Читать книгу Eine Geschichte über rein gar nichts - Thomas Arndt - Страница 8
Träumen
ОглавлениеNach dem Vorangegangenen fällt es schwer, plausibel zu erklären, warum sich Morpheus persönlich Pauls Träumen annahm, denn die einzige wahrheitsgetreue Erklärung mutet geradezu phantastisch an. Dessen ungeachtet mag sie umso glaubhafter erscheinen, führt man sich vor Augen, dass es sich bei den beteiligten Wesen nicht um Menschen handelt. Kurz und gut: seit Anbeginn der Zeit ging von Luna eine überaus starke Anziehungskraft auf Morpheus aus. Unter den Olympiern war es ein offenes Geheimnis, dass der Gott der Träume bis über beide Ohren hinaus mondsüchtig war. Als er schließlich Luna vor aller Zeit an Pauls Seite wahrnahm, konnte ihn nichts davon abbringen, zur einzigen Lichtgestalt seiner Nächte zu eilen, bevor ihre vorübergehende Körperlichkeit zwischen den Strahlen der Sonne verschwinden würde.
Paul schloss seine Augen in den frühen Nachmittagsstunden eines hellen und warmen Sommertages. Ohne es bemerkt zu haben, war er am Ende seiner Kräfte angelangt. Die Erwartung von Tanias Stimme, als das Telefon läutete und er den Hörer nicht abzunehmen vermochte, raubte ihm noch den letzten Rest Energie, dessen schieres Vorhandensein einem Wunder glich. Als er anstatt Tania Stefan über den Anrufbeantworter vernahm, hätte jeder Zeuge dieser Szene beobachten können, wie Paul zusammensackte. Er starrte noch lange auf das Telefon und konnte seine enttäuschten und immer leerer werdenden Blicke nicht davon losreißen. Ihm schien, als wäre in ihm eine Blase geplatzt, die, eben noch mit Hoffnung gefüllt, ihren Inhalt sinnlos verspritzt hatte. Das kleine bisschen Hoffnung, das ihm geblieben war und ihm sagte, noch war nichts verloren, dieses kleine bisschen Hoffnung, an das er sich so sehr geklammert hatte, war unwiderruflich und unnütz vergeudet. Paul spürte es genau, denn er spürte nichts!
Für einen kurzen Augenblick versagten ihm die Sinne. Durch die Blockade seiner Wahrnehmung der Welt entrückt, sah und lauschte er in eine ihm bisher unbekannte Leere (ja!, schon wieder eine Leere, schon wieder eine andere Leere, unterschieden von all ihren Vorgängerinnen; ist es nicht erstaunlich, wie viele Arten der Leere es zu geben scheint?), die weder angenehm, noch unangenehm war, von der er allerdings annahm, dass sie sich schon bald mit was auch immer füllen würde; sicherlich wäre das nichts Angenehmes, dachte er für einen Moment.
Es dauerte nicht lange und Luna betrat die Szene. Es störte sie nicht, dass die Nacht noch auf sich warten ließ und somit ihre Zeit noch gar nicht gekommen war. Für Paul machte sie ein Ausnahme und wurde einmal mehr zum Tagwandler. Er tat ihr einfach leid, wie er so kümmerlich auf dem Boden saß, in sich zurückgezogen und nicht bemerkend, dass sie bei ihm war. Sie schloss die Fenster und zog die Vorhänge zu. Weil es dadurch aber nicht dunkel werden wollte, ließ sie ihrer rechten Hand eine ganz und gar unirdische Finsternis entströmen, vor der auch der letzte Lichtstrahl floh.
Paul hatte längst seine Augen geschlossen. Als es vollkommen dunkel war, kroch Lunas geballt Müdigkeit nie geschlafener Nächte in seine Glieder und machte es sich dort behaglich. Paul fühlte sich schwer wie ein riesiger glatter Stein, fragte jedoch nicht nach dem Grund, dachte ebenso nicht darüber nach, wie es sein konnte, dass . . ., denn Denken war nicht mehr möglich. Außerdem war er nicht in der Lage, sich über das viel zu tiefe Schwarz zu wundern, das auf wundersame Weise durch seine geschlossenen Augen drang.
Einen Moment noch blieb Luna an seiner Seite. Als er eingeschlafen war legte sie ihn in auf die Couch, küsste ihn sanft auf die Stirn und verließ das Zimmer. Nach geraumer Zeit erschien Morpheus. Zwar war Luna schon verschwunden, doch vermutete er, dass sie später noch einmal nach Paul sehen werde. Und in der Zwischenzeit?
Morpheus sah den Schlafenden an und wartete auf die Traumphase, doch lange geschah nichts. Der Gott setzte sich Paul gegenüber in einen Sessel, sodass er freien Blick auf ihn hatte. Er bemerkte, dass dieser kaum atmete und sich nicht rührte; es schien, als sei er dem Tode näher als dem Traum. Morpheus scheute sich jedoch, in irgendeiner Form einzugreifen. Er machte sich ein Bild über Pauls Situation, über den Zustand seines Körpers, seiner Seele, seines Verstandes und seiner Gefühle. Es gefiel ihm nicht wirklich, was er sah, doch das galt für vieles, was er in Jahrtausenden auf der Erde gesehen hatte, und getrost konnte er sich sagen, dass es nicht wenigen Menschen wesentlich schlechter ging als Paul. Dennoch war er bei ihm und nirgendwo anders. Und nun, da er einmal hier war, wollte er wenigstens sehen, wer von seinen Helfern sich Pauls Träumen annahm.
