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1.2 Spur und Schmutz
ОглавлениеAm Anfang stand (und steht) ein riskanter Wunsch, der Wunsch nach Verlebendigung und vitaler Balance zwischen Bewahren und Zugänglichmachung im Sinne einer intellektuellen Logistik, die sich als neue, neu zu denkende und zu rahmende Praxis des Archivs fassen lässt. Gekoppelt ist dieses Begehren an die Aufgabe gegenüber dem Arbeitsgegenstand konstruktiv-kritisch und doch auch, im Sinne einer selbstreflexiven, wiederkehrend inventarisierenden Haltung, demütig zu sein. Es ist der Ansatz aus einem Leben heraus zu schreiben, das in einem permanenten Spannungsverhältnis existiert. Ein Schreiben aus dem Agieren und Handeln heraus, das in einen unabgeschlossenen (und unabschließbaren) Prozess verflochten ist, der in seiner als schizophren zu bezeichnenden Praxis einerseits die aktuelle Verfügbarkeit von Quellen zu berücksichtigen hat, andererseits in der Bewahrung und Aufarbeitung der jeweiligen Quellen über die eigene, erbärmlich kurze Lebensspanne hinausreichend gedacht und angesetzt werden muss. Besagtes Agieren und Handeln, das sich nicht zuletzt auch in einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, dem Vergänglichen und dem Vergessen (und einem mitunter unbequemen Erinnern daran) manifestiert, benötigt m. E. eine philosophische Rahmung, die im Folgenden anhand konkreter Analysen umrissen und angedeutet werden soll. Ergänzend muss das Eingeständnis stehen, dass hier unter den Bedingungen des Arbeitens als Wissenschaftler und Archivar formuliert, spekuliert und versucht wird, aber auch unter den Konditionen erlittener und anzunehmender, noch kommender Verluste. Das Eingeständnis des Persönlichen soll hier nicht als Zeichen argumentativer Schwäche missverstanden, sondern vielmehr als vitaler Ausdruck ernstgemeinter Durchdringung von Leben, Haltung und Arbeit gelesen werden. An die Stelle der naiven Nostalgie – die aber, das muss an dieser Stelle erwähnt sein, nicht immer nur naiv sein muss (Boym, 2001) – tritt die produktiv gewendete Melancholie (Holly, 2013, 1–24).
Der nur im ersten Moment so simpel wirkende Umstand, dass die Dinge, was auch immer wir darunter verstehen und zusammenfassen wollen, komplex sind, verleitet uns zu ihrer Theoretisierung – was, so ist anzustreben, eine (neue) Praxis der Analyse und der Anwendbarkeit zeitigt. Gute Theorie verträgt Anwendungen nicht nur, sie verlangt förmlich danach. Theorie kann selbst eine Praxis sein, etwa ein Hinarbeiten auf Verwerfungslinien, ein Aufruf der Zuarbeit, des wechselseitigen Referenzierens und Apostrophierens. Die neuen Anforderungen diskursiver Anschlussfähigkeit – die gleichermaßen den im Begriff des Archivs eingelagerten Anfang aufrufen (Höffe, 2002, 197ff.) als auch an die Todesverhaftetheit der Materie und unseres Existierens erinnern lassen (Derrida, 2010, 1) – verlangen nach einer Philosophie des Archivs, die, in ihrer theoretischen Skizzierug und gelebten Praxis, die Welt mit größtmöglichem Interesse betrachtet, sie interpretiert und möglicherweise verändern hilft. Das Archiv soll und muss dabei auch als Denkmodell verstanden werden, das Aspekte seiner Geschichte, Theorie, Form und Funktion berücksichtigt, das eine Kultur des Epistemischen einrechnet und eine notwendige, richtige ethisch-politische Akzentuierung erfährt. In der Folge möchte ich mich bei der Auseinandersetzung mit (Film-)Archiven und der damit verbundenen Herausforderung einer intellektuellen Logistik, samt der Verantwortung für Sammlung und Öffentlichkeit, für eine dreifaltige Interpretation aussprechen, die in Institution, Sammlung(en) und gelebte Praxis zerfällt. Das Ansetzen des Archivs als Denkmodell, das eine Kultur des Epistemischen miteinrechnet, stützt sich dabei auf Forschungen der Kunstwissenschaft und Philosophie (z. B. Martin, 2011; Tauschek, 2013), die in der Auseinandersetzung mit kulturfeldrelevanten Institutionsformen auf Felder wie Sammlung, Körper (und damit auf die physische Beschaffenheit der jeweiligen Quellen bzw. Objekte) und eine Kartografie von Orten und Räumen setzen. Die Aufwertung der räumlichen Dimension auf Kosten des Faktors Zeit erlaubt ein begrüßenswertes Fortführen der kritischen Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Realität und Repräsentation und der damit verbundenen Konsequenzen für Forschung, Lehre und Vermittlung; es befürwortet aber auch eine geschichtsphilosophische Diskussion, eine Haltung des Hackens von Geschichte abseits von Progressionslinearität und starren Prinzipien klassischer Hermeneutik.
