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Kapitel 3

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Johann Wagner war ein Schelm. Bereits als Kind hörte er mehr die Bezeichnung Lausbub als seinen richtigen Namen. Dabei war eigentlich nichts an seinem Leben wirklich komisch. Als ältester Sohn mit drei älteren Schwestern und einem jüngeren Bruder trug er die Verantwortung seiner ganzen Welt auf seinen Schultern. Doch Johann war seit jeher der Meinung, dass es sich nicht lohnte den Spaß am Leben zu verlieren. Nicht, als er für alles verantwortlich war und gemacht wurde und nicht, als Hitler an die Macht kam und sich Deutschland immer wieder und immer weiter veränderte. Er bekam ohnehin nicht viel davon mit. Die Familien, denen es wirklich schlecht ging, hatten echte Probleme. Sie hatten Hunger, sie froren in kalten Wintern, sie brachen auseinander. Johann hatte diese Probleme nicht, weil sein Vater schon immer ein hart arbeitender Mann gewesen war. Er hatte einen Hof aufgebaut, der mit vielen Häusern Handel trieb. Dank der Tiere und den Feldern war die Zukunft hier in diesen vier Wänden gesichert. Johanns Vater befehligte sein Personal mit Autorität und gutem Willen. Seine Untergebenen schätzten ihn, weil er ein ehrlicher Mann war und auch diesen Ruf in der Gemeinde genoss. Und es gab noch eine weitere, weitaus wichtigere, positive Eigenschaft der Bauernfamilie: Sie war großzügig. Der Hof funktionierte und er verdiente mit den reichen Schnöseln in den Nachbarorten genug Geld, weil seine Waren einen qualitativen Wert besaßen. Und so mussten auch seine Mitarbeiter nicht hungern. Sie verdienten nicht das große Geld, sorgten aber zuhause für volle Mägen. Johanns Mutter versuchte in regelmäßigen Abständen immer wieder eine gewisse Strenge einzuführen. Sie scheiterte aber an der Starrköpfigkeit ihres Mannes und ihres Sohnes. Der hörte ihr immer gut zu, wenn sie ihm Ratschläge erteilte und machte dann doch was er wollte. Das hatte ihm sein Vater nachhaltig beigebracht: „Junge.“, hatte er gesagt „Mach, was du für richtig hältst. Und wenn ich nicht mehr bin, dann höre auf niemanden, außer auf dich selbst.“ Er mochte kein weiser Mann sein, aber er hatte das Herz am rechten Fleck. Johann verdankte seinem Vater viel, vor allem das Selbstbewusstsein, was dafür sorgte, dass sie weiterhin überlebten. Während er den Hof organisierte, mit anpackte wo gerade eine helfende Hand benötigt wurde, sorgten seine Schwestern Anna, Margareta und Marie für den Haushalt, verkauften Gemüse und Milch auf den umliegenden Märkten und hielten die Maschinerie am Laufen. Nur sein Bruder Sepp schlug in dieser Hinsicht aus der Art. Er ging bei einem Zimmermann in die Lehre und kehrte der Familie überwiegend den schweigsamen Rücken zu.

Johann selbst fuhr auch die Waren aus, was dem Ruf des Hofes nur weiter zu Gute kam. Die Hausfrauen vergötterten ihn aufgrund seines Charmes und seinen kessen Sprüchen. Er war kein Schönling und auch weit davon entfernt. Aber er spannte ein emotionales Band zwischen ihm und seinem Hof und den Frauen, die seine Waren benötigten.

Er spielte eine Rolle.

Das wusste er und das wussten vermutlich auch die Damen, die ihm die Türen öffneten. Aber es war eine dankbare und höchst einträgliche Rolle.

Seine Mutter, die in den letzten Jahren stark gealtert und schmächtig geworden war, überließ den Haushalt ihren Töchtern und kümmerte sich derweil um ihre Hühner. Damit schien sie zufrieden zu sein, doch sicher wusste es Johann nicht.

Er fragte sie nie.

