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Kapitel 7

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Johann stand vor seinen Pferden und ließ den Kopf gegen seinen Hengst sinken. Er stand da, während die Menschen um ihn herum weitergingen und sich vermutlich wunderten, was zum Teufel er da trieb. Doch Johann bekam von alledem nichts mit. Er schloss die Augen und atmete tief ein. Wie hatte er sich in so kurzer Zeit nur selbst so derart zum Narren machen können? Er war gestolpert.

Gestolpert!

Er beruhigte sich wieder, in dem er sich sagte, dass er von der Anwesenheit der Unbekannten vollkommen überrumpelt worden war. Was hätte er schon tun können?

Aber stolpern?

Schluss damit.

Es hatte ja doch keinen Sinn, so abweisend und unnahbar wie sie gewesen war. Gut, andererseits: Es war eine Herausforderung und Johann liebte Herausforderungen. Schließlich zündete sein Charme bisher bei all seinen Eroberungen. Warum nicht bei ihr? Er spürte aber deutlich, dass es bei ihr eine andere Art Rennen war. Keines für ein kurzfristiges Ziel oder eines, bei dem man sein Selbstwertgefühl aufpolieren konnte. Johann interessierte sich für sie. Für Katharina. Für diese einfache Schönheit, die vermutlich gar nicht wusste, dass sie schön war. Wie sie wohl aussah, wenn sie lächelte?

Wolltest du nicht erst mal ohne Frauen sein?

„Hast du was verloren?“, brummte eine dunkle Stimme neben Johann und er sah auf. Ein Soldat stand mit zwei anderen neben seinem Gefährt und schaute verwirrt. Vermutlich dachte er, Johann sei bekloppt.

„Alles in Ordnung.“, gab er zurück.

„Bist du betrunken?“, lachte der Zweite.

„Nein. Es geht mir gut. Ein wenig schwindelig.“ Es war die Wahrheit, aber es gab keine medizinische Ursache für sein Symptom. Eher ein biologisches. Warum er es ihnen aber gesagt hatte, wusste er nicht.

„So wie du aussiehst, würde mir auch dauernd schwindelig werden. Kannst du mit deinen Ohren eigentlich schon fliegen?“, alle lachten. Alle bis auf Johann. Er wusste, dass er an einer Weggabelung stand. Ein falsches Wort und er hätte drei Soldaten am Hals. Er würde in den Fokus der Nazis geraten, vielleicht sogar ins Gefängnis kommen. In jedem Fall war er der Verlierer dieses Kampfes. Er wusste es bereits. Also begann Johann zu lächeln.

„Nein.“, gab er zurück „Ich habs mal versucht, bin aber nur auf die Nase gefallen – seitdem sieht die so aus.“ Danach grinste er freundlich.

Die Soldaten sahen ihn an und waren offensichtlich verwirrt. Lachen konnten sie nicht mehr, es war nicht spaßig, wenn sich jemand über sich selbst lustig machte. Er war aber auch nicht derart frech geworden, dass sie ihn hätten verhaften können. Eine unglückliche Situation für sie.

„Verschwinde schon.“, knurrte der Anführer der Drei. „Bevor ich dir auch noch deine Augen blau schlage, damit du zum Zirkus gehen kannst.“, Sie lachten wieder und gingen weiter. Es war kein vollhalsiges Lachen mehr. Sie wussten, dass er ihnen den Wind aus den Segeln genommen hatte.

Johanns Lächeln wich einem wütenden Gesicht. Es wurde immer schlimmer und er begegnete ihnen, selbst hier, immer öfter. Es waren zwar nicht viele Soldaten hier, aber scheinbar genügte es, um ihnen immer und immer wieder in die Arme zu laufen.