Morpheus wartete Stunde um Stunde. Die Nacht hatte den Tag abgelöst. Pauls Schlaf dauerte ohne Unterbrechung an und befand sich längst in der richtigen Tiefe, die Morpheus und seine Gehilfen benötigten, um ihrer Arbeit nachgehen zu können. Doch Paul träumte nicht. Allem Anschein nach kümmerte sich niemand um ihn.
Nachdem Paul einige Stunden traumlos geschlafen und die Uhr Mitternacht bereits überschritten hatte, begab sich Morpheus einer Laune nachgebend zu dem Schlafenden und flüsterte ihm ins Ohr. In Pauls Unterbewusstsein angekommen, verwandelten sich die Worte in Bilder und wurden zu Szenen. Paul träumte, während Morpheus an seiner Seite saß und beobachtete, welche Wirkung seine Einflüsterungen hervorriefen.
Als der Gott bemerkte, welch merkwürdiger Traum sich entwickelte, wurde er unzufrieden. Es ging ihm keineswegs darum, Paul etwas Angenehmes erleben zu lassen, vielmehr war er über seine Arbeit enttäuscht und fühlte sich bemüßigt, es besser zu machen, sich zu genügen. Denn die Worte, die er Paul in den Schlaf geschickt hatte, hatten nichts als Chaos ausgelöst. Zwar handelte es sich um durchaus positiv zu verstehende Begriffe wie Sonne, Blumen, Lachen, Schönheit und dergleichen mehr, doch wusste Pauls Unterbewusstsein nichts Rechtes mit ihnen anzufangen. Kaum waren sie dort angelangt, riefen sie allesamt gegenteilige Assoziationen hervor. Die Sonne erzeugte eiternde Blasen auf der Haut, Blumen verwelkten oder wurden von schweren Stiefeln zertrampelt, ein lachender Mund verhöhnte etwas unsagbar Schönes, das sich daraufhin schreiend und weinend in eine abscheuliche Fratze verwandelte, der selbst die Sonne den Rücken kehrte.
Morpheus wunderte sich. Hatte tatsächlich er das ausgelöst? Warum war alles so verworren, so unzusammenhängend? Irgendetwas stimmte mit Paul nicht, war er sicher, doch das ging ihn nichts an. Wenigstens wollte er aber dafür sorgen, dass Paul in dieser Nacht einen Traum träumte, der eines göttlichen Schöpfers würdig war.
Zu diesem Zweck verbannte er alle Gedanken aus Pauls Unterbewusstsein. Er schuf eine absolute Leere (in diesem Falle sozusagen eine Art Arbeitsplattform), in der er erzeugen konnte, was immer er wollte. Nichts blieb im Kopf des Schlafenden zurück, was sein Werk hätte stören können. In dieses Nichts hinein projizierte er absolute Dunkelheit und Stille. Er tat das langsam und behutsam, sodass es den Schlafenden nicht überfiel und erneut Resultate zeitigte, die er verhindern wollte. Als er sah, dass Pauls Schlaf ruhiger wurde, er also in der gewünschten Weise reagierte, fügte Morpheus der Dunkelheit und der Stille eine entscheidende Eigenschaft hinzu: Wärme! Der Träumende empfand eine wohlige, angenehme Wärme, die seinen Traum schon bald vollkommen ausfüllte. Nun war es für Morpheus an der Zeit, sich zu verwandeln, die Traumtür zu öffnen und einzutreten.
Der Gott wurde zu einem Augenpaar, das durch Dunkelheit, Stille und Wärme wanderte und Paul zeigte, was er sehen sollte. Anfangs sah er natürlich rein gar nichts, bemerkte nur eine zaghafte, leichte, vorsichtige Bewegung, die suggerierte, dass er lief. Trotz der Finsternis ging er festen Schrittes voran; keine Unebenheit säumte den Weg, kein Stein, über den er stolperte. Er wusste nicht, wohin der Weg ihn führte. Doch er vertraute den Füßen, die ihn vorwärts trugen, über die er aber nicht sagen konnte, sie wären die seinen, da er sie weder sah noch spürte.
Mit jedem Schritt wuchs eine namenlose Erwartung in Paul. Er fühlte, dass er sich auf etwas zu bewegte. Er spürte, dass etwas kommen musste, dass er bald etwas sehen würde, irgendwo dort, inmitten der Dunkelheit, genau dort, wohin er von unsichtbaren Füßen getragen wurde.
Eine Weile ging er so weiter. Nach einiger Zeit kam es ihm so vor, als werde es langsam heller und er dachte, seine Augen hätten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Doch plötzlich sah er einen Stern hoch am Himmel stehen. Er betrachtete ihn außergewöhnlich lange, um sicher zu gehen, dass er wirklich da war und er sich nicht täuschte. Der Stern verschwand nicht und sein Licht leuchtete stärker und heller, je weiter er ihm entgegen schritt. Und schon entdeckte er einen zweiten Stern und dann einen dritten, einen vierten und schließlich einen fünften. Es wurde heller und heller.