Was im übrigen Deutschland vor sich ging und welche Reden welcher Politiker auch immer hielten: Mit seiner Welt hier hatte das nichts, oder sehr wenig, zu tun. Sollten sie doch Krieg führen, solange seine Familie damit nichts zu schaffen hatte, hatte er nichts dagegen. Es ging ihn ja eigentlich auch nichts an.

Dienstags und donnerstags war Auslieferung. Immer. Pünktlich fuhr Johann seine Kunden an. Doch an diesem Dienstag war etwas anders. Als er durch die Dorfstraße seines Ortes fuhr, waren weniger Menschen unterwegs, als sonst. Er beschloss, bei seinem alten Schulfreund Rudi zu halten. Als der kurz darauf die Tür öffnete, war selbst Johann nicht in der Lage, für gute Laune zu sorgen. Die Sorgenfalten standen tief in Rudis Gesicht.

„Was ist los?“, fragte er stattdessen ohne einen Gruß.

„Sie haben eingezogen.“

„Was? Hier? Wen?“

„Den Hansi von gegenüber und Paul aus der Schmidchengasse. Auch Gert und Robert.“

Johann konnte es nicht glauben. Sofort dachte er an Sepp und die drohende Gefahr, die unmittelbar in sein Leben getreten war.

„Vielleicht holen sie uns als nächstes?“, Rudi hatte offensichtlich panische Angst.

„Du bist viel zu alt.“, versuchte es Johann, merkte aber schnell, dass das nicht ankam. Rudi war schon wieder gedanklich weit weg. „Komm schon. Es wird schon alles werden.“

„Weißt du überhaupt, was das heißt?“, Plötzlich war Rudi wieder bei ihm und sein roter Kopf verriet seine Wut. „Es heißt, dass es jetzt auch uns trifft. Hier! Das kann doch alles gar nicht wahr sein.“ Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen.

Johann war hilflos. Er wusste nicht, was er seinem Freund sagen sollte. Was ihn trösten oder aufmuntern konnte. Es gab ja im Grunde auch nichts, was die Tatsache besser machte, dass es jeden Tag Kriegspost geben könnte.

„Bist du in der Partei?“, wollte Rudi plötzlich wissen.

„Nein.“, erwiderte Johann. „Du?“

„Bisher nicht. Vielleicht sollte ich reingehen. Es könnte helfen.“

„Ich glaube nicht, dass das die Lösung ist.“

Rudi lachte. „Du bist immer noch unpolitisch. In dieser Zeit in der wir leben, Johann? Ich glaube nicht, dass du dir das noch lange leisten kannst.“

„Wir werden sehen. Ich muss gehen, Rudi. Versuch nicht durchzudrehen, in Ordnung?“

Johann verabschiedete sich und fuhr zu seinem ersten Kunden. Er war nicht richtig bei der Sache, was aber nicht weiter auffiel. Alle anderen auch nicht. An diesem Ort sprachen sich Neuigkeiten schnell herum und irgendwer hatte immer irgendwen in größeren Städten, der frischen Tratsch in die Gemeinde brachte. Sie wussten, wenn auch nur am Rande, dass der Krieg vor der Tür stand.

Vor jeder Tür.

Und dass Männer eingezogen, weit weg geschickt wurden, nicht wiederkamen. Doch solange es sie selbst nichts anging, waren es Fremde. Menschen, die man nicht persönlich kannte. Nun hatte der Krieg selbst an die Haustüren auf dem Land geklopft. Johann konnte diese Entwicklung nicht verstehen. Er war blind und taub wie all die anderen. Selbst die Lüge, es würde ihnen allen schon nichts geschehen, half nicht dabei, den Gedanken an den Verlust von Freunden, Familie zu verdrängen. Und so verschwand die Frohnatur Johann für diesen Tag von der Bildfläche. An seine Stelle trat ein stiller und wortkarger Mann, der, statt den Menschen ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern, einen stillen Händedruck verteilte oder die Frauen, die er besonders mochte, kurz drückte. „Du bist ein Guter, Johann. Such dir endlich eine Frau.“, hatte Frau Schuster ihm hinterhergerufen und zumindest kurzzeitig für Ablenkung gesorgt. Eine Frau! Darüber hatte er auch schon nachgedacht. Er war nun 30 Jahre alt und hatte im Grunde das heiratsfähige Alter schon fast hinter sich gelassen. Er stand gerade an der Schwelle zum ewigen Junggesellen, der er ja auch war. Es hatte Bekanntschaften gegeben, die aber nach kurzer Zeit meist durch ihn wieder beendet wurden. Erfahrungen hatte er genug gemacht, was daran gelegen haben könnte, dass er nun mal einen entscheidenden Joker besaß. Seinen Charme. Er ermöglichte ihm spielend einfach Zugang zu Frauen und weil ihm eine ernsthafte Beziehung nichts bedeutete und weil es bei seinen Eroberungen um nichts ging, war es nicht sonderlich schwer für ihn, sich ungezwungen und locker zu geben. Weil es nicht gespielt war. Es war ehrlich, aufrichtig.

