Читать книгу Alles Mythos! 20 populäre Irrtümer über die Germanen - Thomas Brock - Страница 12
Klischees und Topoi
ОглавлениеViele der heutigen Mythen über die Germanen haben ihren Ursprung im Barbaren-Klischee römischer Autoren. Die meisten Eigenschaften, die man den Germanen zuschrieb, waren nicht neu. Weder Reinheit der Abstammung, Blondheit, Größe noch Kampfesmut waren exklusiv germanisch. Auch die Kelten bzw. Gallier galten als groß und kräftig. Der griechische Geschichtsschreiber Strabon sah große Ähnlichkeiten zwischen Galliern und Germanen, wobei letztere noch roher, größer und blonder seien. Der Sizilier Diodor schrieb im 1. Jahrhundert v. Chr. über die Gallier, sie hätten „einen hohen Wuchs, einen kraftvollen Körper und eine weiße Haut.“ Für den römischen Geschichtsschreiber Titus Livius hatten sie sogar einen „erschreckend“ hohen Wuchs. Und auch Ägypter und Skythen rühmte man als unvermischt und nur sich selbst gleich. Wenn etwas die Germanen von den Galliern auf Bildzeugnissen und in Schriftquellen schied, dann, dass die Germanen noch wilder und noch unzivilisierter waren. Die Germanen wurden zu den Barbaren schlechthin.
Es waren Klischees, die die Römer und Griechen zuvor auch anderen nördlichen Bewohnern zugewiesen hatten. Um auf Münzen und Reliefs deutlich zu machen, dass es sich bei den dargestellten Personen um entfernte, irgendwo aus dem Norden stammende Menschen handelte, benutzte man einen bestimmten Code. Zu dem gehörte Hose und nackter Oberkörper, grobes Gesicht und ungepflegtes, wildes Haar. Wüsste man nicht um den historischen Zusammenhang, so wäre auf frühen Bildwerken kaum zwischen Galliern, Skythen und Germanen zu unterscheiden.
Äußerliche Unterschiede zwischen den Menschen verschiedener Länder führten die Griechen auf Land und Klima zurück. In dem Traktat des Hippokrates „Über Luft, Wasser und Orte“, das um das Jahr 400 v. Chr. entstanden ist, heißt es, dass feuchtes Klima Menschen groß, dick, gelbhaarig, faul und träge; Wasser-, baum- und strauchloses Land, blond; und flache, wiesenreiche Gegenden mit drückendem Klima und warmen Winden breit, fleischig und dunkelhaarig mache.
Das Wort „Barbaros“ hatten die Römer von den Griechen übernommen. Damit bezeichneten sie Menschen mit einer unverständlichen oder stotternden Sprechweise. Das traf natürlich auf alle Völker zu, die nicht griechisch sprachen, so dass Barbar zunächst automatisch auch „Nicht-Grieche“ bedeutete.
Der griechische Philosoph Aristoteles schrieb im 4. Jahrhundert v. Chr. in seinem Werk, „Politika“, über Barbaren: „Die Völker in den kalten Gegenden und in Europa sind zwar voller Mut, aber in geringerem Maße mit Verstand und Kunstfertigkeit begabt. Gerade darum können sie leicht ihre Freiheit bewahren, doch sie sind nicht imstande, Staaten zu bilden und über ihre Nachbarn zu herrschen. Die asiatischen Völker sind dagegen begabt und haben künstlerisches Talent, aber ihnen mangelt es an Mut. Deshalb leben sie in Unfreiheit und Sklaverei. Das griechische Volk, das in der Mitte lebt, hat dagegen etwas von beiden Teilen. Es ist nämlich sowohl mutig als auch intelligent.“
Weil die Römer demzufolge ursprünglich auch Barbaren waren, weiteten sie den Begriff aus. So argumentierte der römische Politiker Marcus Tullius Cicero noch im 1. Jahrhundert v. Chr.: „Falls dagegen Barbar auf das Verhalten und nicht die Sprache abzielt, sind die Griechen meiner Meinung mindestens genau so barbarisch wie die Römer.“ Aus Sicht der Römer war es damit möglich, dass aus Barbaren Zivilisierte werden konnten. Somit meinten die Römer nicht nur das Recht, sondern geradezu die Pflicht zu besitzen, fremde Völker zu unterwerfen und unter die Pax Romana, den römischen Weltfrieden, zu führen, um sie zu „entbarbarisieren.“
Es gibt viele Gründe, warum die Germanen in den römischen Zeugnissen so furchterregend daher kommen. Die Gallier hatten durch die Nähe zur antiken Hochkultur bereits viel von der mediterranen Lebensart übernommen, noch bevor Rom sie in ihr Weltreich integrierte. Zuerst importierten, später imitierten sie römische Krüge, Schalen und Platten und kopierten so vieles von der römischen Ess- und Trinkkultur. Nach der Eroberung durch Caesar gab sich zuerst die Elite bewusst römisch. Männer traten jung als Söldner der Armee bei und waren mit über fünfzig Jahren, nach Ende ihrer Militärzeit, römische Bürger. Statt Brei aus Näpfen wie ihre Großväter speisten sie nun Wein und Oliven von exquisitem Tafelgeschirr. „Den Galliern aber hat die Nähe der römischen Provinzen und die Kenntnis überseeischer Verhältnisse viel an Reichtum und Verfeinerung der Lebensweise gebracht, so dass sie sich langsam daran gewöhnten, von den Germanen besiegt zu werden,“ beschrieb Caesar in seinem Bericht vom Gallischen Krieg einen Nebeneffekt der Entbarbarisierung. Doch hielt man schon die entbarbarisierten Gallier für wild, so erschienen den Römern die Sitten der Germanen nun noch roher.
