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1.3.8 Narrativität und Temporalität

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Abschließend sollen zwei neuere Ansätze gestreift werden, die ganz integrativ mit den Aufgaben, aber eben auch mit dem Bild eines Archivs zu tun haben: Narrativität und Temporalität. Für beide gilt das Verständnis des Archivs als Hort der Quellen, die, abhängig von unseren Fragestellungen und unserem detektivischem Blick, erst durch diesen Blick, durch diese Fragen ihren Wert entfalten – ein Umstand, auf den man aus der Position des Hüters und gatekeepers konsequent aufmerksam machen muss. Dies heißt und bedeutet in einem nicht unwesentlichen Umkehrschluss aber eben auch – insbesondere für die Filmarchive: Wie wird nun im Film über Archive gearbeitet, wie werden die Institutionen und ihre Materialien und Mitarbeiter dargestellt? Die zuvor schon erwähnte Verlebendigung des Materials, die Reanimationsbemühungen der bewahrenden Institutionen lassen sich als zyklische Bewegung beschreiben, die in der filmischen Thematisierung des Archivs und all seiner Facetten mit einem zweiten, ähnlichen Kreislauf verbunden werden.

Aus der Vielzahl der Beispiele soll hier nur auf eine kleine Auswahl hingewiesen werden, die grob in zwei Gruppen unterteilt werden kann: einerseits Beispiele, die einer formalen Narrativierungsstrategie zuzurechnen sind, andererseits Filme, die bewusst mit einer inhaltsbezogenen Narrativierungsstrategie arbeiten. Wie bei (fast) allen Typologien sind auch hier die Grenzen fließend. Im Rahmen der Konzentration auf das Formale werden das Medium Film und das Mediensystem Kino vor allem in ihrer durchaus nicht unproblematischen materiellen Beschaffenheit thematisiert. So werden in Gustav Deutschs Tradition ist (1999) die verschiedenartigsten Verfalls- und Bedrohungsszenarien miteinander verschaltet. Die inhaltliche Ebene, die einen Brand zeigt, korrespondiert mit der durch Zerfall beeinträchtigten Trägerschicht des Filmmaterials. Bill Morrisons Decasia (2002) geht sogar noch einen Schritt weiter: Im Zelebrieren der (gesuchten) Ruinenhaftigkeit (Simmel, 1996) der montierten Filmteile wird nicht nur auf die Vergänglichkeit und den Verfall hingewiesen, sondern aus eben diesem Umstand die Option des Erzählerischen gewonnen, die in zweifacher Wertigkeit mit und über das Material Auskunft gibt. Schon der Titel dieses hypnotischen Todes-Trips, der zwischen den Polen des eigentlich Repräsentierten und des von Erosion Zerklüfteten changiert, verweist ja auf die von Morrison verfolgte Poetik: Decasia ist eine Wortschöpfung aus Verfall (decay), Fantasie (fantasy) und dem antiken Paradies Arkadien (arcadia). Aus dem Wechselspiel zwischen verloren (lost) und wiedergewonnen (regained) erwächst die Filmerzählung des Unumkehrbaren, des Entropischen (Rayns, 2003) aus dem Filmmaterial.

