt und spöttisch fort: »Sag mal, wart ihr in den letzten Tagen nicht da? Ich habe so oft angerufen, aber mit mir will ja keiner reden. Nicht mal ans Handy bist du gegangen und sag mir ja nicht, dass dein Akku leer ist. Tania geht auch nicht ans Handy. Also ehrlich! Ich will nicht wissen, was ihr in den letzten Tagen getrieben habt! Aber das geht mich auch nichts an. Wie auch immer, du hast bald Geburtstag und ich soll von Mutter fragen, ob du zu Hause feiern möchtest. Na, was sagst du? Ist das nicht eine gute Idee? Du darfst sogar Wünsche hinsichtlich eines Kuchens äußern!«
Die Worte seiner Schwester ließen Paul erstarren. Stocksteif stand er mit dem Telefon am Ohr auf der Stelle und atmete so flach, dass man ihn hätte für tot halten können. Weil er nicht reagierte und seine Schwester sich deshalb auf den Arm genommen fühlte, rief sie ins Telefon, dass er ruhig auch mal etwas sagen dürfe. Ihre Aufforderung verfehlten eine gewisse Wirkung nicht. Tania habe ihn verlassen, brachte Paul mühsam heraus, von den Anrufen habe er nichts mitbekommen. Er erklärte, momentan nicht gewillt zu sein, ihr die ganze Geschichte zu erzählen, es aber nachzuholen, wenn sie sich anlässlich seines Geburtstages sehen würden. Er bat seine Schwester um den Gefallen, die Familie über sein Unglück in Kenntnis zu setzen und sie darauf einzustimmen, dass er wahrscheinlich nicht das Bedürfnis verspüren werde, mit den Eltern und den Verwandten darüber zu reden.
Die Schwester stimmte seinen Bitten zu und erkundigte sich – betrübt über ihre Worte, die ihr trotz der Entschuldigung der Unwissenheit über das ihrem Bruder Widerfahrene vollkommen verfehlt erschienen –, ob es ihm dennoch einigermaßen gut gehe. Paul entgegnete, dass die ersten Tage schlimm gewesen waren, und um sie zu beruhigen sagte er, dass er langsam wieder zu sich komme, sein Befinden sich zunehmend bessere und außerdem berichtete er von Franks Besuch, der ihm gut getan hätte. Auch wenn das alles nicht wirklich zutraf, sah Paul darin die einzige Chance, in der Zeit bis zu seinem Geburtstag besorgte Anrufe von Mutter und Schwester zu verhindern. So erbat er sich am Ende des Telefonats, dass die Familie ihm ein wenig Ruhe gönnen möge. Bald werde man sich wiedersehen und bis dahin wolle er sich ein wenig erholen.
Er machte sich keine Illusionen darüber, dass die Tage, die er bei seiner Familie verbringen würde, erholsam sein könnten. Er malte sich die besorgten und mitfühlenden Blicke seiner Angehörigen, die mit Ausnahme seiner Schwester keinerlei Einblick in sein Liebes- und Gefühlsleben hatten, in übertriebenen Bildern aus. Er wusste, dass sie auf diese Weise zu verstehen geben wollten, wie leid es ihnen tue, doch würden sie ihn dadurch nur an seinen Schmerz erinnern.
Als er so über die kommenden Tage nachdachte, überlegte er, ob es vielleicht besser wäre, seinen Geburtstag in dieser Situation nicht im Schoße der Familie zu begehen. Es fiel ihm schwer genug, allein klarzukommen, noch schlimmer wäre jedoch, wenn vor allem Mutter, wie er befürchtete, ihn zu trösten versuchte. Prinzipiell sei es annehmbar, sagte er sich, mit der Schwester oder Frank oder einigen anderen Freunden auf welche Weise und unter welchen Umständen auch immer Zeit zu verbringen, doch die Vorstellung von Familie und Geburtstag wurde Paul umso unerträglicher, je öfter er sich den Besuch zu Hause vorstellte. Dennoch gab es keinen Ausweg, seiner Verwandtschaft zu entrinnen. Der Anruf seiner Schwester war nur die Erinnerung an ein lange zuvor gegebenes Versprechen: sein fünfundzwanzigster Namenstag gehörte der Familie.