Als er zuhause ankam, lief Sepp gerade mit zwei Wassereimern in Richtung Scheune. Irgendjemand musste ihn dazu verdonnert haben. Anna saß vor der Koppel, auf der zwei Pferde grasten und nähte einen Schurz, und Marie fegte den Weg zum Haus. Margareta war vermutlich dabei das Essen vorzubereiten. Sie war eine fantastische Köchin wie ihre Mutter geworden, die ihr immer öfter das Feld ganz überließ.

Er nickte seinen Schwestern zu und folgte seinem Bruder in den Stall.

„Alles in Ordnung?“, fragte er ihn beim Näherkommen.

Sepp sah auf. „Warum fragst du?“

Johann ignorierte den scharfen Ton seines jüngeren Bruders und wartete. Er wartete darauf, dass Sepp es bemerkte. Schließlich sah er seinen Bruder an und stellte die Eimer ab.

„Was willst du, das ich sage? Dass es mir leid tut?“

„Es wäre ein Anfang.“, Johann baute sich vor Sepp auf „Weißt du eigentlich wie knapp das war? Ist die klar, was du unserer Mutter angetan hast? Wie es Vater ging? Sie waren krank vor Angst um dich.“

Sepp sah auf den Boden, doch Johann spürte, dass die Reue fehlte.

„Sieh mich an!“, befahl er und Sepp gehorchte „Ich konnte dich dieses Mal davon abhalten eine Dummheit zu tun. Doch ich werde das nächste Mal vielleicht nicht rechtzeitig da sein, um dich zu hindern. Und das weißt du, ich sehe es dir an.“

Sepp sah ihm unverwandt in die Augen und der Trotz war stark in ihm. Johann kam nicht weiter an ihn heran.

„Ich versuche dich zu beschützen. Ich will, dass du lebst. Und solange du nicht dazu gezwungen wirst, bleib bei uns. Ich bitte dich.“ Bevor Johann die Tränen in die Augen stiegen, drehte er sich um und ließ seinen Bruder im Stall stehen. Er schloss beim Gehen kurz die Augen und schluckte seine Angst um Sepp hinunter. Er wollte nicht, dass man ihm seine Sorge ansah. Anna erwartete ihn draußen, sah ihn kurz an und ging neben ihm her zum Haus zurück. „Hast du mit ihm gesprochen? Über seine dumme Idee?“, fragte sie ohne ihn anzusehen.

„Ja. Von jetzt an liegt es an ihm. Er ist alt genug. Ich kann ihn nicht immer beschützen.“

Anna sah ihn kurz an und nickte ohne dass er es bemerkte. Sie wusste, dass er Recht hatte.

***

Sepp unternahm in den folgenden Wochen keinen weiteren Versuch, sich noch einmal zu melden. Das Thema wurde innerhalb der Familie auch nicht wieder aufgegriffen. Man tat, was man immer tat, wenn etwas Unangenehmes geschehen war: Man schwieg es tot. Jeder wusste es, jeder hatte Angst davor aber niemand sprach darüber. Johann auch nicht. Er widmete sich seiner Arbeit, blendete die Zustände um ihn herum aus und hoffte, dass es etwas brachte. Schon wieder waren junge Männer von zuhause fort beordert worden. Wieder waren es junge Männer, die er kannte. Sepp war nicht unter ihnen und auch sein Name war nicht gefallen. Je länger das Spiel des Krieges dauerte, desto größer war die Angst, dass die eigene Familie davon betroffen sein könnte. Der Ton innerhalb der Stadt wurde schärfer und selbst die, die die Ignoranz gepachtet hatten und nichts von alledem wissen und sehen wollten, wurden stiller, nachdenklicher, ängstlicher. Das war auch bei Johann so. Er spielte zwar während seiner Touren noch immer den charmanten Clown, er fand aber immer weniger Zuspruch. Eine ältere Frau, die Johann jeden ersten Donnerstag im Monat besuchte um ihr Kartoffeln zu liefern, mochte ihn immer besonders gern. Das zeigte sie ihm offen. Doch an diesem Donnerstag war etwas anders. Etwas war geschehen. Als sie ihm die Tür öffnete, waren ihre Haut blass und ihr Gesicht eingefallen.