Unvermittelt blieben die Füße stehen. Sich umblickend prüfte Paul die Umgebung, die er erst jetzt wahrnehmen und erkennen konnte. Er fand sich inmitten einer märchenhaften Landschaft. Eine weithin verschneite Ebene breitete sich vor seinen Augen aus, die in großer Entfernung, die nicht abzuschätzen war, in eine bewaldete Hügelkette überging, die ebenfalls mit Schnee bedeckt war. Jedoch war er zu weit entfernt, als dass er Details hätte unterscheiden können.
Paul spähte in alle Himmelsrichtungen und stellte fest, dass die Hügelkette scheinbar einen geschlossenen Kreis bildete. Vielleicht befand er sich inmitten einer riesigen Lichtung in einem noch größeren Wald, war der erste Gedanke, der ihm in den Sinn kam. Aber wie war er an diesen Ort gelangt, fragte er sich, und suchte vergebens einen Weg. Hatte er unbemerkt die Kette überquert? Nicht einmal seine eigenen Fußspuren im Schnee konnte er finden.
Paul war sich nicht mehr sicher, wirklich durch Dunkelheit gewandert zu sein. Womöglich hatte er sich alles nur eingebildet, hatte keinen Schritt vorwärts getan? Er dachte nach und kam zu keiner Antwort. Er hatte nichts sehen können, als er sich fortzubewegen glaubte, rief er sich ins Gedächtnis. Er wusste nicht, ob es überhaupt seine Beine gewesen waren, die ihn getragen hatten. Außerdem widersprach die geschlossene Schneedecke der Vorstellung, er sei zu Fuß hierher gekommen. Hatte Wind seine Spuren verweht, überlegte er, bemerkte aber sofort, dass es absolut windstill war, nicht einmal ein laues Lüftchen war zu spüren. Auch war kein neuer Schnee gefallen, seit er die Umgebung sehen konnte, war sich Paul sicher. Es gab keine Erklärung dafür, wie er hierher gelangt war.
Da stand er nun und wusste nicht, wo er sich befand, geschweige denn, wie er diesen verzauberten Ort erreicht hatte. Allerdings führte das nicht dazu, dass er sich in irgendeiner Form unwohl fühlte. Kaum war ihm bewusst geworden, dass er dieses Rätsel nicht lösen konnte, konzentrierte er sich wieder auf seine Umgebung. Diesmal blieb sein Blick ungetrübt von jeglichen Gedanken und er sah die winterliche Landschaft in ihrer vollen Pracht. Er ließ die Stille wirken, er öffnete sich der Weite, er war bereit, die Kälte des Winters aufzunehmen, die – dem Gott sei dank – ihn nicht frösteln machte.
Er blickte nach oben und fand Luna in ihrer vertrauten Gestalt direkt über seinen Kopf; in solch ungewöhnlicher Nähe hatte er sie noch nie zuvor gesehen. Wie weit mochte sie entfernt sein? Eine Handbreit, eine Armlänge? Bestimmt könne er sie berühren, dachte er, und noch bevor er diesen zugegebenermaßen unsinnigen Gedanken verwerfen konnte, spürte er, wie ihre Anziehungskraft sich seiner Arme bemächtigte, dieselben anzog, als seien sie Wassermassen, und staunend konnte er mit ansehen, wie sich seine Händen nach ihrem Licht reckten, vollkommen losgelöst und unabhängig von seinem Willen. Doch Paul war zu klein. Einige Zentimeter fehlten, um mit den Fingerspitzen ihr leuchtendes Antlitz berühren zu können. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, doch auch das genügte nicht. Gerade wollte er aufgeben, da kam sie ihm ein Stück entgegen. Paul wunderte sich nur kurz und streckte erneut seine Hände aus. Vorsichtig und behutsam berührte er sanft ihre Oberfläche, die sich rau anfühlte und unebener war, als es den Anschein hatte, von der aber nichts desto Trotz eine angenehme Wärme ausging, die er auf seiner Hand spürte. Nachdem er Luna mit den Fingerspitzen solange im Kreis gedreht hatte, bis er sie von allen Seiten ausgiebig betrachtet hatte und sich ein leichtes Schwindelgefühl ihrer bemächtigte, gab er ihr einen vorsichtigen Stoß mit dem Zeigefinger, sodass sie sich an ihre angestammte Position zurückbegeben konnte.
Paul fühlte sich leicht, glücklich, gelöst und zufrieden. Er stand noch immer umgeben von verschneiten Hügeln einsam und verlassen in einer Winternacht. Nichts regte sich um ihn herum. Er starrte geradeaus und fand keinen Grund, etwas anderes zu tun, es gab keinen Anlass, den Zauber dieser Situation zu brechen. So viel Stille, so viel Ruhe, so viel Frieden, keine anderen Menschen; er wollte bleiben, solange er nur konnte.