Im Moment traf er sich mit Frieda, der Tochter des örtlichen Metzgers. Sie war blond und eigentlich ein wenig zu hübsch in Johanns Augen. Er wusste, dass es ihr ernst mit ihm war, dass sie im Grunde nur darauf wartete, bis er sie zu einem romantischen Spaziergang ausführte um sie zu fragen, ob sie ihn heiraten würde. Doch Johann spielte nicht einmal mit dem Gedanken, auch nicht, wenn er in Situationen kam, in denen er dazu aufgefordert wurde, endlich zu heiraten. Seine Eltern hatten es ebenfalls ein paar wenige Male versucht, seine unverheiratete Stellung anzusprechen. Sie scheiterten wie gewohnt souverän und gaben es irgendwann ganz auf. Sie konzentrierten sich gerade darauf ihrer Tochter Anna eine gute Partie zu besorgen, was sich als ebenso schwierige Herausforderung herausstellte, wie bei Johann. Sie hatten eben alle die gleichen Gene – die eines harten Schädels mit einschlossen. Nur Margareta und Marie hatten bereits geheiratet. Margareta hatte mit ihrem Mann Hans drei Kinder. Engelbert war neun, Rosa acht und Josef sechs.

Die Tour dieses Tages dauerte länger, als normalerweise. Das lag nicht an den Kunden, der Fahrt oder der Menge der Waren, sondern an den Ereignissen, die unwirsch an die Pforten ihres Lebens geklopft hatten. Johann beschloss die Geschichten zuhause für sich zu behalten, doch es war zu spät. Sein Vater, stets gut informiert, wusste bereits, was geschehen war und sprach Johann natürlich sofort darauf an, als er zur Tür hereinkam.

„Hast du gehört?“, begann er. „Sie haben eingezogen.“

„Ja, Rudi hat es mir erzählt.“, Er setzte sich an den Küchentisch und blickte in die sorgenvollen Augen seiner Vaters, der bereits den Ersten Weltkrieg mitgemacht hatte.

„Es wird schon alles gut werden. Rudi will beitreten. Vielleicht ändert das ja was.“

„Ach.“, sein Vater winkte ab „Was soll das schon ändern? Wenn sie Männer brauchen ist die politische Einstellung doch egal. Und wenn sie merken, dass wir vom Land mehr aushalten, als die aus der Stadt, werden sie noch mehr holen.“, er unterbrach sich und sah zum Fenster hinaus, wo Sepp gerade über den Hof ging. „...und es gibt nichts, was wir dagegen tun können.“

***

Es war spät geworden. Johann schloss gerade das Scheunentor und ging in Richtung Haus, als er ein Fahrrad um die Ecke kommen sah.

„Johann.“

„Frieda?“

„Ich musste dich sehen. Hast du gehört, was passiert ist?“

Langsam reichte es ihm die gleiche Sache immer wieder zu diskutieren. Er hatte auch Angst. Es gab niemanden, der sie ihm nehmen konnte, warum also sollte er in der Lage sein?

„Ja, ich hab es gehört.“

„Es ist schlimm. Wir müssen beten, dass es nicht noch mehr trifft.“

„Beten? Wozu?“, Johann ging an ihr vorbei weiter in Richtung Eingangstüre, Frieda kam hinter ihm her.