Die Auseinandersetzung mit dem Titel führt in den zweiten Bereich der Narrativierungsstrategien: Kaum ein Beispiel wäre hier so sprechend wie Possession (2002), basierend auf dem gleichnamigen Roman Antonia Byatts, in dessen Zentrum eine revolutionäre Entdeckung in der Biografie eines fiktiven viktorianischen Dichters durch konkurrierende Literaturwissenschaftler steht. Wie von Suzanne Keen in dem Werk Romances of the Archiv in Contemporary British Fiction ganz ausgezeichnet herausgearbeitet (Keen, 2001, 34f.), ist die Handlung im Kontext des Feldes Archiv mit einer Vielzahl von wiederkehrenden Motiven und Elementen deutlich gekennzeichnet: Stellvertretend seien hier – neben der Bedeutung der materiellen Quellen für die Lösung des zumeist den Plot bestimmenden Rätsels – die romantischen Eskapaden der Protagonisten oder auch die schlechten Arbeitsbedingungen der Wissenschaftler und Archivare genannt. Nicht weniger oft sind auch die evozierte Atmosphäre der Institutionen und die Recherchevorgänge als detektivischer Akt von Bedeutung – ein erzählerisches Spiel, das sich auch mit einem Museum (Ballhausen, 2006) oder einer Bibliothek bewerkstelligen lässt. Nicht selten wird dabei die Institution in ihrer Ent-Faltung zum Grundstein eines neuen Schöpfungsaktes: Die Institution ersetzt in der Handlung nach und nach die Welt. Auf die Spitze getrieben kann dies sogar heißen, dass das Archiv das Leben selbst ersetzt. Ein Beispiel hierfür wäre David Cronenbergs medienreflexiver Spielfilm Videodrome (1983), in dem die Nebenfigur des ausschließlich telepräsenten Dr. Brian O’Blivion – nomen est omen – nur noch in Form von auf Videokassetten vor-gespeicherter Antworten und Aussagen erhalten ist. Dem eigentlich schon Verstorbenen garantiert trotz der physischen Veränderung und Verschiebung (Jameson, 1992, 22ff.) das Archiv, quasi im Rahmen einer Konvertierung zwischen Leben und Medium, das Überleben (Gaida, 2002, 46f.).

Mit dem Unsterblichkeitsversprechen des Films, dem Stemmen der Filmarchive gegen den Verfall des Materials, im Sinne einer „Erinnerungserzeugung“ (Doane, 2002, 221) und der angestrebten Wirksamkeit über die zeitlichen Konditionen und Begrenzungen hinweg, sind wir nun beim zweiten, angedeuteten Ansatz angelangt: der Dimension der Temporalität. Archive, die in ihrer philosophischen Beschaffenheit ein auf die Zukunft ausgerichtetes „Unterpfand“ (Derrida, 1997, 38) darstellen, rangen und ringen mit dem Spannungsverhältnis von Filmgeschichte und filmisch erfasster, fixierter Zeit. Der Regisseur Andrej Tarkowskij schreibt in seinem Essay Die versiegelte Zeit – und hier sind wir mit dem Ende nun tatsächlich am Anfang, bei der Vorgabe des zu Wiederholenden, angelangt – zu dieser, die Zukunft der Filmarchive deutlich (mit-)bestimmenden Herausforderung folgendes:

„Bis zum heutigen Tag können wir den genialen Film ‚Die Ankunft des Zuges‘ nicht vergessen, der bereits im vorigen Jahrhundert gezeigt wurde und mit dem alles begann. Dieser allgemein bekannte Film von Auguste Lumière wurde nur deshalb gedreht, weil man damals gerade Filmkamera, Filmstreifen und Projektionsapparat erfunden hatte. In diesem Streifen, der nicht länger als eine halbe Minute dauert, ist ein sonnenbelichtetes Stück Bahnsteig zu sehen, auf und ab gehende Damen und Herren, und schließlich der aus der Tiefe der Einstellung direkt auf die Kamera zufahrende Zug. Je näher der Zug herankam, desto größer wurde damals die Panik im Zuschauersaal: die Leute sprangen auf und rannten hinaus. In diesem Moment wurde die Filmkunst geboren. Und das war nicht nur eine Frage der Technik oder einer neuen Form, die sichtbare Welt wiederzugeben. Nein, hier war ein neues ästhetisches Prinzip entstanden. Dieses Prinzip besteht darin, daß der Mensch zum ersten Mal in der Geschichte der Kunst und Kultur eine Möglichkeit gefunden hatte, die Zeit unmittelbar festzuhalten und sich diese zugleich so oft wieder reproduzieren zu können, also zu ihr zurückzukehren, wie ihm das in den Sinn kommt. Der Mensch erhielt damit eine Matrix der realen Zeit. Die gesichtete und fixierte Zeit konnte nunmehr für lange Zeit (theoretisch sogar unendlich lange) in Metallbüchsen aufgehoben werden“ (Tarkowskij, 1985, 68).

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