Grübelnd saß er auf der Couch und dachte darüber nach, wie zu vermeiden wäre, was unvermeidbar schien: eine auf Tania bezogene Anspielung, die Frage nach seinem Befinden und die Unterhaltungen der Familienmitglieder, die auch ohne seine Teilnahme und ohne Kenntnis von Einzelheiten und Hintergründen das Thema gründlich erörtern würden. Deshalb dachte er an ein paar Blätter Papier, die Tania einst unterschrieben hatte und fiel in die Gnade einer trügerischen Hoffnung. Vielleicht, stellte er sich vor, legte sich der Sturm ebenso schnell wieder, wie er heraufgezogen war. Selbst wenn Tanias Rückkehr wegen der knappen Zeitspanne nicht möglich sein sollte, könnte sie an der Feier teilnehmen.
Doch Tania kam nicht zurück! Und mehr noch: auch auf ein Lebenszeichen wartete Paul vergebens. Die Tage gingen dahin, ohne dass sich etwas änderte und ein wenig erstaunt nahm er immer gleichmütiger hin, dass Frank wahrscheinlich recht hatte und er nicht auf ihre Rückkehr warten sollte. Von Zeit zu Zeit kam ihm sogar der Gedanke, dass es besser wäre, sie ganz und gar zu vergessen. Doch wie dies zu bewerkstelligen sei, konnte er sich nicht im Entferntesten vorstellen.
Drei Tage verbrachte er bei seiner Familie und entgegen seinen Erwartungen wurde er mehr oder weniger in Ruhe gelassen. Die Schwester hatte offenbar erreicht, dass ihn niemand auf Tania ansprach. Nur die besorgte Miene der Mutter, die um ihren Sohn herumschlich und ihn, wie er nur allzu gut wusste, am liebsten in die Arme genommen und an ihre Brust gedrückt hätte, sowie eine Bemerkung seiner Nichte verrieten ihr Werk. Als die Vierjährige nach Tania fragte, der sie ihre neuen Puppen zeigen wollte, stand für einen Augenblick die Welt um Paul herum still. Die Kleine sorgte allerdings anschließend dafür, dass sie sich geschwind weiterdrehte, indem sie ihren Onkel verpflichtete, mit ihr zu spielen. Zwar wollte die Schwester ihre Tochter zurückhalten, weil sie Paul nicht in der rechten Stimmung vermutete. Doch beharrlich forderte sie ihr Recht und bescherte ihm ausgelassene Minuten voller Gelächter, in denen er nicht an Tania dachte.
Am Tag seiner Abreise folgte das längst fällige Gespräch mit der Schwester. Paul erzählte alles und ließ kein Detail aus, so sehr es auch schmerzte. Die Schwester lauschte geduldig und unterbrach ihn nicht. Anstatt ihn zu trösten – was Paul von ihr ohnehin nicht erwartet hatte –, erinnerte sie ihn anschließend daran, von Anfang an auf einige ihr merkwürdig vorkommende Eigenschaften Tanias hingewiesen zu haben.
