Читать книгу Ihr Versuch zu leben - Thomas Ays - Страница 6
Kapitel 4
ОглавлениеKatharinas Hoffnung stieg, dass sich ihr Leben entscheidend ändern würde. Der Herr des Hauses war erstaunlich wenig zu Hause seit der seltsame Besuch gegangen war. Wichtige Geschäfte hielten ihn wohl davon ab, das heimische Bett zu beanspruchen. Katharina war es recht. Zu Frau Schmid bekam sie ein immer besseres Verhältnis, was wohl vor allem daran lag, dass sich Maria nicht über sie beklagte. Das höchste Lob der Köchin war, wenn sie nichts sagte und das wusste auch die Dame des Hauses. Die Feste blieben klein und beschaulich oder blieben ganz aus. Ab und an verirrten sich ein paar Freundinnen in das große Anwesen oder ein befreundeter Geschäftsmann schaute vorbei. Es blieb ruhig und Katharina kannte nun fast schon alle Räume des Anwesens. Heute war sie damit beschäftigt sämtliche Betten frisch zu beziehen, was ihr im Grunde die meiste Freude machte. Hier war sie ganz allein und sie konnte an dem herrlichen Stoff riechen und sich vorstellen, wie sie darin schlafen würde. Sie wusste, dass das nie der Fall sein würde, aber es hatte etwas Unbeschwertes, sich in einem viel zu großen Schlafzimmer von seinen Gedanken fortspülen zu lassen. Sie schüttelte gerade das zweite Kopfkissen auf, als Christel ins Zimmer spickte.
„Da bist du ja.“, rief sie aufgeregt. „Mein Gott, manchmal hasse ich dieses riesige Haus. Wenn du sagst du gehst die Betten beziehen, brauche ich in Zukunft noch die Zimmerangabe, sonst irre ich auch das nächste Mal wie eine Blöde durchs Haus. Aber egal. Hör zu.“, Ihr Tonfall wurde verschwörerisch und Katharina wusste, dass es nichts Gutes zu bedeuten hatte. „Heute Abend gehen wir auf das Stadtfest. Du. Ich.“, sie unterbrach sich „Und ein paar Freunde.“, sagte sie schnell. „Das wird sicher lustig.“, Erwartungsvoll sah sie Katharina in die Augen und erwartete vermutlich Freudentaumel. Der blieb aus – Katharina war schließlich immer noch Katharina und kein vollkommen neuer Mensch geworden.
„Ich glaube nicht, dass ...“, weiter kam sie nicht.
„Ah. Ah. Ah.“, Christel schloss die Augen und winkte ab „Nichts da. Du gehst mit. Ich habe den anderen schon gesagt, dass du auch mitkommst. Es interessiert mich eigentlich auch nicht, wie du das findest. Du kommst mit. Fertig.“
Katharina ließ sich auf den Stuhl sinken. Sie war erschöpft und musste sich eingestehen, dass sie gegen Christel nicht ankam. So gar nicht. Eine Idee hatte sie noch.
„Ich habe nichts anzuziehen.“, versuchte sie es kleinlaut und obwohl es stimmte, wusste sie schon, wie die Lösung für dieses Problem aussah.
„Kein Problem. Ich leih dir was.“
Problem gelöst.
Verdammt.
Frau Schmid verließ bereits am späten Nachmittag das Haus und hatte Maria gesagt, dass es heute später werden würde. Optimale Voraussetzungen also, um die Sperrstunde zu umgehen. Trotz dass die Mädchen auch Feierabend hatten, waren sie doch angehalten, auf die Hausregeln zu achten. Und die waren nicht verhandelbar. Deswegen war es Katharina auch mehr als unrecht, diese Regeln absichtlich zu verletzen. Als sie aus ihrer Kammer kam, trug sie ein blaues Kleid mit weißen Margeriten darauf. Es war hübsch. Zu hübsch für Katharinas Geschmack. Doch als Christels Blick auf sie fiel wusste sie, dass sie sich die anstehende Diskussion auch durchaus sparen konnte. Gut, dann sieht das Kleid eben hübsch an mir aus.