„Was meinst du wozu?“

Johann drehte sich zu ihr um.

„Es ist besser, wenn du jetzt nach Hause fährst, Frieda. Ich habe heute genug darüber gesprochen und weiß gerade auch nicht, was ich sagen soll. Und ehrlich gesagt bin ich es auch leid. Es war ja auch dumm von uns zu denken, der Krieg würde nicht bis zu uns kommen.“

„Aber es wird sich lohnen. Er ist sicher bald vorbei und dann wird sich alles für uns ändern.“

„Meinst du? Ich will gar nicht, dass sich alles ändert. Es geht uns gut. Kein Mensch weiß, wozu wir diesen Krieg führen und ich will es auch nicht wissen.“

„Vater sagt, es sei klug, in die Partei einzu...“, weiter kam sie nicht.

„Hör zu Frieda. Verzeih mir, wenn ich jetzt nicht weiter darüber sprechen will. Sei vorsichtig und komm gut nach Hause.“, damit verschwand er im Haus und ließ Frieda auf dem Hof im Dunkel zurück. Er stand noch eine Weile an der Tür gelehnt da, bis er nach einigen Minuten endlich hörte, wie sie sich auf den Sattel setzte und davon fuhr. Es war ihm bewusst, dass er sie verletzt hatte. Und genau hier, in diesem Moment, an dieser Tür und in dieser Nacht fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Er war wie alle anderen. Genauso engstirnig und egoistisch. Er wollte sich nicht damit befassen, was geschehen würde, sollten tatsächlich seine Freunde der Wehrmacht beitreten müssen.

Oder der SS.

Sollten meine Freunde fallen...

Den Krieg auszublenden und so weiterzumachen wie zuvor, war für ihn ein guter Weg. Für ihn und für alle anderen auch. Doch das ging jetzt nicht mehr. Es war vorbei mit Frieden in Kriegszeiten und der Idee, es ginge ihn nichts an. Johann musste erwachsen werden und sich schleunigst einen Weg einfallen lassen, wie er seine Familie schützen konnte. Er musste Frieda loswerden und sich nur noch um den Hof kümmern. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn wieder dazu drängen würde, einzutreten und der Nazi-Ideologie zu folgen. Johann war vieles, aber er war nicht gewaltbereit und auch kein Patriot, der freiwillig für sein Land sterben wollte. Er schloss die Augen und atmete tief ein und wieder aus. Es würde eine lange Nacht werden, eine Nacht, in der an Schlaf nicht zu denken sein würde.

Als er am nächsten Morgen von den ersten Sonnenstrahlen geweckt wurde, hatte er gerade ein paar Stunden geschlafen. Er war nicht in der Lage gewesen, sich einen Schlachtplan für die kommenden Wochen, vielleicht sogar die kommenden Monate zurecht zu legen. Er hatte nicht einmal Ideen. Das war das Schlimmste überhaupt: Hilflos der gegebenen Situation entgegensehen zu müssen. Wie ein sich frei fühlendes Spiegelbild, das dem Original, gefesselt und geknebelt, beim Strampeln zusehen muss. Er konnte nichts tun und er hasste es. Er hasste es mitansehen zu müssen, wie alles vor die Hunde ging.

Als er sich im Bad für den anstehenden Tag zurecht machte, legte er nicht nur seine schlechte Laune und seine Unzufriedenheit ab, sondern auch seine Wut. Wie einen alten Hut, den man einfach vergisst aufzusetzen. Er hatte einen Beruf, nein: Er hatte eine Berufung und zwar solange es eben ging dafür zu sorgen, dass seine Freunde, Nachbarn und Kunden zumindest eine kleine Weile lang die anstehenden Schrecken vergaßen. Man musste sich manchmal auf seine Talente besinnen und nicht auf seine Ängste.

