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Kapitel 2
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DAS MÄDCHEN
Bayern, Großdeutschland, 1940
Die Farbe war aus absolut allem gewichen, was sonst selbstverständlich satt und berauschend war. Das Grün der Wiesen, das Blau des Himmels, selbst das abgeblätterte Braun der Ställe. Doch ein Jahr nach Kriegsbeginn gab es diese Art Farben nicht. Das Leben auf dem Land war trist und blass. Trist und blass wie die Menschen.
Ein nicht gelebtes Leben.
Die meisten existierten nur wegen ihrer Höfe, ihrer Tiere und ihrem Geschick der Selbstversorgung. Es ging ihnen nicht schlecht, wohl auch, weil der Führer, Adolf Hitler, sie scheinbar vergessen hatte. Oder sie waren mit ihrem vermeintlich landwirtschaftlichen Intellekt nicht wichtig genug. Der Fokus lag auf den Städten, groß und klein, und nicht auf dem Land, nicht bei den Bauern. Die kamen erst später ins Spiel um Nachschub und Vaterlandsverteidigung. Hier, im Jahr 1940 und ein Jahr nachdem die große Hoffnung NSDAP der Welt den Krieg erklärt hatte, waren viele schon involviert und dabei sich auf Feindkontakt vorzubereiten – wenn sie ihn nicht schon kennengelernt hatten.
In dem Wenige-Seelen-Ort Dürrbrunn war Katharina 1918 zur Welt gekommen. Sie war eines dieser Kriegskinder des Ersten Weltkrieges, die in eine Zeit und in eine Welt hineingeboren wurden, in der das Wort Zukunft keinerlei Bedeutung hatte. Das Hier und Jetzt zählte und wie man den kommenden Winter hinter sich bringen konnte ohne zu erfrieren oder zu verhungern. Ob man innerlich verkümmerte, daran zu denken hatte keinen Platz. Zur Verfügung stand eine erkaltete und mürrische Mutter.
Katharina wusste später nicht mehr, wie ihre Mutter den Gasthofbesitzer Karl kennenlernt hatte. Sie konnte sich weder an die Hochzeit, noch an die ersten Jahre zu Dritt wirklich erinnern.
Es hatte seine Gründe.
Karl ignorierte Katharina. Dessen Sohn Erwin allerdings ignorierte Katharina nicht. Im Gegenteil. Er schubste, ärgerte und beschimpfte sie, wann immer er konnte.
Als ihre Mutter wieder ein Kind bekam, war Katharina acht Jahre alt. Gleichzeitig wurde sie zu einem ärgerlichen Störfaktor, weil es nun andere Kinder gab, die wichtiger waren. Ein Störfaktor, der weg musste. Anni gebar noch weitere zwei Söhne, was Katharinas Stellung immer schwächer werden ließ.
Es gab keine Liebe, noch immer nicht.
Keine Liebe zu Karl, keine zu Katharina und auch keine zu irgendeinem anderen Kind in dieser Familie. Katharina hätte eine Emotion dazu entwickeln können, doch sie wusste nicht, wie das geht und so entschied sie sich dazu, dass es ihr schlichtweg nichts ausmachte. Sie war ein aufgewecktes Mädchen mit klarem Verstand und einem klugen Kopf für die Welt, in der sie lebte. Sie verbrachte wenige, freie Stunden mit Freundinnen, die sie in ihrer viel zu kurzen Schulzeit kennengelernt hatte. Von Lehrern wurde sie nicht gefordert und zuhause hielt man sie bestenfalls für eine dumme Magd. Eine dumme Magd, die keine Wiederworte gab. Katharina spielte die Rolle im Elternhaus mit, schluckte jede gemeine Demütigung und konzentrierte sich darauf den jeweiligen Tag hinter sich zu bringen. Darum ging es: Zu überleben. Sie wuchs auf wie ein Kind zweiter Klasse und ihr Lebensmotto war von Beginn an gewesen:
Du gehörst zu niemandem.
Im Jahr der Machtergreifung, im Januar 1933, Katharina war 15 Jahre alt, starb ihre Mutter. Wie bei jedem anderen Kind auch, war das auch für Katharina ein einschneidendes Erlebnis. Doch sie fühlte nichts. Sie schaffte es zwar, ein paar Tränen zu vergießen, doch das Mädchen begriff nicht, welchen Verlust sie gerade erlebt hatte. Sie hatte auch keine Zeit es zu realisieren, denn nur kurze Zeit später begann sie im stiefväterlichen Gasthof zu arbeiten. Doch auch hier war sie nichts wert.