Die Sonne schien noch hell, als Christel und Katharina das Festgelände betraten. Hätte man die Szenerie in eine andere Zeit versetzt, man würde nicht glauben, dass sich die Menschen hier im Krieg befanden. Es war eine bunte Masse an Einheimischen – Fremde verirrten sich nicht hierher. Viel zu stark geschminkte Frauen, die Christel schnell und unwiderruflich als „leichte Mädchen“ abstempelte, mischten sich unter Soldaten und einfache Bauern. Katharina wusste immer noch nicht, was zur Hölle sie hier eigentlich tat.
„Schau nicht so grimmig drein, Herr Gott.“, Christel hakte sich bei ihr unter und zerrte sie in Mitten der Festgemeinde. Die Musik war laut, ganz so, als könne man dadurch den Krieg aussperren, dabei war er schon unter ihnen allen. Aufmerksame Beobachter konnten ihn sogar sehen, wie er sich an die Schultern einer alten Frau heftete, die gerade an einem Bierkrug nippte. Oder am Revers eines Soldaten, der einen winzigen Moment verpasste, seine Erlebnisse auszublenden. Oder am gelben Kleid eines kleinen Mädchens, das seinen Vater vermisste. Doch aufmerksame Beobachter waren selten hier an diesem Ort. Hier, wo man krampfhaft versuchte die Realität zu ignorieren. Auch Katharina bemerkte es nicht. Sie war damit beschäftigt, sich vorzustellen, wie sie zuhause im Bett lag und damit, eine möglichst unkomplizierte, aber effiziente Lüge zu spinnen, die sie von all dem hier befreite.
„Christel.“, Katharina blieb stehen. „Was sollen wir denn hier?“
„Einen Mann finden, was denn wohl sonst?“, sie sah ihre Freundin an, als hätte Katharina einen Knall, den alle außer ihr selbst hören konnten.
„Einen Mann? Was soll ich denn mit einem Mann?“ Doch bevor Christel ihren entsetzten und verwirrten Blick ablegen konnte, um zu einer Erwiderung anzusetzen, kamen zwei junge Frauen auf sie zu. Christel war abgelenkt und dadurch war Katharina vor einer echten Auseinandersetzung sicher. Vorerst.
„Guten Abend, Mädels“, begrüßte Christel die beiden Fremden.
„Wir dachten schon, ihr kommt nicht mehr.“, gab die Blonde zurück. Sie hatte sich ihre langen Haare zu einem Zopf geflochten und sah in Katharinas Augen eine Spur zu lieblich aus.
„Kathi? Das sind Lisbeth und Ruth. Das ist Kathi.“
Es war das erste Mal, dass Christel sie Kathi nannte. Niemand nannte sie Kathi. Warum auch? Katharina war verwirrt.
Die beiden lächelten Katharina an. Lisbeth, der Blondine, waren aber offenbar andere Dinge sehr viel wichtiger, als Begrüßungsfloskeln und so wechselte sie schnell von höflich-erfreut hin zu tratschend-neugierig. „Habt ihr gesehen? Heute sind sogar einige von der SS da. Von der SS!“, Sie freute sich wie ein Schulmädchen und hüpfte auch etwas, als sie es sagte.
Ruth, rothaarig und etwas untersetzt, schüchtern und unsicher, hatte bisher noch kein Ton gesprochen und wie sich herausstellte, würde sich das so schnell auch nicht ändern. Katharina war also nicht die einzige hier, die ein wenig seltsam war. Doch andererseits: Wer war hier schon normal?
„Darf ich bitten?“, schrie plötzlich ein junger Soldat in die Runde der jungen Frauen und Katharina fasste sich an die Brust.
Wo ist denn der so schnell hergekommen? Und mit wem spricht er?
Viel zu spät erkannte sie, dass er ihr die Hand hinhielt. Sehr zum Missfallen von Lisbeth, die Katharina plötzlich wohl nicht mehr mit Kathi ansprechen wollte. Christel grinste und gab Katharina einen Schubs. „Na los. Geh schon!“, lachte sie. Katharina konnte sich nicht so schnell etwas anderes einfallen lassen und so ging sie mit dem Unbekannten auf die Fläche.
„Ich heiße Peter.“, stellte er sich vor. Er war etwa in ihrem Alter und offenbar schon etwas angetrunken. Er gehörte zu der Sorte Jungs, die von Natur aus selbstbewusst waren, aber mit Alkohol sich noch die Kühnheit dazugesellte.