Nach einer unbestimmten Zeit, die dem Träumenden ewig schien, verspürte er das Verlangen, diesen Ort zu verlassen. Längst hatte er seine Augen geschlossen, um die Ruhe noch besser genießen und aufnehmen zu können. Und als er sie wieder öffnete, um weiterzugehen, blickte er erneut in jene Finsternis, die er durchschritten hatte, bevor Luna und ihre Sternenkinder ihn mit ihrem Licht begrüßt hatten. Wieder fühlte er, wie er sich festen Schrittes vorwärts bewegte. Wiederum fragte er sich, ob es seine Füße waren, die ihn trugen, und auch diesmal fand er keine Antwort. Irgendwann werde es wieder heller, sagte er sich, eine Lichtquelle würde die Dunkelheit durchbrechen und ihm zeigen, wo er sich befand. Weitere Gedanken machte er sich nicht, denn in ihm war tiefes Vertrauen, das alles umfasste und weder begründet werden konnte, noch musste. Dieses Gefühl war einfach da und sorgte dafür, dass er mit allem, was er tat und auch mit allem, was ihm geschah, vollkommen im Einklang stand. Er schloss seine Augen aufs Neue und wollte sie erst wieder öffnen, wenn er von den unsichtbaren Füßen nicht mehr weitergetragen werden würde.
Als Paul seine Augen wieder öffnete, fand er sich unversehens in einem Zugabteil wieder. Der abrupte Wechsel der Situation beunruhigte ihn nicht, er blieb entspannt. Ein Blick aus dem Fenster genügte ihm, um die Strecke zu erkennen. Unzählige Male schon hatte er sie im Zug befahren, wenn er von seiner Heimatstadt in die Stadt fuhr, in der er studierte und natürlich ebenso in umgekehrter Richtung. Er bemerkte, dass er der Universitätsstadt näher kam und bald deren Bahnhof erreichen musste; er nahm an, dass er in wenigen Minuten aussteigen würde. Als der Zug jedoch den Bahnhof erreichte, machte Paul keinerlei Anstalten, ihn zu verlassen. Er blieb sitzen, grundlos und unmotiviert, sah aus dem Fenster und beobachtete die Menschen, die mehr oder weniger hastig den Bahnsteig entlang eilten; dann fuhr der Zug weiter.
Nach wenigen hundert Metern überkam Paul ein Gefühl der Beklommenheit. Ja, natürlich, er hätte aussteigen müssen! Warum war er geblieben, fragte er sich, war ihm doch völlig klar, am Ende der Reise angelangt zu sein. Er dachte nach und fand keine einleuchtende Antwort. Während er nachdachte, blickte er abwesend aus dem Fenster. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass ihm die Gegend entlang der Strecke ein anderes Gesicht zeigte, als er in Erinnerung hatte. Sicher, allzu oft fuhr er nicht hier vorbei und auch sonst bot ihm dieser Landstrich keine besonderen Gründe, ihn besser kennengelernt zu haben, doch begründete das nicht, was er sah beziehungsweise nicht sah.
Schon kurz nach dem Bahnhof verschwanden die Häuser der Stadt und gingen in eine ländliche Gegend über. Dort, wo Paul das Industriegebiet erwartete, zeigten sich seinen Augen lediglich ein paar Äcker, Wiesen, vereinzelte Bäume und in weiter Entfernung konnte er geradeso noch eine Straße ausmachen. Er wunderte sich und überlegte, wo der Zug wieder Halt machte. Er erinnerte sich an ein kleines eingemeindetes Örtchen, das zwar über einen Bahnsteig, jedoch nicht über ein Bahnhofsgebäude verfügte, bestimmt hielt der Zug dort. Er würde aussteigen und zu Fuß in die Stadt zurückgehen müssen, sagte er sich; eine lange Wanderung stand ihm bevor.
Immer fremder wurde die Gegend. Je weiter sich der Zug von der Universitätsstadt entfernte, desto schneller wurde er. Paul schien, es existiere ein geheimer Zusammenhang zwischen Geschwindigkeit und Fremdheit. Bald konnte er die Landschaft nicht mehr erkennen, sie verschwamm, wurde durch die Geschwindigkeit verzerrt. Nun fiel ihm auf, dass immer mehr Fahrgäste schwankend, mit den Armen rudernd und jeden sich bietenden Halt nutzend zu den Türen eilten, während der Zug unentwegt weiter raste und sein Tempo noch zu steigern schien. Er verstand sie nicht, verrückt mussten sie sein, meinte er, und presste sich tiefer in den Halt gebenden Sitz. Er war sicher, dass noch einige Minuten bis zum nächsten Halt vergehen würden. Die Menschen jedoch drängten in einer ständig größer werdenden Traube zum Ausstieg. Dort stießen sie einander an, verdrängten andere, wurden selbst verdrängt und strebten doch beharrlich, und ohne den geringsten Laut von sich zu geben, dem Ausgang näher und näher. Warum sie bei diesem Mordstempo schon zur Tür eilten, fragte sich Paul und staunte über die Selbstverständlichkeit, mit der sie das taten und die ihn erschütterte. Irrte er sich etwa? Saß er im falschen Zug? Fuhr er gar in die falsche Richtung? Oder gab es eine Station, die er nicht kannte?
Plötzlich verlangsamte der Zug seine Fahrt und kam abrupt zum Stehen. Die Tür öffnete sich und die Wartenden in ihrer Nähe stürzten hinaus. Kaum einer von ihnen kam wieder auf die Beine, weil sie von den Nachrückenden einfach überrannt wurden. Obwohl Paul nicht wusste, wo er sich befand – das war nicht die Station, die er erwartet hatte –, lief er eilig zum Ausstieg, trat ebenso rücksichtslos auf die Liegenden und verließ den Wagon, sagte ihm doch eine zwingende Eingebung, dass hier Endstation war. Als er ausgestiegen war, fuhr der Zug sofort weiter und war binnen Sekunden in einem nahegelegenen Wald verschwunden.