Und so schlug er als letztes Zeichen seines Unmutes die Zimmertür fest ins Schloss und trampelte so laut er konnte in die Küche hinunter. Seine Mutter saß am Küchentisch und lächelte, als sie ihn sah. Margareta stand bereits am Herd und bereitete den Tag vor. Er gab ihr einen Klapps auf den Hintern, nahm ihre gespielte Entrüstung zur Kenntnis und küsste sie auf die Wange, bevor er zur Tür hinaus war.

„Du musst was essen, Bub!“, schrie seine Mutter ihm hinterher.

„Keine Zeit.“, blökte er grinsend zurück und war sich der Lüge bewusst.

Er hatte Zeit, aber keinen Appetit.

Nachdem er sich um die Kühe und den Stall gekümmert und seine Männer gemeinsam mit seinem Vater auf den Weg in Richtung Arbeit geschickt hatte, legte er sich seine heutige Route fest. Seine Kundinnen im Nachbarort mussten heute mit seinen Waren ausgestattet werden. Es war der anstrengendste Tag der Woche, auch, weil er zu vielen seiner dortigen Kundschaft einen weniger guten Draht hatte. Viele sahen ihn nicht als Johann, sondern als Bauernjungen, der zu mehr eben nicht taugte. Nicht, dass ihm das in irgendeiner Art und Weise etwas ausgemacht hätte, es machte nur nicht soviel Freude, wie zuhause.

Er zählte gerade die Lieferscheine, als Anna in den Stall gerannt kam.

„Johann, komm’ schnell.“, stieß sie schnellatmend heraus.

„Was ist?“

„Sepp...“, keuchte sie „Er ist verrückt geworden.“

Johann rannte seiner Schwester hinterher in die Stube. Seine Eltern saßen am Tisch, die Köpfe feuerrot und erstarrt vor Angst.

Er war die Wut. Sie die Verzweiflung.

Für Johann normalerweise ein sicheres Zeichen, das Weite zu suchen. Doch er blieb – Natürlich blieb er.

„Was ist los?“, fragte er. Er ging schon einmal innerlich in Deckung.

„Ich habe keine Ahnung, was passiert ist.“, flüsterte seine Mutter. „Ich weiß es einfach nicht.“ Sie sah Johann an und ihre Augen waren feucht. Es schien jedoch, als würden sich selbst ihre Tränen nicht trauen, über die Wangen zu laufen.

„Er ist fort. Gegangen.“, sagte sein Vater.

„Gegangen? Wohin denn?“, langsam nervte ihn die bruchstückhafte Berichterstattung seiner Eltern. „Würde mir bitte jemand sagen, was hier los ist?“

„Er ist in die Stadt gefahren und will sich freiwillig melden.“, seine Mutter sah zum Fenster hinaus „Er will kämpfen.“ Sie sah Johann an und die Tränen waren fort. Er blickte an eine wütende, sich gefährlich an sich haltende Mauer, hinter der eine aufbrausende Wut lauerte, die ihre Fratze zeigte. „Geh, Johann. Geh und verhindere es.“

Und Johann ging.

Keine Diskussion, keine Wiederworte, keine Zeit, sich eine Meinung zu bilden oder sich darüber aufzuregen. Auf dem Weg in die Stadt machte er sich Gedanken darüber, wie es auf einmal dazu gekommen war. Bisher dachte er immer, Sepp sei, wie er und seine Schwestern, unpolitisch, resistent gegenüber der Propaganda. Er fragte sich, was geschehen war und warum sich sein 20jähriger Bruder gerade aufmachte, sich in ein NSDAP-Büro zu begeben.

Johann trat in die Pedale, der Schweiß ließ ihm über das Gesicht und er atmete schwer. Er war kein Sportler und auch nicht daran interessiert einer zu werden. Er hatte für diesen Auftritt also nicht trainiert, sich nicht vorbereiten können. Er bog auf die Hauptstraße ein und wurde schneller. Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn er zu spät käme. Er fuhr die leichte Linkskurve entlang, an deren Ecke der Bäcker wohnte, und sah Sepp auf dem Bürgersteig laufen. Er ging schnell, schneller als normal. Vielleicht, so hoffte Johann, ging er so schnell, um nicht darüber nachdenken zu müssen, was er da gerade tat – und warum er es tat. Johann kam neben ihm zum Stehen und ließ sein Fahrrad auf den Bürgersteig fallen. Es machte einen lauten Krach, als der Rahmen auf den Boden aufschlug. Sepp fuhr herum, erkannte seinen Bruder und seine Augen wurden groß. Er drehte sich um und lief schneller. Das Büro war nur noch wenige Häuserecken entfernt, Johann konnte schon die Soldaten sehen, die davor standen und rauchten. Bitte, lass es keine SS sein, schoss es ihm durch den Kopf.