Die Mutter tot, wollte Karl nicht für immer ein Kind in seinem Haus haben, dessen Vater er nicht war. Im Sommer 1940, mit 22 und ihm nicht mehr nutze, zog sie deshalb in das 18 Kilometer entfernte Forchheim. Ihr Stiefvater hatte ihr, nicht ganz uneigennützig, eine Stellung bei Fabrikfamilie Schmid verschafft. Katharina sollte dort als Hausmädchen das heimische Familienleben zuhause nicht weiter stören. Es hatte Karl einiges gekostet, das ungebetene Balg derart effizient loszuwerden, wohl auch, weil Familie Schmid nichts von ihm und seinem Gasthaus hielt. Sie hatten eine gute Menschenkenntnis.
Es fiel Katharina nicht schwer, ihr Zuhause zu verlassen. Ganz im Gegenteil: Der Wunsch war groß in ihr, auf zumindest einigermaßen eigenen Beinen zu stehen, in Lohn und Brot zu stehen und der Familie, zu der sie nicht gehörte, zu entfliehen. Sie war fleißig, das wusste sie. Sie konnte hart anpacken und war sich für keine Aufgabe zu schade. Bereits als ihre Mutter ihr noch Arbeiten zu erledigen gab, fand sie das heraus. Man musste ihr in dieser Hinsicht nichts beibringen. Die gemeinsame Arbeit verband die Frauen – wenn auch sonst nichts.
Ihr Stiefvater gab ihr ein wenig Geld mit auf den Weg, so dass sie sich wenigstens etwas in der Stadt kaufen konnte. Es war nicht viel und Katharina sollte es auch nie ausgeben.
Katharina wurde von Christel in Empfang genommen. Sie arbeitete hier ebenfalls als Dienstmädchen und führte ihre neue Kollegin erst einmal in den Dienstbotentrakt des Hauptgebäudes, der sich im oberen Teil des Hauses befand. Das mehrstöckige Gebäude war umringt von Bäumen und einem grün-bewachsenen Anwesen, das von mehreren Gärtnern gepflegt wurde.
Die Herrschaften waren nicht zuhause. ER, Erwin Schmid, war geschäftlich in der Stadt und SIE, Hedwig, war bei irgendeinem Kaffeekränzchen im Ort. Das zumindest erzählte ihr Christel, als sie wieder auf dem Weg nach unten waren. Sie unterstanden beide der Köchin Maria, die wortkarg war und mürrisch dreinblickte, als Katharina schüchtern vor ihr in der Küche stand. Sie schwitzte viel und kam durch ihre massige Erscheinung fast nicht an die Töpfe, in denen sie eifrig herumrührte. Katharina entschied sich, sie nicht zu mögen. Es war ein Muster: Katharina mochte eigentlich niemanden. Sie war aber durchaus in der Lage sich zu verstellen ohne dass es aufgesetzt wirkte.
„Geh und hilf Christel mit den Betten.“, blaffte Maria sie an und scheuchte sie aus ihrer Küche. „Ich hab zu tun.“, schnaubte sie ihr hinterher und Katharina wusste nicht recht, ob sie mit ihr oder mit sich selbst sprach.
Sie drehte sich blitzschnell um und eilte aus der Küche. Christel lehnte an der Wand und wartete.
„Na?“, fragte sie Katharina. „Ein Sonnenschein, oder?“, und Katharina musste lächeln. „Aber keine Sorge: Maria ist eigentlich eine gute Seele, aber sie hat eben oft schlechte Laune.“ Christel zuckte mit den Schultern und ging davon. Katharina folgte ihr.
Noch nie zuvor war sie in einem solchen Haus gewesen. Sie gingen durch die Tür zu einem Esszimmer, das so groß war, wie die heimische Wohnung. Überall hingen Gemälde, meist von irgendwelchen seltsam dreinblickenden Menschen in alt aussehenden Roben. Die goldenen Rahmen, die dazu noch ausladend und verschnörkelt gestaltet waren, rückten die jeweilige Persönlichkeit auf den Bildern in das rechte Licht. Apropos rechtes Licht: Ein Bild des Führers fand sie im Eingangsbereich des Haupthauses. Eine geschwungene Marmortreppe führte in den nächsten Stock, in dem sie vermutlich weitere pompöse Zimmer finden würde.