Sie mochte ihn nicht.
Sie tanzten zwei Lieder lang und er sprach kein Wort mehr. Es war eher, als koste er es aus, dass sie in seinen Armen lag. Er sah immer wieder zu anderen, befreundeten Soldaten und grinste, als habe er den Hauptpreis gewonnen. Katharina wurde es zu bunt. Als das zweite Lied zu Ende war, bedankte sie sich höflich und ging suchend zu ihren Begleiterinnen zurück. Doch Peter war offenbar noch nicht ganz fertig mit ihr und fegte hinter ihr her.
„Entschuldige.“, sprach er sie erneut von hinten an und Katharina drehte sich zu ihm um. Sie war irritiert. War es nicht ein eindeutiges Zeichen, wenn man sich als Frau verabschiedete? Musste sie jetzt wirklich deutlicher werden?
„Hast du Lust auf einen Spaziergang?“, Peter zwinkerte ihr zu. Offenbar hielt er sich für unwiderstehlich.
„Ich suche meine Freundinnen. Vielleicht später, ja?“
„Später kann es zu spät sein.“ Jetzt wurde der Übermut der beste Freund des Alkohols in seinem Blut.
„Ich lass es drauf ankommen.“, nickte Katharina und ließ ihn stehen.
Peter war verdutzt und packte sie abermals am Oberarm.
„Was ist denn noch?“, Katharina reichte es.
Und überhaupt: Wo sind Christel und die zwei anderen Schnepfen hin verschwunden? Es ist doch wirklich zum Mäuse melken.
„Bist du sicher? Wer weiß, vielleicht bin ich schon morgen ganz woanders?“ Mitleid. Noch so ein Saufkumpane. „Du gefällst mir ehrlich.“ Er strich ihr über ihr braunes Haar und sie versuchte zu lächeln.
„Ich muss gehen.“, und Katharina verschwand. So schnell sie konnte. Sie suchte Christel noch eine Weile, doch als sie sie in dem Getümmel nicht fand, beschloss sie zurück nach Hause zu gehen. Sie hatte genug. Es war ohnehin eine Schnapsidee gewesen, überhaupt die Regeln zu brechen. Sie hatte es gewusst, sich aber mal wieder nicht gewehrt. Das musste sich schleunigst ändern. Und dann noch die Sache mit den Männern. Was war so falsch daran, eine alte Jungfer zu sein, die hart arbeiten konnte und sich nicht dem hingab, was sowieso falsch und unecht war?
Ein Ehe. Pff. Wozu denn? Um Kinder in die Welt zu setzen?
Dann doch lieber die Dachkammer, in der sie jetzt lebte. Hier war sie in Sicherheit, denn sie wusste, dass man Männern auf keinen Fall trauen konnte. Die Wächter in ihr standen bereit, das Gefühl zu unterbinden, dass es doch schön wäre, sich zu verlieben. Tief, ganz tief drinnen wurde der Wunsch nach Liebe, ehrlicher Liebe, gerade von einem besonders ambitionierten Wächter in einem Bottich voll dickflüssigem Öl ertränkt und anschließend brutal und kompromisslos in Brand gesetzt.
Unwiederbringlich.
Zumindest vorerst.
An sie kam niemand ran, dafür würden ihre Wächter schon sorgen.
***
Am nächsten Morgen klopfte es leise an der Tür. Katharina steckte sich gerade das Haar hoch und drehte sich überrascht um und sagte leise „Ja?“ Die Tür öffnete sich und Christel steckte den Kopf in die Kammer.
„Guten Morgen.“, sagte sie kleinlaut.
„Morgen.“, gab Katharina zurück und kümmerte sich weiter um ihre Kleidung und ihr Haar.
„Es tut mir leid, Kathi. Wir haben dich überall gesucht, aber nicht gefunden.“
„Ich habe euch auch gesucht und ebenfalls nicht gefunden. Vergessen wirs. Das war das letzte Mal, dass wir uns rausgeschlichen haben. Wenn uns jemand erwischt hätte.“
„Aber uns hat niemand erwischt, Kathi. Und selbst wenn.“
Katharina drehte sich zu Christel um „Ich will die Stellung nicht verlieren. Auf gar keinen Fall.“
Der scharfe Tonfall ihre Kollegin ließ Christel zurückschrecken.