„Guten Morgen Frau Kirn.“, begrüßte er sie „Ist auch alles in Ordnung?“

„Ja, ja, Johann. Grüß dich.“, erwiderte sie „Hast du alles was ich brauche?“

„Die Kartoffeln. Ein Sack, wie immer.“ Er wollte sich an ihr vorbei in die Stube drängen, doch sie ließ ihn nicht vorbei.

„Ist schon gut.“, sagte sie „Stell sie mir bitte vor die Kellertüre. Hast du auch an die Möhren gedacht?“

Die Möhren?

Sie hasste sie. Schon immer. Er konnte sich gut daran erinnern, wie sie einmal auf einem Fest darüber stritten, wie man Rüben nicht mögen konnte. Sie sagte ihm, dass es ihr schlecht werden würde, wenn sie sie nur sah. Früher hatte sie sie wohl jahrelang geerntet, was der Grund dafür sein dürfte, warum sie Rüben nicht mehr sehen konnte. „Sie sehen doch auch einfach nur blöd aus.“, hatte sie in die Runde gesagt und alle hatten gelacht.

„Möhren?“, erwiderte Johann. Er wusste, dass irgendetwas nicht stimmte.

„Ja. Ich sagte dir doch das letzte Mal, dass ich zwei Bund bräuchte. Ich backe meinen berühmten Karottenkuchen.“ Sie lächelte doch es reichte nicht bis zu ihren Augen. Sie waren voller Angst, Panik.

„Ich bin manchmal ein Schussel. Ich lege sie zu den Kartoffeln dazu.“

„In Ordnung. Danke. Ich bezahle dann beim nächsten Mal.“

Sie schloss die Tür und Johann ging zurück zu seinem Wagen, holte die zwei Bund Karotten und legte alles zusammen vor die Kellertüre. Er saß auf und fuhr davon. Zwei Querstraßen vom Haus von Frau Kirn entfernt, hielt er an und stieg ab. Er stand vor dem Haus, in dem einige seiner Arbeiter wohnten. Er klopfte und beauftragte die Kinder darin auf seinen Wagen aufzupassen. Sie freuten sich über die Gelegenheit die Pferde streicheln zu können. Johann rannte zum Haus von Frau Kirn zurück und schlich sich in den Garten. Er war nicht groß und überwiegend verwahrlost. Sie hatte keine Zeit und auch nicht mehr die Kraft, sich ihm mit aller Leidenschaft zu widmen. Das war für Johann ein Vorteil. Er pirschte sich ans Haus heran und sah durch eines der Fenster in die Küche. Frau Kirn stand mit dem Rücken zu ihm und goss Tee auf. Im angrenzenden Wohnzimmer saß ein Mann in einer Soldatenuniform. Seine Waffe ruhte neben ihm auf dem Tisch.

Ein stilles Versprechen.

Er wusste nicht, wer er war. Er hatte ihn noch nie gesehen. Was geht hier vor? Was soll ich tun?

Er entschied sich dazu zu warten und schlich zu einem der gekippten Fenster hinüber.

„Danke für den Tee.“, kommentierte der Soldat die Rückkehr von Frau Kirn. „Nun haben wir alles da für eine entspannte Gesprächsatmosphäre. Also.“, er beugte sich vor und deutete auf den Stuhl ihm gegenüber. Sie sollte sich setzen. „Wo ist er?“

„Ich sagte doch schon, dass ich es nicht weiß.“

„Ich glaube dir aber nicht, Mütterchen.“, fiel er ihr ins Wort. „Du sagst mir, wo er ist und ich gehe. Einfach so. Niemandem geschieht irgendwas.“

Sie wusste, dass er log. Er wusste, dass er log und auch Johann wusste, dass er log. Man musste ihm nur ins Gesicht sehen und sah in eine unehrenhafte Fratze der Gemeinheit.