Im Zugriff auf die in der Folge vorgestellten Einzelbeispiele soll der Duktus literarisch-essayistischer Ambition mit den Ansprüchen wissenschaftlich-philosophischer Analyse ausgesöhnt werden. Dieser fordernde Selbstanspruch ist Versuch einer methodologischen, kategorischen Positionsbestimmung und kann mehr eine Richtungsvorgabe sein denn eine in aller Totalität eingelöste Vorgabe. Der mittlerweile vielstrapazierte Begriff künstlerischer Forschung soll hier als Rahmung für den betriebenen, ernstgemeinten Spaziergang – eine Folge von Essays, wenn man so will – dienen. Auf die Möglichkeit und Machbarkeit einer Vermittelbarkeit und Darstellbarkeit von Theorie anhand konkreter Beispiele setzend, möchte ich eine literarisch geerdete Sprache mit einer philosophischen (oder auch: philosophisch motivierten) Analyse zusammenführen. In den Formulierungen, die Erkenntnis befördern möchten, wird eine positiv gemeinte Literarisierung vorangetrieben; im Kontext einer solcherart angelegten Unternehmung endet die jeweilige Forschung nicht zwingend dort, wo die Kunst beginnt (Konsuth, 1991; Bergdorff, 2012). Vielmehr reicht die Philosophie in die Kunst hinein; der Text einer schreibend-denkerischen Praxis schlägt, so der Versuch, als künstlerische wie auch forschende Tätigkeit eine Brücke.
In einschlägigen Forschungsarbeiten wird richtigerweise eine Annäherung zwischen Institutionen und wissenschaftlichen Disziplinen gefordert. Über die Formulierung dieser Notwendigkeit geht es aber selten hinaus. In meinen Ausführungen – die sich als partikulare Untersuchung, als spezifische Probebohrungen im angepeilten Feld verstehen – versuche ich, dieser Forderung eingedenk, Praxis und Parapraxis auf reflexive Weise einander anzunähern, also das Vergessene, das Unterdrückte, das Gewollte einzurechnen; etwas wie eine psychopathologische Parapraxis und eine ethisch-philosophische, politische Praxis anhand interpretierter Beispiele und Rahmungen miteinander in einer Verbindung zu denken. Im Versprechen, im Verlegen, im Verhören, in den kleinen Fehlern und Unschärfen werden die Freude, die Lust und auch der Schrecken des Archivs deutlich. Hier artikuliert sich ein Umstand, der von der klassischen Archivwissenschaft nicht gezähmt werden kann und nach einer kontextorientierten, in ihrer Letztbegründung philosophischen Theorie und Praxis ernsthafter Verspieltheit ebenso verlangt wie nach einer Hingabe der Verantwortlichen als Beispiel des Eingeforderten (Kafka, 2012, 139–142). Auch an diesem Punkt muss in letzter Konsequenz die idealgeprägte Richtungsvorgabe vor der völligen Einlösbarkeit stehen. Eine permanent inventarisierte Haltung aus Neugier und Demut, die das beschriebene Gleichgewicht arbeitspraktischer Balance in choreografischer Manier immer wieder neu hält (und auch: zu halten lernt), erweist sich dabei jedoch keineswegs als Unmöglichkeit. Der Umgang mit den Quellen braucht den Erhalt einer kontextbewussten Dialogfähigkeit, die sich der Kunst des Denkens und der Arbeit an der Erkenntnis bewusst ist. Die Notwendigkeit, zu wissen, wie sie etwa Martha Nussbaum in positivem Bezug zu John Rawls darstellt, muss einhergehen mit „an important distinction to be drawn between having views about an institution or profession and leading the way of life characteristic of that institution“ (Nussbaum, 1985, 136). In der erwähnten dualen Verantwortung gegenüber einer sich wandelnden, fordernden artikulierenden Öffentlichkeit und heterogenen Sammlungen liegt die Option, einem vernutzenden Denken zu begegnen, das entweder die Archive (und den daran gekoppelten Diskurs) auf die Rolle des Zulieferers limitiert oder gar die Sammlungen nur unter dem Aspekt zu realisierender Öffentlichkeit sieht. Es bedarf keines Hangs zu Materialfetischismus oder Animismus, um die Gefahren solcher Limitation zu erkennen.