„Sag mir doch als allererstes, was du kannst und nicht kannst, damit ich weiß, was ich dir als erstes zeigen soll.“
„Äh...“, stammelte Katharina wenig damenhaft.
„Sag niemals ‚Äh’. Das kann er nicht leiden. Gib klare Antworten, wenn du etwas gefragt wirst und geh den Herrschaften lieber aus dem Weg.“, begann Christel ihre Einführung. „Los, komm. Wir machen die Betten. Dabei kannst du mir alles erzählen.“
Sie gingen den langen Gang bis an sein Ende und betraten einen sonnendurchfluteten Raum mit schweren Vorhängen, einem unglaublich großen Doppelbett und einer ausladenden Palette an Schminkutensilien auf dem ausladenden Spiegeltisch. Katharina kam aus dem Staunen nicht heraus.
„Das ist ihr Schlafzimmer. Er schläft unten, neben seinem Arbeitszimmer. Wenn er denn mal hier ist.“
„Sie schlafen getrennt?“, erkundigte sich Katharina.
„Ach, ungewöhnlich ist das nicht. Sie haben sich nicht viel zu sagen. Nur bei Festen und großen Feiern sind sie ein Herz und eine Seele. Sie ist eigentlich ganz nett aber er...“ Christel begann zu flüstern als ob die Wände Ohren hätten – hatten sie vermutlich auch. „Er ist ein echter Widerling.“
Gemeinsam begannen sich um das unordentliche Bett zu kümmern. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in diesem neuen Haus, auf diesem anderen Planeten, in diesem anderen Leben hatte Katharina das Gefühl, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Ein Kapitel, in dem weder ihre tote Mutter, ihre „neuen“ Geschwister und ihr Stiefvater eine Rolle spielten. Ein Kapitel, in dem sie sich etwas aufbauen könnte.
Vielleicht sogar etwas wie ein eigenes Leben.
Christel redete gern und viel während sie die diversen Zimmer in Ordnung brachten. Sie war eine echte Quasselstrippe und weihte Katharina schnell in die Gepflogenheiten der Herrschaften ein. SIE war eine Dame aus gutem Hause mit jeder Menge Geld und Immobilien in ganz Deutschland. Man munkelt, sie habe die finanziellen Mittel mit in die Ehe gebracht, so dass ER nur noch den Geschäftswillen zeigen musste. Christel arbeitete schon vier Jahre für die Schmids. Als die NSDAP an die Macht kam, war er der erste, der mit ihnen Geschäfte machte. Das war auch nach Kriegsausbruch so geblieben. Es hatte sich sogar noch verstärkt. Bei festlichen Anlässen war das Haus voll von SS und Wehrmacht. Maria hatte Christel erzählt, dass hier sogar hohe Tiere aus Nürnberg anreisten. Für Katharina waren das nur Worte. In ihr Kaff zuhause hatte sich noch keine SS verirrt. Warum auch? Es gab dort nichts zu holen und nicht zu finden.
Noch an diesem Abend lernte sie die Frau kennen, der hier alles gehörte. Es war schon weit nach Mitternacht, als Katharina den Wagen auf dem Kiesweg entlangfahren hörte. Die Lichtkegel warfen seltsame Gebilde an ihre Decke und ließen Katharina aus dem Bett steigen. Sie konnte nicht schlafen. Ihr gingen tausend Dinge durch den Kopf. Das durchdringendste Gefühl war jedoch Freude. Ihr Zimmer war direkt neben Christels im obersten Stock des Hauptgebäudes. Es war eine einfache Kammer mit einem schlichten Holzbett, ein paar Möbeln und einem kleinen Fenster. Kein Luxus wie im Rest des Hauses, aber Katharina fühlte sich gleich wie in einem Königreich. In ihrem eigenen Königreich, in dem sie, und nur sie, das Sagen hatte. Es mochte nicht viel sein, in dem sie wohnte, aber hier schien sie sicher zu sein.
Katharina legte sich wieder hin und schloss die Augen da flog die Türe auf. Katharina schreckte hoch und hatte plötzlich panische Angst. Es war Frau Schmid.