Ratlos stand Paul auf dem Bahnsteig und schaute sich aufmerksam um. Nur noch eine Handvoll der vielen Menschen, die wie er den Zug verlassen hatten, war zu sehen. Von den anderen fehlte jede Spur, sie schienen sich in Luft aufgelöst zu haben. Es gab weder ein Bahnhofsgebäude noch einen Bahnsteig, der diese Bezeichnung verdient hätte, sogar der obligatorische Fahrkartenautomat, der höchstwahrscheinlich defekt gewesen wäre, ließ sich nirgends finden; hier gab es absolut nichts, was einen haltenden Zug und aussteigende Menschen hätte rechtfertigen können. Ein paar Häuser, die anscheinend ein kleines Dorf bildeten, entdeckte er in einiger Entfernung hinter dem Gleis. Sie kamen ihm unwirklich vor. Seiner Meinung nach gehörten sie nicht hierher. Er kannte die Namen der Orte, die die Stadt umgaben, und ging sie der Reihe nach durch. Dieses kleine Dörfchen war ihm unbekannt.
Was sollte er tun, überlegte er eine Weile und meinte, dass es am vernünftigsten wäre, auf den nächsten Zug zu warten, um in die Stadt zurückzufahren. Er hielt Ausschau nach einem Fahrplan, konnte jedoch keinen entdecken. Bei genauerer Betrachtung wies nichts darauf hin, dass hier jemals wieder mit einem Zug gerechnet werden konnte, wie ihm bewusst wurde.
Paul befand sich im Nirgendwo, in der Nähe eines Ortes, den er nicht kannte, in einer Landschaft, die ihm fremd war, und selbst die wenigen Menschen, die noch hier waren, machten ebenso wenig wie er den Eindruck, als hätten sie einen Grund dafür. Unschlüssig standen sie entweder an Ort und Stelle, oder taten zaghaft ein paar Schritte irgendwohin, um schnell wieder umzukehren. Paul musste nicht lange überlegen, um zu erkennen, dass mit ihnen nichts anzufangen war.
Er wurde ungeduldig, wollte nicht länger herumstehen und unnütz Zeit vergeuden. In seinen Augen lag es nahe, im Dorf nach einer Bushaltestelle zu suchen, um mit dem Bus in die Stadt zurückzugelangen; sollte es keine Haltestelle geben oder er könne keine finden, bestand immer noch die Möglichkeit, den Weg zu Fuß zurücklegen. Er war fest davon überzeugt, dass er vom Dorf aus weiter käme und sicher würde er auch Bewohnern begegnen, die ihm weiterhelfen konnten.
Entschlossen marschierte Paul los und betrachtete die Menschen, die wie Vergessene-Abgestellte noch immer an Ort und Stelle standen, wo sie der Zug ausgespuckt hatte, und teilnahmslos vor sich hin starrten. Nach einigen Sekunden sah er zwei Männer auf sich zukommen, die sich angeregt unterhielten. Sie erweckten den Anschein, als hätten sie ein Ziel und Paul kam unvermittelt der Gedanke, sie anzusprechen und zu fragen, ob er mit ihnen gehen dürfe.
Ach, wie gut es doch tat, die zwei Unbekannten zu sehen, die allein schon deshalb diesem Ort so etwas wie Normalität verliehen, weil sie miteinander sprachen. Denn obwohl Paul nicht allein hier war, fühlte er sich verlassen.
Endlich waren sie ihm soweit entgegengekommen, dass er sie erkennen konnte. Überrascht stellte er fest, dass es Kommilitonen waren, mit denen er nicht nur einige Veranstaltungen besucht hatte, sondern auch einige Kneipen. Ihre pure Anwesenheit genügte, um ihm das Gefühl zu geben, nicht fehl am Platze zu sein. Aber was hatte sie hierher geführt, fragte er sich, warum entfernten sie sich vom Dorf und von diesem merkwürdigen Bahnhof? Wo wollten sie hin? Wäre ihnen seine Gesellschaft gar unlieb?
Schon waren sie nicht mehr weit voneinander entfernt. Paul lächelte ihnen zu, als Zeichen, dass er sie erkannt habe und dass es ihn freue, sie zu sehen. Auch seine Kommilitonen erkannten ihn, lächelten ebenso und grüßten, unterbrachen ihre Unterhaltung jedoch nicht, sondern gingen eilig vorüber, ohne ihn weiter zu beachten. Auch Paul verlangsamte seine Schritte nicht, sah sich nicht nach ihnen um. Bestimmt wollten sie ohnehin nicht in die Stadt zurück, sagte er sich, und war froh, dass er nicht durch smaltalk aufgehalten wurde, aber auch betrübt, weil er nicht in den Genuss ihrer vertrauten Gesellschaft kam.
