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1.3 Theorie, Geschichte und Funktion der (Film-)Archive

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Fangen wir nicht mit dem Anfang an, beginnen wir doch stattdessen mit der Wiederholung des Anfangs im Rahmen eines bemerkenswerten Beispiels, Peter Tscherkasskys L’Arrivée (1998). Dieser

„[…] besteht aus einzeln kontakt-kopierten und im Kopiervorgang bearbeiteten 35mm-Filmstücken. Aber bevor noch ein richtiges Abbild zu sehen ist, sehen wir das Abbild von Blankfilm: nichts – bzw. nur das, was idealer Blankfilm gewiss nicht aufweisen soll: Schmutz, Fehler, Schrammen, vorbeihuschende Schriftzeichen des Unvollkommenen. Speziell im Ton vermittelt sich diese Wahrnehmung: Wir hören eine composition automatique, die aufregende ‚Musik‘, die aus der Unreinheit jedes mechanischen Vorganges entsteht, lange bevor eine bewusste Note, eine bewusste Abbildung gesetzt wird. Dieses ‚Grammophon‘ spielt eine Platte, auf der sich das Eigengeräusch der Maschine zeitgleich aufzeichnet und als kunstfähiges Ereignis darbietet. In weiterer Folge verwendet L’Arrivée Material aus einem in Wien gedrehten Spielfilm namens Mayerling, mit Catherine Deneuve als Mary Vetsera. Man sieht – flüchtig und in Schwarz-weiß – die Ankunft eines Zuges in der Station. Man sieht also, zum zweiten Mal bei Tscherkassky, einen gefälschten Lumière-Film (L’Arrivée d’un train à La Ciotat). Man sieht den ‚Zug‘ der Perforationslöcher, der aus den Schienen springt und gegen andere Züge gejagt wird. Und man sieht den unglaublich, lichterloh psycho-physischen ZUG, den das Kino von seinem ersten Moment an gehabt haben muss […]“ (Horwath, 2005a, 41).

Zwei Hauptthemen des Kinos werden in Tscherkasskys Kurzfilm zusammengeführt: einerseits die Zugreise und die damit verbundene Dynamik der Bewegung, dieser dampfend-erschreckende Ausgangspunkt der Kinematografie, und, andererseits, das nicht weniger erschreckende Phantastische, das sich in den Dreißiger- und Vierzigerjahren zu den unterschiedlichsten Genres des Phantastischen Films ausdifferenzierte. Beide Aspekte verbinden sich darüber hinaus mit dem Archiv, dem Bewahrten. Die Avantgarde – hier mit diesem Beispiel als Beleg – entdeckt die Filmgeschichte auf dem Weg des Archivierten für sich; sie kehrt zu den Ursprüngen des Films zurück, um sich mit den Anfängen der Filmgeschichte und den Traditionen des Mediums zu konfrontieren. Peter Tscherkasskys Arbeit bringt das Publikum dabei an den Geburtsort des Films zurück – einen Bahnhof. Diese Schnittstelle – mal Ankunftsort, mal Startpunkt – ermöglicht es ihm mittels zufällig gefundenen Materials, das subversive Potential und die Qualität des frühen Films in Erinnerung zu rufen. In seiner Re-Memoria mengen sich das Material und auch die Materialität des Films – auf die später noch eingegangen werden wird – in das Dargestellte, beanspruchen einen Platz abseits des dafür vorgesehenen Raums. Im Sinne des Films, des Bahnhofs und des Archivs lässt sich somit sagen: Hier endet es, hier beginnt es – erneut.

Archiv – das ist nicht nur das zu bewahrende und zu reanimierende Material, sondern eben auch das strukturierende Ordnungsprinzip hinter den ebenfalls mit diesem Begriff bezeichneten, durchaus recht unterschiedlichen Institutionsformen. In der Folge soll deshalb nun in acht Passagen ein philosophischer Spaziergang durch die traditionellen und aktuellen Überlegungen und Ansätze unternommen werden: von den Konditionen des Bewahrens, über Fragen der Archivtheorie und des Erinnerungsdiskurses, über die Geschichte und Aufgaben der Filmarchive, schließlich hin zu Fragen der Narrativierung der bewahrenden Strukturen und die Eingebundenheit all dessen in die Dimension der Zeit.

Signaturen der Erinnerung

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