„Du bist Katharina?“, begann sie, während der Lichtfall der Zimmertüre verhinderte, dass Katharina sie erkennen konnte.
„Jawohl.“, antwortete sie.
„Gut. Hör zu. Ich halte nicht viel von deinem Vater.“
„Er ist nicht mein Vater.“, unterbrach Katharina sie und Frau Schmid verstummte. Katharina konnte sie noch immer nicht sehen und doch wusste sie, dass sie sie nicht hätte unterbrechen sollen.
„Ich halte nicht viel von ihm.“, begann Frau Schmid wieder ohne auf Katharinas Einspruch einzugehen. „Und deshalb wirst du es sehr schwer haben, mich davon zu überzeugen, dass du nicht so wertlos bist, wie er. Es ist nur einem guten Gefallen geschuldet und dem feinen Gemüt meines Mannes, dass du hier bist. Lass es mich nicht bereuen.“
„Jawohl.“, erwiderte Katharina und senkte den Kopf. Es war wohl klüger nun nicht mehr zu widersprechen.
„Gut. Dann wäre das geklärt. Christel wird dich in alle nötigen Hausarbeiten einweisen. Das Beste ist, wenn ich von dir nichts sehe und nichts höre.“ Sie trat in den Flur hinaus, packte den Knauf und zog die Türe zu. „Ach. Und noch etwas.“, die Tür öffnete sich wieder einen Spalt. „Unterbrich mich nie wieder.“ Dann war sie verschwunden und Katharina war allein in ihrer Kammer.
In der Kammer, in der sie zu Gast war. Das war nun eindeutig. Sie musste dafür sorgen, dass sich das nicht änderte.
Es dauerte, bis sie sich wieder auf ihr Kissen sinken ließ. Sie dachte darüber nach, was Frau Schmid gesagt hatte.
Es hat ihn also einiges gekostet, mich hier unterzubringen.
Sie hätte sich verkauft fühlen können, wie ein Stück Fleisch, das man nun doch nicht mehr essen will – oder das schon schlecht geworden war. Wäre sie in einem behüteten Zuhause aufgewachsen, es hätte ihr vermutlich etwas ausgemacht. Beschützt von inneren, ambitionierten Wächtern wusste Katharina, dass sie nichts wert war und dass es nur eine logische Konsequenz darstellte, dass man sie nicht haben wollte. Doch Katharina fühlte solche Dinge nicht, sie war sogar erleichtert darüber, dass sie nun hier war und als sie endlich einschlief, hatte sie ein Lächeln auf den Lippen, weil er, der größte Geizhals vor dem Herrn, so viel hatte geben müssen, um sie los zu werden. „Ich hoffe, es hat dir richtig weh getan.“, flüsterte sie und fiel in einen traumlosen und tiefen Schlaf.
In den folgenden Tagen nahm das hauswirtschaftliche Leben Form an. Christel wies sie in das Haushaltsleben des Alltags ein und unterwies sie in die unterschiedlichen Tätigkeiten in den vielen Zimmern, erzählte ihr Geschichten und Gerüchte über die Herrschaften und hatte ganz offensichtlich einen Drang zum Tratsch. Katharina genoss es.
Jeden einzelnen Tag.
Sie arbeitete hart, ging der Hausherrin aus dem Weg und ließ sich nur dann in den entsprechenden Stockwerken blicken, wenn sie wusste, Frau Schmid war nicht ebenfalls in der Nähe.
Von dem Herrn des Hauses war weit und breit keine Spur. Es hieß, er würde noch eine weitere Woche geschäftlich in Nürnberg bleiben. Katharina war es recht, sie hatte mit Männern sowieso kein glückliches Händchen. Sie machte sich keine Illusion, dass es hier anders sein würde.
Während sie mit Christel die Wäsche auf die Leinen hängte, spürte sie die warme Sommersonne in ihrem Nacken. Was war das plötzlich für ein Gefühl in ihr? Sie war ganz offensichtlich zufrieden.
Glücklich.
Un-einsam.
„Hörst du mir eigentlich zu?“, Christel stand neben ihr und verschränkte die Arme. „Ich rede und rede und rede und du? Du hörst nicht mal hin.“
„Doch, doch. Entschuldige.“, begann Katharina.