Unmittelbar danach bemerkte Paul, der parallel zum Gleis lief, dass dieses einige Meter vor ihm von einem anderen gekreuzt wurde. Von seiner Position aus entstand der Eindruck, als liefen die Gleise in einem Winkel von 90° aufeinander zu. Das musste ein Irrtum, meinte er, denn eine Überschneidung im rechten Winkel kam für eine Bahnstrecke nicht in Frage! Sicherlich täuschten ihn seine Augen gerade. Das Trugbild würde sich auflösen, sobald er nah genug herangekommen war und deutlich sehen könne, was er augenblicklich nicht richtig erfassen konnte. Doch der Irrtum löste sich nicht auf, sondern bestätigte sich vielmehr als unwiderrufliche Gewissheit: die Gleise begegneten sich im rechten Winkel! Paul blieb stehen und grübelte, ob es einem Zug überhaupt gelingen könnte, an solch einer Kreuzung abzubiegen, falls das der Sinn dieser Konstruktion sein sollte. Es war unmöglich, meinte er, weil er keinerlei versteckte Hilfsmittel entdecken konnte, die ein solches Manöver möglich gemacht hätten.
Während er die Schienenstränge verfolgte soweit es ihm seine Augen erlaubten, fragte er sich, wer so einen Unsinn gebaut hatte und vor allem warum. Noch immer konnte er nicht glauben, was er sah. Die Gleise trafen im rechten Winkel aufeinander, basta! Aber wodurch ließ sich das erklären? Paul blickte in alle Richtungen, um festzustellen, ob sich ein Zug näherte. Da er keinen sehen konnte, stieg er auf die Gleise und stellte sich in die Mitte des Kreuzes, das von ihnen gebildet wurde. Merkwürdig, dachte er. Die Schienen verliefen bis zum Horizont auf drei Seiten kerzengerade, auf der vierten verschwanden sie im Wald. Auch hier war nicht einmal die kleinste Biegung zu sehen. Wer nur hatte diese kerzengeraden Metallfäden auf die Erde gelegt, fragte er sich ratlos, erstaunt und vollends verwirrt, und betrachtete noch immer sich in alle vier Richtungen wendend die Gleise.
Zu einer Geraden werden sie in der Ferne, dort, wo das Auge sie allmählich verliert. Und wenn sie Geraden, Striche und Linien werden, dann sind sie es schon hier. Ich kann es nur nicht sehen, weil ich genau auf dem Kreuz stehe, das in Wirklichkeit ein Punkt ist.
Als es nichts mehr zu sehen und zu entdecken, doch umso mehr zu verstehen gab, setzte Paul, alle Gedanken beiseite schiebend, seinen Weg fort. Nun waren es nur noch wenige Schritte, die ihm vom Dorf trennten. Er lief an ein paar spielenden Kindern vorbei, die wie aus dem Nichts plötzlich aufgetaucht waren und denen er einen Ball zurückgab, der ihn fast getroffen hätte. Sie blieben stehen und musterten neugierig den Fremdling, gerade so, als hätten sie noch nie in ihrem Leben einen Menschen gesehen. Erst als er das Dorf erreicht hatte, spielten sie lärmend weiter.
Das Dorf war merkwürdig! Im Gegensatz zu den Schienen entdeckte sich ihm der Ort so verwinkelt, wie nur irgend möglich. Zwei, allerhöchstens drei Häuser standen nebeneinander, bevor die nächste Biegung den Blick auf das folgende Haus entweder versperrte oder freigab, je nachdem, wie die Kurve verlief. Die Bauten waren allesamt recht klein, nicht eines konnte Paul entdecken, dass über ein Obergeschoss verfügte. Vielleicht waren die Erdgeschosse im Boden versunken, stellte er sich vor, und die Türen, die er sehen konnte, waren erst im Nachhinein in der oberen Etage eingebaut worden. Ein wenig belustigte ihn dieser Gedanke, der sich jedoch rasch verflüchtigte, als ihm klar wurde, dass er bisher weder eine Menschenseele gesehen, noch einen Laut vernommen hatte.
In jedem Dorf gibt es Hunde, Katzen, Schweine, Hühner und was weiß ich, was noch alles für Viecher auf dem Land gehalten werden, dachte Paul, während er vergebens nach Anzeichen für Leben suchte. Nicht einmal Fliegen, Bienen oder andere Insekten flogen durch die Luft, keine Katze überquerte die Straße oder streckte im Schatten eines Baumes alle viere von sich, und auch kein Hund lauerte hinter einem Gartenzaun, um Paul mit seinem plötzlich losbrechenden Gekläffe einen tüchtigen Schrecken einzujagen; einzig die Häuser sagten ihm, dass hier Menschen leben mussten.
Er ging zum nächstbesten Haus, klopfte an die Tür und trat ein, obwohl ihn niemand dazu aufgefordert hatte. Absolute Dunkelheit herrschte im Inneren, die das einfallende Licht sofort absorbierte. Die Finsternis war so undurchdringlich, dass jenseits der Schwelle rein gar nichts zu erkennen war; ihn überkam das Gefühl, in einen luftleeren Abgrund zu blicken. Auf der Suche nach einem Lichtschalter klammerte er sich am Türrahmen fest. Die freie Hand tastete die Wände ab, die kalt und glatt waren, und er wagte nicht, mehr als einen Arm dem Dunkel zu überlassen; Paul fürchtete, in den Raum hinein gesogen zu werden, sich zu verirren und nie wieder zum Licht zurückzufinden. Die Gefahr, die zweifellos im Unsichtbaren lauerte, war ihm zu groß und er schloss die Tür. Daraufhin versuchte er sein Glück in weiteren Häusern, mit dem gleichen Erfolg.