„In Ordnung.“, erwiderte sie zaghaft „Wir tun es nicht wieder. Außer am Wochenende, zum Burkfest. Da gehen wir auf jeden Fall hin.“
Katharina sah sie missbilligend an und sagte nichts darauf. Sie wusste, dass sie die Ausrede, sie dürfe nicht gehen, nicht benutzen konnte. Die Herrschaften waren beide über das Wochenende nicht im Ort, was bedeutete, dass kein Fest, kein Anlass geboten wurde, bei dem Personal gebraucht werden würde. Sie hatten also am Abend frei.
„Mal sehen.“, gab sie kurz angebunden zurück.
In der Küche herrschte hektisches Treiben. Sofort als die Mädchen erschienen, bellte Maria Befehle. „Christel, hilf mir beim Frühstück. Katharina, richte zwei Gästezimmer her. Danach gehst du auf den Markt und besorgst frische Blumen, weiße Rosen wenn möglich. Du kaufst genug, dass sie für beide Zimmer reichen und stellst sie hinein.“
Katharina nickte kurz und verschwand. Sie kümmerte sich um die beiden Zimmer, lüftete die für ihren Geschmack viel zu großen Räume, bezog die Betten frisch und entfernte Staub und Schmutz von den Anrichten. Danach eilte sie zurück in die Küche, besorgte sich Geld für die Blumen und wandte sich zum Gehen. „Ach, besorg mir bitte noch Karotten und zwei Köpfe Blumenkohl. Der Bauer war schon da, aber Christel hat sich wieder so von ihm einwickeln lassen, dass sie das Wichtigste vergessen hat.“ Sie warf einen strengen Blick zu Christel, die sie ignorierte und das Geschirr auf einem Tablett anrichtete. „Vergiss du es nicht auch noch. Es sind wichtige Zutaten und nun geh. Geh, geh, geh.“, scheuchte sie sie zur Tür hinaus.
Katharina lief die wenigen Meter bis zum Markt und hatte es plötzlich nicht mehr so eilig. Die Sonne schien schon hell und ließ die Hoffnung keimen, es könnte ein wundervoller Sommertag werden. Viele waren ebenfalls auf dem Weg zum Markt oder kamen von ihm. Sie unterhielten sich und lachten. Es ging ihnen offenbar wie Katharina. Die Sonne sorgte für eine scheinbar sorgenfreie Unbeschwertheit bei den Menschen. Eine Unbeschwertheit, die sie so vermissten. Der Anblick eines Wehrmachtsfahrzeugs störte da Katharinas Stimmung ein Stück weit. Es fuhr laut und knatternd an ihr vorbei. Die Soldaten darin waren ausgelassen und anscheinend gut gelaunt. Worüber sie sich wohl so freuen?
Auf dem Markt herrschte reges Gedränge. Katharina hielt nach einem Blumenstand Ausschau und entdeckte einen bei dem großen steinernen Tor, das den Eingang zur Kirche bildete. Es war der einzige Blumenstand und sie ergatterte die letzten weißen Rosen, die noch da waren.
Gemüse gab es mehr und so konnte sie sich den Stand aussuchen. Sie entschied sich für einen mit zwei jungen Frauen dahinter. Sie waren schlank, dunkelhaarig und hübsch. Sie waren Schwestern, da hatte Katharina keine Zweifel.
„Was darf es sein?“
„Zwei Köpfe Blumenkohl und einen Bund Karotten bitte.“
Die jüngere der beiden richtete die Bestellung und gab sie Katharina in die Hand. Sie bezahlte und verabschiedete sich. Sie lächelte sie kurz an und wünschte Katharina einen schönen Tag, bevor sie sich der nächsten Kundin zuwendete. Katharina warf noch einen Blick zurück zu den Frauen, bevor sie den Heimweg antrat. Es war seltsam gewesen, wie die Frauen auf sie gewirkt hatten. Vor allem, die, die sie bedient hatte. Sie hatte einen Ausdruck in den Augen, der nicht zu dem passte, den sie von allen anderen Menschen in ihrer Umgebung kannte. Sie war... Sie suchte nach einem Wort dafür, was gut passen würde.
Ohne Angst.
Ja, sie schien ohne Angst zu sein.