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1.4.2 Geschichte(n)

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An diesem Aussichtspunkt angelangt, kann auch zu einer reflexiven Neubetrachtung des Kinos angesetzt werden. Pop und Subversion, Geschichten und Geschichte beginnen zu zirkulieren und verdeutlichen uns die Macht des Kinos. Die Kontinuität von Themen prallt auf die Perspektiven der Nachgeborenen, auf die Positionenpluralität zwischen Resignation und unausgesetztem Bemühen um das subversive Potential des Mediums und seiner emanzipatorischen Fähigkeiten. Die Herausforderungen des Populären, seine Wirkungsmacht und die permanenten Zähmungsversuche durch Kommerzialisierung und Vermarktung verweisen uns darauf, dass auch Klassiker populär, ja vielleicht sogar klein angefangen haben. Die Geschichte, die der Film dabei im Antreten seiner medialen Erbschaft als respektable Quelle schreibt, ist, um Jacques Rancière heranzuziehen, eine Geschichte der Macht des Geschichteschreibens. Es ist das Schreiben/Filmen einer selbstständigen Historie, einer Geschichte – um Paul Nizon zu paraphrasieren –, die mit ihren Zäsuren und Frakturen allen Prognosen davonzulaufen scheint. Geschichte ist eben nicht linear, sie ist nicht glatt; vielmehr ist sie kurvenreich, von Brüchen durchzogen. Das Wie der Geschichtsschreibung, die Auseinandersetzung mit der Entwicklung der Geschichtsschreibung, führt zur auch für Film gültigen Entscheidung für Perspektive, für einen Modus. Eine Vielzahl von Wegen ist denkbar, von einer der Zeit enthobenen, vielleicht sogar zeitlosen Analyse bis hin zur Geschichtslektion als Geschichtenstunde. Die Vervielfältigung der Geschichte und ihre darstellenden/vermittelnden Ausdifferenzierungen – dem literarischen Erzählen eines Herodots oder, um John Burrow zu folgen, dem Marxismus als letztem großen Narrativ der Geschichtsschreibung – enthalten aber glücklicherweise auch die Option einer mediengestützten Gegen-Geschichte. Wenn Hannah Arendt im Zäsurjahr 1968, unter Bezugnahme auf Maurice Blondel, „the strange contradiction between thought and death“ (Arendt, 2002, 688) notiert, lässt sich dies auch auf Film ummünzen: Film als Geistersehen ist gleichermaßen Evokation und Entwurf. Film ist Geschichte als Herausforderung der Verknappung, der Verdichtung und der Vermittelbarkeit. Die Relation des Films zur Historie findet dabei nicht zuletzt auch in der Filmwissenschaft, die sich aus ihrer von anderen Disziplinen vorgegebenen Determination als Hilfswissenschaft befreien konnte, ihren eigenständigen Ausdruck. In der Analyse von Darstellung und Darstellbarkeit der Geschichte wird klar, wie die Filme der Zäsurjahre vielschichtige, polyfone, ja sogar paradoxe Zeitbilder schaffen, die nicht selten eine Erzählung um einen dokumentarischen Nukleus oder philosophischen Gedanken spinnen. Eben weil diese Filme – denken wir an ein Beispiel wie Night of the Living Dead (ausgerechnet aus dem Jahr 1968!) – ästhetisches Produkt und Analyseangebot sind, überführen sie, um Formulierungen Frank Sterns aufzugreifen, die „Ohnmacht der Fakten“ in einem neuen ästhetischen Prozess zu einer „cineastischen Geschichtswahrnehmung“. Eine derartige visuelle Imagination, die auf literarisch-historischen Entwürfen fußt und sich nach und nach von diesen Wurzeln emanzipiert hat, ohne sich freilich ganz von ihnen lösen zu können, bezeichnet die Relation zwischen dem zu belebenden Text und den maschinell reanimierten Bildern; Bildern, die zwischen dem Sagbaren und dem Zeigbaren, dem Ungesagten und dem Unsichtbaren angesiedelt sind. Film als Medium, als Möglichkeit des Denkens ist auch eine Erbschaft, die nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten mit sich bringt. Insbesondere in der Auseinandersetzung mit der sogenannten Wirklichkeit und ihrer Spuren und Markierungen, die sich zu einer Geschichte zusammensetzen lassen, manifestiert sich, wie Jean-Luc Godard es treffend zusammengefasst hat, die Notwendigkeit des Glaubens an ein Medium, das ein über die Erzählung verbundenes Verhältnis zur Geschichte unterhält. Dass diese Relation alles andere als unproblematisch ist, zeigt sich auch in den noch genauer zu untersuchenden filmischen Fluchtbewegungen in die Geschichten, die die Historie im Nacken haben. Ein unangenehm fester Biss scheint da zu erwarten zu sein, der mehr als ein vermeintlich romantisches Mal am Hals hinterlassen könnte.

Signaturen der Erinnerung

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