Resigniert, auch weil es offensichtlich keine Bushaltestelle gab, nahm er den Weg wieder auf. Der Tag ging gemütlichen Schrittes dem Ende entgegen, doch beschlich ihn das Gefühl, dass diese Schritte nicht so gemütlich waren, wie er dachte. Wenn er noch vor Einbruch der Nacht zu Hause sein wollte, musste er sich angesichts der zurückzulegenden Strecke sehr beeilen. Schnell erreichte er das Ende des Dorfes und obwohl er weder wusste, wo er war, noch, in welche Richtung er lief, fühlte er, dass er nur der Straße folgen musste, um zurück in die Stadt zu gelangen.
Die Zeit drängte wirklich, schon konnte man ahnen, wie die Dämmerung hinter dem Tageslicht lauerte. Gnadenlos würde sie sich auf den Wanderer stürzen, um ihm den Heimweg zu erschweren. Sogar die Straße schien mit der Dämmerung verbündet, schickte sie sich doch plötzlich an, einen steilen Berg zu erklimmen.
Wo dieser Berg auf einmal herkam, fragte sich Paul verwundert. Nur kurz hatte er in die Ferne geschaut und als er seine Blicke wieder geradeaus richtete, türmte sich dieser Berg vor ihm auf, hoch wie ein Turm. Angesichts dieses Hindernisses blieb er stehen. Entmutigt und doch fasziniert sah er zum Gipfel empor. Es würde Stunden dauern, zu Fuß hinauf zu gelangen, doch zeigte sich keine Möglichkeit, den Berg zu umgehen. Paul musste ihn erklimmen, er hatte keine Wahl! Und danach, sagte er sich, hätte er einen bequemen Spaziergang vor sich, es könne dann nicht mehr weit bis zur Stadt sein.
Kaum war er einige Meter gegangen, konnte er den Fuß des Berges schon nicht mehr sehen, als er einen letzten Blick zurück auf das Dorf warf. Schneller als erhofft kam er dem Gipfel näher und näher. Und je näher er ihm kam, desto mehr staunte er, dort oben ein Gebäude zu erblicken, dass sich, ganz allmählich aus der Unschärfe der Entfernung herausschälend, als einfacher quadratischer Bau entpuppte.
Paul vermochte sich nicht vorzustellen, was es damit auf sich hatte. Ein einfaches Viereck, das auf einem Berg stand? Aber ja, so war es! Es war nicht zu leugnen! Man hatte tatsächlich ein Viereck aus Beton auf die Kuppe des Berges mitten über der Straße gebaut. Ein Viereck, wirklich nur ein Viereck! Vier Mauern mit einem Flachdach und, wie er erkennen konnte, mit einem Tor, das aussah wie ein Garagentor.
Was sollte das nun wieder bedeuten? Wieso befand sich hier ein solch merkwürdiges Gebäude? Warum war es mit einem Tor verschlossen, fragte sich Paul und sann, das Viereck betrachtend, über eine Erklärung nach, die den Sinn desselben enthüllen konnte. War es eine Art Schutzbau für die Autos, die über den Gipfel fuhren, damit sie nicht bei stürmischem Wetter ins Tal geweht wurden? Oder war es ein Regen-, Sonnen-, oder Frostschutz für die Straße, damit diese nicht der Witterung ausgesetzt war? Paul fand keine vernünftige Antwort und argwöhnte, dass es eine solche womöglich nicht gab. Jedoch wurde er der Suche schnell überdrüssig und, sich der vergehenden Zeit erinnernd, beschloss er, der Sache auf den Grund zu gehen.
Das Tor war fest verschlossen, wie Paul feststellen musste. Unschlüssig stand er davor und überlegte, was er tun sollte. Er hatte längst bemerkt, dass an eine Umgehung nicht zu denken war. Steil, schroff und voller scharfer Kanten fiel der Fels unmittelbar rechts und links neben dem Gebäude ins Tal hinab. Der bloße Gedanke an einen Versuch schien Paul wie eine konkrete Gefahr für Leib und Leben.
Es musste einen Weg hinein geben, denn Paul konnte nicht einfach wieder umkehren. Er musste in die Stadt und zwar schnell, möglichst vor Einbruch der Dunkelheit. In der Überzeugung, einen Nebeneingang zu finden, lief er an der Wand entlang. Und schon nach wenigen Sekunden fand er eine Tür, die sich ohne Schwierigkeiten öffnen ließ und ins Innere führte.
Eine gewaltige Halle tat sich vor seinen Augen auf! Sie besaß jedoch kein Dach, wie Paul irrtümlich angenommen hatte – die Halle war gar keine Halle. Gefesselt von der schieren Höhe der gewaltigen Mauern blickte er gen Himmel und wunderte sich, dass das Gebäude von außen wesentlich kleiner wirkte. Dann betrat er die Straße, ging ein paar Schritte und folgte ihrem Verlauf mit den Augen. Jäh blieb er stehen, als ihm gewahr wurde, dass sie nach einigen Metren abriss und sich dort auch keine Wand befand. Vorsichtig lief er zu der Stelle und blickte in einen tiefen Abgrund. Die Felswand fiel hier beinahe senkrecht ab und ließ man seinen Blick in die Tiefe gleiten, konnte man hier und da ein paar Autowracks entdecken beziehungsweise das, was von ihnen übrig geblieben war, nachdem sie in die Tiefe gestürzt waren. Schnell wich er ein paar Schritte zurück, um die Gefahrenzone zu verlassen. In Sicherheit blickte er in die Ferne und sah die Stadt, die er, wie er sich eingestehen musste, auf diesem Weg nicht würde erreichen können.