„Ach schon gut. Ich rede ja sowieso zu viel. Ich weiß das. Meine Mutter sagte mir das auch ständig. Aber eigentlich stört es mich nicht.“ Sie grinste frech „Es macht mich einzigartig. Und vor allem macht es mich unendlich wertvoll. Weißt du warum?“ Sie sah Katharina fragend an.
„Ich habe keine Ahnung.“, grinste Katharina
„Weil diese Gruft, die wir Haupthaus nennen, sonst nicht zu ertragen wäre.“
Beide lachten.
„Mädchen!“, schrie Maria von der Terrasse in den Garten. Katharina und Christel ließen die Wäsche in die Körbe fallen und eilten zu der Köchin. Ihr roter Kopf und ihre schwitzigen Hände zeigten deutlich Alarmsignale. Als sie bei ihr ankamen, tobte Maria los. „Heute Abend haben wir eine Gesellschaft zum Essen. Richtet das große Esszimmer her.“
„Wie viele?“, fragte Christel sofort. Es schien, als ob die beiden in einer Art Notfallsituation ihren eigens kreierten Prozessablauf abspulten.
„11. Mitsamt den Herrschaften.“
„ER kommt wieder? Schon?“
„Ja. Ihr habt nicht viel Zeit. Beeilt euch. Ich brauche euch danach in der Küche. Ich fahre in die Stadt und besorge die nötigen Dinge für das Essen.“ Maria rauschte davon und Katharina wollte schon Christel hinterhereilen.
„Nein. Mach die Wäsche fertig und sorge dafür, dass die Leinen später wieder leer sind, wenn die Gäste kommen. Manchmal gehen sie bei schönem Wetter noch auf die Terrasse. Wenn Frau Schmid dann noch Wäsche auf den Leinen sieht, macht sie uns beide einen Kopf kürzer.“, erteilte Christel Befehle. „Und ich mag meinen Kopf.“, schickte sie grinsend hinterher, als sie schon fast bei der Terrassentür war. Sie drehte sich um. „Er ist ja auch etwas ganz besonderes.“ Sie warf sich theatralisch das nicht vorhandene lange Haar nach hinten, blinzelte hektisch und stolzierte wenig grazil davon. Katharina schüttelte den Kopf und lachte. Dann eilte sie in den Garten.
Es war bereits Nachmittag, als Katharina beladen mit Wäsche den Gang entlanghetzte, um sie noch am richtigen Platz verschwinden zu lassen. Christel war mit Maria in der Küche beschäftigt und auch sie sollte ihnen gleich zur Hand gehen. Als sie die großen Laken korrekt gefaltet und ordentlich zu den anderen in den großen Schrank gelegt hatte, stürmte sie zur Tür hinaus - und stand vor den Herrschaften.
Vor beiden.
Frau Schmid stand neben ihrem Mann mit einem säuerlichen Gesichtsausruck und starrte Katharina an. Sie war ganz offensichtlich nicht auf sie böse.
„Ah. Katharina.“, begann sie. „Das ist Katharina.“ Sie deutete erklärend auf sie, was eigentlich nicht nötig war. Es war ja sonst niemand hier.
„Der Bastard des Wirts?“
„Der Wirtin, wenn schon. Er ist nur der Stiefvater. Und auch das spielt keine Rolle. Sie ist ja nun hier – dank dir.“ Sie sah ihren Mann nicht an während sie mit ihm sprach sondern sah ungewandt zu Katharina.
„Ich hätte ja auch mal Glück haben können. Doch nein, wieder eine hässliche.“ Er ging an Katharina vorbei Richtung Treppe und steckte sich dabei eine Zigarette an. Katharina stand wie vom Donner gerührt vor Frau Schmid und wusste nicht, was sie nun tun sollte.
„Du kannst gehen.“, sagte Frau Schmid und ging den Flur Richtung Schlafzimmer weiter als wäre nichts Außergewöhnliches geschehen. Christel hatte also recht gehabt. Er war tatsächlich ein Widerling.
Sie kam wenig später in der Küche an, wo dampfende Töpfe und das feine Geschirr bereitstanden. Der Nebel verhüllte den Raum und machte es Katharina kurz nicht möglich ihre Kolleginnen zu erkennen.