Germanien war für die Römer weit weg. Die daraus resultierende Unwissenheit führte dazu, dass noch lange Zeit das unglaublichste Gerücht die Runde machen konnte. Die wenigen Nachrichten, die einem Römer damals zu Ohren kamen, wurden ausgeschmückt, vereinfacht und übertrieben. Kaum ein römischer und griechischer Schriftsteller konnte sich vor Ort erkundigen. Es war ihnen nur unter größten Anstrengungen möglich, weite Reisen zu unternehmen. Die meisten von ihnen, wie Tacitus, hatten Germanien nie gesehen. Das, worüber sie schrieben, war ihnen von Gewährsmännern zugetragen worden, von Soldaten, Händlern, germanischen Söldnern und Angehörigen der kaiserlichen Leibgarde. Außer Caesar hatte von den römischen Historikern nur Velleius Paterculus Germanien in den Jahren um Christi Geburt als Kriegsteilnehmer selbst gesehen. Nur er und Caesar konnten aus eigener Anschauung berichten. Die Anderen kopierten die Fehler und Irrtümer ihrer Vorgänger.
Für die Römer gab es weitere Gründe, um das Barbaren-Klischee bis ins Absurde zu steigern. Man brauchte wohl auch eine Erklärung dafür, warum solche Barbaren überhaupt ein ums andere Mal die straff organisierte und hoch gerüstete römische Armee schlagen konnten. Die Kimbern hatten die Römer bei Noreia 113 v. Chr., bei Arausio 105 v. Chr. und in vielen kleineren Scharmützeln geschlagen und konnten erst 101 v. Chr. bei Vercallae auf den Raudischen Feldern in Italien gestoppt werden. Zudem war es üblich, Besiegte als gefährlich darzustellen, um Feldherrn noch triumphierender erscheinen zu lassen. So machte Plutarch Kimbern und Teutonen zu den eingangs zitierten Giganten, weil er die Verdienste des Feldherrn Marius umso bedeutender erscheinen lassen wollte.
Je mehr Römer und Griechen von den Barbaren wirklich wussten, umso weniger glaubhaft wurden die Klischees und Gerüchte. Natürlich wurden auch die Germanen umso weniger barbarisch, je enger sie in Kontakt mit der mittelmeerischen Zivilisation kamen. Der römische Historiker Cassius Dio schildert, wie bereits die Kimbern „viel von ihrem Ungestüm verloren“ und „schlaffer und kraftloser an Leib und Seele“ wurden, sobald sie sich einmal angesiedelt hatten. „Der Grund lag darin,“ so Cassius Dio, „dass sie (jetzt) nicht mehr wie früher unter freiem Himmel lebten, sondern Häuser bezogen, nicht mehr kalt badeten, sondern warme Bäder benutzten, die landesüblichen leckeren Speisen und Süßigkeiten aßen, während sie sich früher von rohem Fleisch nährten, und dass sie gegen ihre Gewohnheit kein Maß kannten im Weingenuss und Trinken. Diese neue Lebensweise raubte ihnen ihren wilden Mut und schwächte ihre Körperkraft, so dass sie weder Strapazen noch Mühsal, weder Hitze noch Kälte noch Mangel an Schlaf zu ertragen vermochten.“
Die Germanen östlich des Rheins lernten die römische Lebensweise vor allem in den Jahren zwischen 11 v. Chr. und 16 n. Chr., zur Zeit der römischen Feldzüge in Germanien, kennen. Römische Städte wie Waldgirmes an der Lahn und die Legionslager entlang der Lippe waren Vorposten der Entbarbarisierung. Verbündete germanische Stämme stellten junge Kinder als Geiseln, die in Rom aufwuchsen, ausgebildet wurden und wie unzählige germanische Söldner nach Jahren des gehobenen römischen Militärdienstes in ihre Heimat entlassen wurden, in die sie römische Sitten mitbrachten.
Es dauerte, bis die Römer in ihren Schriften und Bildern ein etwas naturalistischeres Bild zeichneten. Erst am Ende des ersten Jahrhunderts verliert sich das Klischeehafte, und die Darstellungen auf Bildwerken, wie der Trajanssäule und der Markussäule, werden realistischer. Doch selbst noch als die Römer schon lange wussten, wer oder was die Germanen waren, behaupteten römische Autoren, wie Appian in seiner „Celtica“, dass sie größer als die größten Menschen seien, in Notzeiten sogar Gras äßen und so ungestüm kämpften wie Tiere.
Mit den Germanen ist es nicht viel anders als mit Indianern, Aborigines, Eskimo und Maya. Sitten und Gebräuche von Fremdvölkern werden von den Entdeckern abgewertet und Kuriositäten überbetont oder aber vorbildhaft dem eigenen Zustand gegenübergestellt.