Unschlüssig sah er sich um und betrachtete die drei Mauern, die anscheinend nur errichtet worden waren, um einen Sturz ins Verderben zu verhindern. Doch was sollte er tun, von allen Menschenseelen verlassen im Inneren dieses merkwürdigen Schutzgebäudes, das nur schützen konnte, solange man außerhalb blieb?
Durch die Tür, durch die er hereingekommen war, trat er wieder ins Freie. Er erblickte einen Kleintransporter, der neben der Straße abgestellt war. Vorhin hatte er ihn nicht bemerkt, wunderte er sich. Dann erkannte er an einer Aufschrift an der Wagenseite, dass es sich um das Fahrzeug einer Malerfirma handelte. Was macht denn eine Malerfirma hier oben, überlegte er und erst jetzt wurde ihm bewusst, dass das Auto nicht allein hierher gefahren sein konnte. Jemand musste in der Nähe sein, den er fragen konnte, welcher Weg in die Stadt führte, den er unter Umständen sogar bitten konnte, ein Stück mitfahren zu dürfen.
Als Paul jedoch niemanden finden konnte und auch seine Rufe unbeantwortet blieben, kehrte er ins Innere zurück. Von irgendwoher drang nun leise der Klang eines Radios an seine Ohren, den er vorhin nicht gehört hatte. Er drehte sich in die Richtung, aus der die Töne kamen und entdeckte ein Gerüst, auf dem zwei Maler standen und die Wand mit weißer Farbe anstrichen. Er lief geradewegs auf sie zu, um ihnen seine Fragen zu stellen. Die Maler indes bemerkten ihn nicht und verrichteten ihre Arbeit. Nur wenige Meter von ihnen entfernt zog eine Treppe Pauls Aufmerksamkeit auf sich. Sie führte nach unten, ins Innere des Berges, und ließ ihn augenblicklich die Maler vergessen.
Paul ging hinab, bis er einen kleinen Hohlraum erreichte, in dem eine schwache Glühbirne nur mäßig Licht spendete, und in dessen Mitte ein starkes Eisengitter im Boden eingelassen war. Er trat heran und erkannte darunter eine steinerne, von weiteren Glühbirnen erleuchtete Wendeltreppe, die aus dem Fels heraus gehauen war, in die Tiefe hinab führte und deren Ende nicht zu sehen war.
War das der Weg, den er gehen musste, unzählige Stufen hinab, die in eine geheimnisvolle Tiefe führten? Ein Gefühl gab ihm die Gewissheit, endlich den richtigen Weg gefunden zu haben. Doch wie sollte er das Gitter überwinden, das fest im Betonboden verankert war? Paul versuchte es herauszureißen und verschwendete unnütz seine Kräfte, da es sich einfach nicht bewegen ließ. Doch unbeirrt wiederholte er seine Versuche, er konnte einfach nicht davon ablassen. Plötzlich vernahm er Geräusche, die ihm aus der Halle herab an die Ohren drangen. Er unterbrach sein Unterfangen für einen Moment, stieg einige Stufen hinauf und überprüfte, was dort vor sich ging. Die Maler beendeten gerade ihre Arbeit und Paul sah, wie sie ihre Pinsel und Farbrollen in großen Wassereimern ausspülten. Das Gerüst war nicht mehr zu sehen, vermutlich hatten sie es bereits abgebaut oder beiseite geräumt. Schon nahmen sie ihr nunmehr sauberes Werkzeug aus dem Wasser, bald würden sie gehen. Sie würden gehen! Und Paul? Paul hatte einzig das Gitter im Sinn, durch das sein Weg führte; dennoch wurde ihm bange, er wollte nicht schon wieder allein zurückbleiben.
Sollte er sie nicht rufen und bitten, ihn mitzunehmen? Ja! Das sollte er und er wusste es. Stattdessen beobachtete er die Maler nur, die bereits ihre Werkzeuge verstaut hatten, auf einer der untersten Stufen der Treppe stehend, sodass kaum sein Kopf zu sehen war.
Jetzt brechen sie auf! Keine Zeit zu verlieren! Noch schnell ein letzter Versuch, das Gitter zu öffnen! Schaffte er es nicht, würde er zu ihnen gehen.
Mit einem Satz nach unten gesprungen und mit aller Kraft am Gitter gerüttelt – es bewegte sich nicht! Bestimmt waren die Maler schon auf und davon. Er sprang drei, vier Stufen hinauf, spähte in die Halle, niemand mehr zu sehen, nur noch die Tür fiel langsam ins Schloss. Hinterherrennen musste er ihnen! Doch er sprang wiederum nach unten. Wieder riss er wie blöde am Gitter; es blieb seine bewegungslose Obsession; jetzt war alles klar!: rütteln ziehen reißen – dort, wo etwas vor ihm verschlossen war. Da! Ein Geräusch in der Halle. Schnell nach oben gesprungen. In die Halle gespäht. Ein Maler! Er holt das Radio! Zeit gewonnen, Zeit gewonnen! Schnell zurück nach unten! Mach langsam Maler! Nur ein Versuch, ein letzter, der Letzte. Dann komme ich und gehe mit euch, nur mit euch, wohin ihr wollt.