„Da bist du ja.“, Christel packte Katharina am Arm und stellte sie an der Arbeitsfläche am Fenster ab. „Beeil dich mit den Kartoffeln.“, und machte sich selbst wieder an ihre Arbeit. Maria war eine fantastische Köchin. Sie hätte es vermutlich niemals laut gesagt, aber man spürte, dass sie mit Leidenschaft bei der Sache war und dafür lebte. Sie schmeckte x-mal ab und war ein echtes Organisationstalent. Wenn sie derart beschäftigt war, vergaß sie sogar zu schimpfen und zu zetern. Sie war ganz bei der Sache, bei ihrem Essen.
„Wer kommt denn?“, traute sich Katharina zu fragen, als sie einigermaßen auf dem Laufenden waren. „Jemand wichtiges?“
„Spielt das eine Rolle?“, blaffte Maria „Es sind Gäste. Wichtig oder unwichtig, sie haben Hunger und wir müssen dafür sorgen, dass sie satt werden. Christel übernimmt die Bewirtung, du hilfst mir mit Anrichten und vorbereiten.“
Trotz dass Maria wieder zu alter Form auflief, fühlte sich Katharina als Teil einer Gemeinschaft. Maria akzeptierte sie anscheinend nach nur wenigen Tagen. Sie wurde nicht gelobt.
Nie.
Mehr war nicht wichtig. Maria sagte nicht, sie solle verschwinden. Ein größeres Kompliment gab es nicht, als das, dass sie sie neben sich in ihrer Küche duldete. Sie arbeiteten, richteten und kümmerten sich um die diversen Gänge. Katharina wurde es zeitweise ganz schwindelig anhand der Fülle an Essen. Zuhause gab es dank des Hofes und des Gasthauses zwar auch immer ausreichend Mahlzeiten, diese Fülle an hochwertigen Speisen jedoch? Für Katharina war das nur schwer zu fassen, welches Leben die Herrschaften hier führten. Ganz selbstverständlich und aufgesetzt fröhlich.
Während an anderen Orten Bomben fielen.
Der Abend verlief zufriedenstellend. Es kamen nur leere Teller zurück, was Maria zu geradezu euphorischem Hintern wackeln inspirierte. Sie schwebte durch die Küche, spülte und putzte. Als Christel hereinkam und weitere Teller abstellte, flüsterte sie Katharina zu: „Es fehlt noch, dass sie anfängt zu singen.“ Beide grinsten.
Es war beinahe Mitternacht, als die Gäste sich auf der Terrasse lautstark unterhielten, lachten und auf den Führer anstießen. „Heil Hitler!“, war sogar bis in die Küche zu hören. Als Katharina, die gerade das Esszimmer von nicht mehr benötigtem Geschirr befreite an der großen Fensterfront vorbeiging, spähte sie nach draußen. Sie sah Uniformierte mit ihren Frauen und ein paar Kinder, die auf dem Rasen herumtollten. Offenbar nahm man es mit den Bettzeiten bei solchen Persönlichkeiten nicht allzu genau. Die Männer trugen alle zur Seite gekämmte Scheitel und machten auch wenn sie lachten keine ausgelassene Figur. Manche sahen aus wie die Männer der SS, von denen Katharina gehört hatte. Streng, grausam und fies. Frau Schmid saß mit einigen Frauen etwas abseits und unterhielt sich angeregt. Es schien, dass sich die mitgebrachten Eheweiber über angenehmere Dinge unterhielten. Die Männer in der Runde schienen eher an niveaulosem Schalk interessiert zu sein. Sie lachten, schlugen sich gegenseitig auf die Schultern und spuckten ihr gerade getrunkenes Bier wieder auf den Boden vor lachen. Katharina wandte sich ab und eilte zurück in die Küche. Sie hatte genug gesehen.
Maria schickte sie wenig später in den Nebenraum der Küche. Hier stand der Hauptgang auf einem Tisch. Dampfend und duftend, als sei heute ein Weihnachtsmorgen in einer gänzlich anderen Zeit. Sie wusste nicht, was sie tun sollte und drehte sich zu Maria um.
„Was guckst du so?“, blaffte Maria sie an. „Iss. Es wird kalt. Christel kommt auch gleich. Warum sollen wir es wegschmeißen. Es wäre schad’ dafür!“
Katharina konnte es nicht glauben. Sie hatte nicht gewusst, wie hungrig sie war, als sie sich an den Tisch setzte und zu Essen begann. Als Christel zu ihr stieß, war Katharina schon fast fertig. „Schmeckts?“, grinste Christel. „Ich sterbe vor Hunger.“ Maria erschien und stellte auch ihr einen Teller hin. „Es riecht köstlich!“, freute sich Christel.