Das Archiv als Untersuchungsgegenstand reflektiert auf den Umstand einer sich schon länger abzeichnenden Entwicklung, die die Archive aus ihrer bürokratisch-verwalterischen Zuspitzung herauslösen. Die in einen erweiterten Archivbegriff eingeschriebene (potentielle) semantische Leistung darf, bei aller Wertschätzung des Archvis als Raum bzw. Ort der Begegnung und Erkenntnis, nicht die Option ausblenden, das Archiv als Möglichkeit und Gesetz der laufenden Diskurse zu begreifen. Diese Stiftungsmacht verjüngt sich in der Auseinandersetzung mit dem Medium Film beispielsweise zur Frage nach der Erinnerung. Für die folgenden Analysen soll dabei aber darauf hingewiesen werden, dass sich hier Film nicht nur als Speichermedium des Kollektiven begreifen lässt, sondern vor allem als Medium, anhand dessen Erinnerung exemplifiziert werden kann. Archive als historiografische Registratur der Geschichte erlauben auf diesem Wege ein Einrechnen von Heimsuchungen, vom Unerwünschten, vom Symbolischen und nicht zuletzt vom Gespenstischen. Das Denken über das Archiv wird hier, im Sinne einer Philosophie als Möglichkeit der Begriffsfindung und semantischen Metamorphose, zum Denken mit dem Archiv.
In den vorliegenden Ausführungen ist es mir daher ein Anliegen, einen erweiterten Archivbegriff denkbar und operationalisierbar zu machen. Zu diesem Zweck wird beim Partikularen, mitunter auch beim sogenannten Lokalen angesetzt. In der konkreten Auseinandersetzung mit einer Vielzahl kaum bis gar nicht verhandelter Beispiele soll das Archiv in seiner praktischen Anwendung und Anwendbarkeit vorgestellt werden. Die analytischen Einzelstudien werden zeigen, wie die oben angedeuteten Verpflichtungen und Potentiale ausgespielt werden können, ohne einem bedenklichen hegemonialen Diskurs, z. B. in Bezug auf das Filmische, aufzusitzen. Vielmehr soll hier das Spannungsverhältnis aus Erinnerung, Schichtung und Materialität in den Vordergrund rücken. In der vertikalen wie horizontalen Strukturierung der gesamten Arbeit ist das Moment der Relation dominant: So stehen die Einzeluntersuchungen in einer aufbauenden, sich entfaltenden Verhältnismäßigkeit zueinander, ohne ihre Funktion als herauslösbare Glieder zu beeinträchtigen. Die Gewichtung des Verhandelten ist einerseits der sich ständig weiterschiebenden Front der Forschung und der von ihr gezeitigten Literatur geschuldet, andererseits der Notwendigkeit, ausgewählte Fragen in geeigneteren Kontexten zu adressieren. So ist der erschöpfend beforschte Bereich der Digitalisierung zwar berücksichtigt, doch aufgrund vorliegender Publikationen nicht neu begründet (vgl. dazu z. B. Witten, Bainbridge & Nichols, 2010; transfermedia, 2011; Ballhausen & Stöger, 2013). Die erwähnten spezielleren Fragestellungen, die den Fokus der vorliegenden Arbeit gesprengt hätten, habe ich an anderer Stelle untersucht: Thematisch fallen hierin beispielsweise die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Archiv und Autonomie (Ballhausen, 2012a), die Ausarbeitung von Strategien zur Veränderung des Archivs zum erweiterten Lernraum (Ballhausen, 2012b) oder die Beschreibung des Archivs als dynamisches System und Institutionsform mit gesamtgesellschaftlichen Verantwortungen (Ballhausen, 2014). Ergänzt wird die vorliegende Arbeit um eine bewusst umfassend gehaltene Bibliografie, die sowohl die verwendete Literatur nachweist als auch, im Sinne eines deutlich werdenden Mehrwerts, weiterführende Titel listet. Neben der wissenschaftlich korrekten Nachweisbarkeit des Herangezogenen soll hier eine Einladung zum Weiterlesen und Weiterdenken ausgesprochen sein. Für die eigene Arbeit am Archiv, die einem sensiblen, doch hoffentlich nicht idiosynkratischen Vorsatz gehorcht, steht ein Hinarbeiten auf eine Kritik des Archivs – in all ihren Mehrfachbedeutungen – an. Nachdem das geforderte unbedingte Archiv niemals das bedingungslose sein kann, kann ich, so hoffe und vermute ich, dahingehend gar nicht zu viel wollen. Die gute Wissenschaft ist immer (auch) lustvoll.