Schon als Paul Tania vorstellte, wunderte sie sich über die stillen Augen und den ständig konzentrierten Blick der neuen Freundin ihres Bruders. Ihr schien, als warte Tania auf etwas Unvorhersehbares, für das sie bereit sein wollte, auch wenn es nicht eintreten würde. Ein Blick genügte der Schwester, um zu erkennen, dass diese Frau die Last eines unausgeglichenen und überspannten Wesens trug. Außerdem irritierte sie Tanias ausgesprochen höfliche, doch zurückhaltende Art, die ihrer Meinung nach nur absoluter Selbstkontrolle entspringen konnte. Es war so gut wie unmöglich, ein normales Gespräch mit ihr zu führen; sie beantworte lediglich die an sie gerichteten Fragen, um anschließend in ihr beobachtendes Schweigen zurückzufallen. Zwar war sie hilfsbereit und zuvorkommend und half bei anstehenden Arbeiten stets mit, ohne dass man sie darum bitten musste. Die Schwester vermutete jedoch, Tania beschäftige sich beispielsweise lieber mit dem Abwasch als mit der Familie. Durch ihr Verhalten wahrte sie eine unverständliche Distanz nicht nur Pauls Angehörigen gegenüber, sondern auch zu ihm.
Paul bestritt diese Vorwürfe heftig. Sie kenne Tania nicht, entgegnete er, und verstehe sie deshalb falsch. Die Schwester aber ließ sich nicht beirren und riet, dass man sich bei Menschen von Tanias undurchsichtiger Art am besten auf alles gefasst mache, obgleich sie dem Bruder nichts anderes wünschte, als dass er mit ihr glücklich werden möge.
»Es ist schon komisch, was so alles passiert und noch passieren könnte.«, sagte sie nachdenklich, als es über Tanias Auszug nichts mehr zu sagen gab.
Paul sah sie unverwandt an und verstand nicht, in welche Richtung ihre Anspielung wies. Als er nicht darauf einging fuhr sie schließlich fort: »Bei dir ist es die Frau gewesen, die ausgezogen ist. Hier könnte es der Mann sein.«
»Was?«, rief Paul verwundert. »Aber was ist denn los mit euch? Den ganzen Tag über habt ihr einen ziemlich harmonischen Eindruck gemacht!« Seine verwirrten Blicke trafen die Augen der Schwester.
»Oh! . . . Nein, nein! . . . Tut mir leid! Ich habe mich missverständlich ausgedrückt. Es geht nicht um uns. Bei uns ist alles in Ordnung.«, entgegnete sie und sah ihren Bruder forschend an. Nachdem sie jedoch nichts als Unverständnis in seinem Blick entdeckte, erklärte sie, dass es um die Eltern ging und es im Gegensatz zu den vielen kleinen Krisen, die sie im Laufe der Jahre gemeistert hatten, nun wirklich ernst werden könnte. Die Situation werde immer komplizierter, sagte sie. Anscheinend hätten Mutter und Vater es aufgegeben, ihre Probleme zu lösen. Sie habe den Eindruck, als würden sie sich immer weiter voneinander entfernen. Von der Mutter habe sie in Erfahrung gebracht, dass die Eheleute seit einiger Zeit in getrennten Betten und Zimmern ihre Nächte verbrachten. Der Vater habe eine ehemalige Abstellkammer ausgebaut, ein Bett und einen Fernsehapparat gekauft und dort aufgestellt. Sie nahmen die Mahlzeiten nicht mehr gemeinsam ein, die einst den Tagesrhythmus bestimmt hatten und neben anderen Ritualen und Aktivitäten die Familie miteinander verbanden. Das war bereits vor einigen Wochen geschehen und wie die Schwester erklärte, funktionierte das sich aus dem Weg gehen anfangs leidlich gut, doch mittlerweile ließ die Wirkung nach und beide wären schon genervt, wenn sie sich zufällig im Haus über den Weg liefen.
Für Paul war es nicht ungewohnt, durch seine Schwester von den Problemen der Eltern zu erfahren. Diesmal aber verwandelten sich ihre Nachrichten in Sturmwolken, die sich über ihm mit dem bereits tobenden Orkan vereinigten. Nur mit Mühe gelang es ihm unter Zuhilfenahme all seiner Kräfte, sich lächelnd von seiner Familie zu verabschieden. Tatsächlich taten Mutter und Vater dies getrennt voneinander.