„Nicht nötig zu reden. Nur essen.“
Katharina sah, wie Marias Mundwinkel ein kurzes Lächeln umspielte.
Katharina legte ihr Musterverhalten kurz beiseite, das sich vor allem mit der angeborenen Distanz zu anderen Menschen zeigte.
Ich mag sie., stellte sie erstaunt fest. Ja, ich mag sie wirklich. Alle beide.
***
Katharina lebte sich im Haus der Schmids ein, behielt aber den Rat der Hausherrin stets im Kopf. Sie blieb unsichtbar und arbeitete hart um den Ruf ihrer Familie abzuschütteln. Sie war nicht wie er. Wie sie vielleicht, dagegen konnte sie nicht viel tun. Aber wie er? Niemals!
Sie kümmerte sich gerade um die Vorhänge im Arbeitszimmer des Hauses, als die Tür aufging. Der Hausherr schritt hinein ohne sie eines Blickes zu würdigen. Katharina hängte gerade den letzten Vorhang ab um ihn zu waschen, als er sie ansprach. „Wie geht es deinem Vater?“, wollte er wissen.
„Er ist nicht mein Vater.“, gab Katharina zurück. „...und ich weiß es nicht.“, schob sie schnell hinterher.
„Du magst ihn nicht.“, Er lachte anhand seiner eigenen Feststellung. „Vielleicht bist du doch nicht so dumm, wie ich dachte. Sei lieber froh, dass du von ihm weg bist. Er taugt wirklich nicht viel.“
Katharina reagierte nicht. Sie wusste nicht wie.
„Komm her.“, befahl er plötzlich.
Katharina hatte auf einmal ein ungutes Gefühl. Angst überkam sie und angesichts des geschlossenen Raumes war sie ihm auch geradezu hilflos ausgeliefert. „Ich muss mich um die Wäsche...“
„Komm her!“, brüllte er und sein Kopf wurde rot.
Katharina ließ die Vorhänge fallen und begann auf den schweren Holzschreibtisch zuzugehen, als die Tür aufging.
„Erwin?“, flötete Frau Schmid. Katharina wusste, dass sie nicht alleine war, ansonsten wäre der Ton weniger lieblich ausgefallen. „Besuch für dich.“
„Geh.“, sagte er an Katharina gewandt. Sie raffte die Vorhänge zusammen und eilte zur Nebentür hinaus, sodass sie nicht an den Herrschaften und ihrem Besuch vorbeimusste. Sie sah auch nicht, wer es war, so schnell war sie verschwunden.
Kreidebleich rannte sie in Christel hinein, die Katharina den Schrecken sofort ansah. „Was ist geschehen?“, fragte sie sofort.
„Nichts.“, versuchte sich Katharina aus dem unangenehmen Gespräch zu befreien. Auf keinen Fall wollte sie nun Schwierigkeiten verursachen – auch nicht bei Christel.
„Nun sag schon!“, Christels Frohnatur war verschwunden.
„Ich weiß es nicht. Eigentlich nichts. Ich war im Arbeitszimmer, als er reinkam. Er hat Fragen zu meinem Stiefvater gestellt und dann sollte ich zu ihm kommen.“
„Was ist dann passiert?“
„Seine Frau kam mit Besuch und ich bin rausgerannt.“
„Hör mir jetzt gut zu. Du wirst in Zukunft solche Situationen meiden. Ich übernehme das Arbeitszimmer und du gehst ihm aus dem Weg. Hast du verstanden?“
„Aber...“
„Nichts aber. Ich sagte dir, er ist ein Widerling. Er ist aber noch viel mehr als nur das. Er ist gefährlich. Halt dich von ihm fern.“
Damit war die Unterhaltung zu Ende und Christel rauschte davon. Katharina schluckte den Schrecken die trockene Kehle hinunter und versuchte die erlebte Situation zu vergessen. Es gelang ihr schnell, in dieser Hinsicht machte ihr niemand so schnell etwas vor. Sie machte sich nur noch einmal bewusst, dass sie ihn in Zukunft in jedem Fall meiden musste. Wie er sie angesehen hatte, mit welchem Ton er sie zu sich bestellt hatte, wie dunkel seine Augen gewesen waren.
Er passte perfekte in die Zeit, in der sie lebte.