Johann ging um die Ecke, schnappte sich einen Stein, ging zurück zu seinem Ausgangspunkt und schmetterte ihn mit voller Wucht in Richtung Gartentüre. Das Fenster brach augenblicklich in tausend Teile. Johann zog sich sofort zurück und hörte, wie drinnen die Stühle nach hinten gerückt wurden. Schwere Schritte entfernten sich von Johann und Frau Kirn. Er hörte, wie die Stiefel auf dem zerbrochenen Glas zum Stehen kamen. Die Splitter knirschten und ächzten unter dem Gewicht. Die Tür ging auf und der Soldat betrat den Garten. Johann versteckte sich im Gebüsch. Der Soldat witterte, wie es Raubtiere tun, und sah sich um. Er ging einige Schritte aus dem Haus hinaus und spähte um die Ecke. In diesem Moment warf Johann den nächsten Stein. Er ging neben dem Soldaten ins Gebüsch und Johann fluchte. Er schmiss noch einen und dieses Mal klappte es. Er traf ihn am Kopf und der Mann taumelte. Er hatte keine Kraft mehr sich an die Stirn zu fassen und fiel auf den Rücken und blieb liegen. Johann schoss aus dem Gebüsch hinaus und rannte ins Haus. Frau Kirn stand am Fenster, sie hatte die Ereignisse offenbar beobachtet. Sie war kreidebleich.

„Frau Kirn.“, rief Johann, doch sie reagierte nicht.

„Johann...“, begann sie und sah wieder aus dem Fenster.

„Kommen Sie. Sie müssen gehen.“

„Ja...Ja, ich weiß.“, stammelte sie und suchte sich im Haus ein paar Dinge zusammen. Johann wusste nicht was. Es interessierte ihn auch nicht. Immer wieder schaute er ängstlich in den Garten und erwartete jeden Moment, dass der getroffene Soldat vor ihm auftauchte. Endlich kam sie zurück. Gemeinsam gingen sie in aller Ruhe zur Haustür hinaus. Sie musste Ruhe ausstrahlen, als sei alles ganz normal. Im Gehen sprach Johann sie an. „Was ist geschehen? Was wollte er?“

„Vergiss, was du gesehen hast, Johann. Ich bitte dich. Von nun an keine Lieferungen mehr und auch das Geld für die letzte werde ich dir wohl schuldig bleiben. Es tut mir leid.“

„Schon gut.“, Auch wenn es ihm schwerfiel, er würde wohl nicht erfahren, was in dem Haus vor sich ging.

„Versprich es mir Johann. Du darfst niemandem hiervon erzählen. Wenn jemand fragt, ich bin zu meiner Schwester in die Schweiz gefahren.“, Sie blieb stehen und sah ihm eindrücklich in die Augen. „Versprich es mir.“

„Ich verspreche es.“

„Gut. Und nun geh. Ich schaffe es von hier aus allein. Geh und vergiss mich.“

Und Johann ging. Er stolperte zurück und rannte die Straße zurück zu seinem Wagen. Er wusste nicht, wie schwer er den Soldaten verletzt hatte und es interessierte ihn auch nicht wirklich. Er hoffte bloß, dass er nicht zur falschen Zeit aufwachen und ihm auf offener Straße in die Arme rennen würde. Gerade jetzt war er nicht in der Lage, seine Panik zu verstecken.

Am Wagen angekommen war zumindest hier alles in Ordnung. Die Kinder saßen auf seinem Bock und spielten ein Spiel, das Johann nun beenden musste. Er riss sich zusammen.

„Vielen Dank, Kinder. Ich muss leider gehen.“ Er schnappte sich die Rabauken und setzte sie auf der Straße ab. Er stieg auf und fuhr davon. Keiner weiteren Auslieferungen heute. Er wollte nur noch schnell nach Hause. Ohne Aufsehen.

Ihr Versuch zu leben

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