Wenig später saß er im Zug und nutzte die Gelegenheit, sich in seinen Gedanken zu verbarrikadieren. Unvermittelt wurde ihm klar, dass ihm niemals zuvor in seinem Leben innerhalb kürzester Zeit so viele merkwürdige Geschehnisse widerfahren waren. Er rief sich Tanias Auszug vor Augen, erinnerte sich an die Geschichte, die ihm Frank über seine Beziehung zu Lisa erzählt hatte, und er dachte an seine Eltern, die gerade die schwerste Krise ihrer Ehe durchmachten. Paul beschlich das Gefühl, als würden alle denkbaren Katastrophen nur auf ihn hernieder prasseln.
Was käme als Nächstes, fragte er sich und fand einige Antworten: allein könne er auf Dauer die Miete nicht aufbringen; entweder stand ein Umzug bevor (den er nicht wollte), oder er müsse arbeiten, um die Wohnung wenigstens vorübergehend finanzieren zu können; dadurch aber drohte sein Studium in Verzug zu geraten.
Angestrengt dachte er darüber nach, wie er aus dem ganzen Schlamassel herauskommen könnte. Doch allenthalben stieß er auf Hindernisse, dergestalt, dass ihm klar wurde, nicht alleiniger Herr seiner Lage zu sein. Er war auf die Hilfe anderer angewiesen beziehungsweise darauf, dass niemand ihm Steine in den Weg legte.
Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass er nicht ohne warnende Anzeichen in diese Situation hineingeraten sein konnte. Binnen Sekunden wurde ihm diese Überlegung zur Gewissheit. Er fühlte sich beschämt, kam sich wie ein Idiot vor, der blind und taub durchs Leben stapft. Im Geiste schalt er sich ein Narr zu sein, ein Esel, ein Tor und dergleichen mehr. Doch in einer ruhigeren Minute sagte er sich, dass er sich erst einmal überzeugen müsse, gewisse Entwicklungen übersehen zu haben, bevor er über sich urteile.
Wieder in seiner Wohnung angekommen, stieg er aus psychischer Perspektive betrachtet viele Stufen in ein tiefes Tal hinab, das sich fernab seines bisherigen Lebens befand. Instinktiv wusste er, dass es da war, und auch ereilte ihn von Zeit zu Zeit die unangenehme Ahnung, dass es auf ihn warte und er eines Tages den beschwerlichen Weg auf sich nehmen müsse, um dorthin zu gelangen. Ohne je darüber nachgedacht zu haben, welchem Zweck dieses Tal dienen könnte, betrat er den Weg, der ihn, nun plötzlich sichtbar vor ihm liegend, ins Unbekannte führte. Schritt für Schritt sich seiner bisherigen Welt entfernend, verlor er den sicheren Halt, den er in ihr gehabt zu haben glaubte. Schritt für Schritt der Talsohle näher kommend, erwies sich dieser Halt immer mehr als Illusion, für die es nie eine überzeugende Begründung gegeben hatte.
Paul zögerte einen Moment angesichts dieser Erkenntnis. Er musste damit rechnen, am Ziel seines Weges keinen festen Boden unter den Füßen vorzufinden. Der Gedanke, losgelöst und fernab jeglicher fester Punkte sich nur noch an sich selbst klammern zu können, ängstigte ihn, und schon war er im Begriff umzukehren. Er ließ seine Blicke dem zurückgelegten Weg folgen. Zu seinem Erstaunen und gleichzeitigem Entsetzen führte der zwar in seine Welt zurück, doch zeigte sich diese ihm schon jetzt nicht mehr so, wie er sie gesehen und begriffen hatte und wie sie sich in seiner Erinnerung darstellte. Paul begriff, dass die Welt, in der er so lange gelebt hatte, für immer verloren war. Allein der Versuch zurückzukehren machte keinen Sinn. Wehmütig nahm er den Weg wieder auf und stieg weiter in das Tal hinab, geradewegs in die unendliche Einsamkeit seiner Gedanken, dorthin, wohin ein jeder sich zurückzieht, der ehrlich sucht und verstehen will.