Er rannte hinter seinem Bruder her, es sollte nicht zu aufgeregt wirken, er durfte unter keinen Umständen die Aufmerksamkeit der Soldaten erregen, sonst war alles aus. Sepp drehte sich immer wieder um und bemerkte, dass der Abstand weniger wurde, Johann holte alles aus seinem wenig sportlichen Körper heraus und holte Sepp schließlich ein. Er packte ihn am Arm und riss ihn zurück. An die Hauswand eines Nähgeschäfts gedrückt, war der Ton gedämpft, aber scharf.

„Was tust du denn?“, pfiff er Sepp an „Bist du verrückt geworden?“

„Lass mich!“, Sepp versuchte sich loszureißen. Sein dunkles, lang gewordenes Haar flog hin und her, Johann ließ nicht locker.

„Du kommst sofort mit nach Hause.“

„Nein.“

„Was soll das denn, Sepp?“, Johann sah sich um und versicherte sich, dass niemand ihn belauschte. Die Soldaten lachten und schlugen sich auf die Schulter. Wahrscheinlich erzählten sie sich dreckige Witze. „Was ist nur in dich gefahren?

Sepp sah ihn aus wütenden Augen an und riss sich los. Er zog sich seine dünne Jacke zurecht.

„Also?“, Johann wurde ungeduldig. „Bin ich keine Antwort wert?“.

„Was willst du denn von mir?“, schrie Sepp ihn an.

„Nicht so laut!“, unterbrach ihn Johann schnell und sah sich um. Ein Soldat schaute neugierig in seine Richtung. „Bist du wahnsinnig?“

„Ich bin nicht wie du.“, sagte Sepp nun ruhiger. Auch er hatte die Soldaten bemerkt. „Ich bin kein Feigling. Ich will für mein Land kämpfen, weil ich daran glaube, dass es richtig ist.“, Sepps Augen waren kalt und Johann ging einen Schritt zurück.

Da war keine Angst.

Keine Panik.

Es war Entschlossenheit.

„Alles in Ordnung hier?“ Ein junger, blonder Soldat in Wehrmachtsuniform stand plötzlich neben Johann. Von einem Moment auf den anderen entglitt ihm jegliche Kontrolle über die Situation. Er wäre nicht in der Lage einzugreifen ohne sofort verhaftet zu werden, wenn Sepp nun einfach weiterging. Vaterlandsverrat beging schon, wer derart offensichtlich nicht an den Krieg glaubte.

„Alles in Ordnung, danke.“, erwiderte Johann schnell und sah zu seinem Bruder. Sein Blick war flehend. „Mein Bruder und ich haben nur schlechte Nachrichten bekommen.“ Der Soldat schaute beide abwechselnd an.

„Aha.“, kommentierte er.

„Wir gehen. Vielen Dank.“, versuchte sich Johann zu verabschieden und sich zwischen ihm und seinem Bruder zu platzieren.

„Heil, Hitler.“

„Ja. Heil, Hitler.“, gaben die Brüder zurück und der Soldat ging zu seinen Kameraden zurück. Johann schnappte sich sein Fahrrad ohne seinen Bruder loszulassen und ging die Hauptstraße weiter, ohne sich noch einmal umzusehen.

„Was glaubst du, hast du jetzt gewonnen?“, fragte Sepp ihn ohne stehenzubleiben.

Nichts. Nur Zeit.

Johann antwortete ihm nicht und ging weiter. Um ein Haar hätte er seinen Bruder an den Krieg verloren. Um ein Haar wäre alles aus gewesen.

Ihr Versuch zu leben

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