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IRRTUM 1: Die Germanen gab es nicht

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Wer sie waren, woher sie kamen, wohin sie wollten – alles das war in der „zivilisierten“ Welt im südlichen Europa, bei Römern und Griechen, damals unbekannt. Wenigstens 19 Jahre hatten die Kimbern und Teutonen Europa durchwandert. Waren 120 v. Chr. auf der jütischen Halbinsel aufgebrochen, von dort bis Serbien marschiert, hatten nach 113 Frankreich, Spanien und Belgien verwüstet und schließlich 101 die Alpen überquert, um Rom, der ewigen Stadt, den Garaus zu machen. Manch einer von ihnen wurde in einer Wagenburg geboren, wuchs auf zwischen Planen, Feuerstellen und Ochsen und starb noch als junger Mann in einer der Schlachten dieser Jahre. Von Zweien von ihnen kennt man noch die Namen: Boiorix und Teutobod, ihre Anführer, sind in den wenigen schriftlichen Aufzeichnungen jener Jahre verewigt.

In den Städten, Dörfern und Villen im Mittelmeergebiet interessierte sich anfangs kaum jemand für die Wanderer und das Land, aus dem sie stammten. Erst als sie in Sichtweite der Grenze gelangten, nachdem sie über zehn Jahre Europa durchkreuzt hatten, verbreitete sich allmählich ihr Mythos. Man hielt sie für Räuber und Menschenfresser und als „furor teutonicus“, als teutonische Raserei, sollte die Angst vor dem Einfall der Barbaren aus dem Norden über einhundert Jahre später sprichwörtlich werden.

Es waren die ersten Germanen. Zwar nannte man sie noch Jahrzehnte nach ihrer Wanderung „Kimbern und Teutonen“ und man hielt sie für Kelten, Gallier oder für „Keltoskythen“. Doch als der Feldherr und Politiker Gaius Julius Caesar in den 50er Jahren vor Chr. erstmals den Begriff Germanen für alle Stämme östlich des Rheins prägte, zählte er auch die Kimbern dazu, genauso wie das auf ihn folgende Schriftsteller wie Strabon, Plinius der Ältere und Tacitus taten. Bis dahin aber sollte es noch etwas mehr als fünfzig Jahre dauern.

Als Kimbern und Teutonen durch Europa schweiften, wusste man von Germanen nichts. Und von „Kimbern“ hatte man bis dahin auch nicht gehört. Die ersten Geschichtsschreiber am Mittelmeer und in Vorderasien interessierte das Land jenseits der Alpen nicht. Für sie gab es wichtigere Länder zu entdecken.

Am Rande ihrer bewohnbaren Welt lag der „Okeanus“. Dort gab es phantastische Inseln, Länder und Völker. Hakataois verfasste am Ende des 6. Jahrhunderts eine „Rundreise“ durch Europa und Asien. Der griechische Geschichtsschreiber und Geograph Herodot beispielsweise berichtete von Lydern, Persern, Babyloniern, Ägyptern, Skythen, Libyern und natürlich auch Griechen, doch nicht von Germanen. „Über die in Europa am weitesten westlich gelegenen Länder“, schreibt Herodot in den Historien „vermag ich nichts Genaues zu berichten. Auch habe ich trotz aller Bemühungen von niemandem, der dort gewesen wäre, etwas von der Beschaffenheit des Meeres jenseits von Europa erfahren können. Aus diesen entlegensten Gegenden kommt aber das Zinn und der Bernstein zu uns.“

Die Pioniere der Geschichtsschreibung und ihre Nachfolger hatten den hohen Norden ausgespart – mit einer Ausnahme: Pytheas von Massalia hatte sich das Land jenseits von Kelten und Skythen um 325 v. Chr. etwas genauer angesehen. Als Alexander der Große das Makedonische Reich bis nach Indien ausdehnte, führte Pytheas eine Flottenexpedition in den hohen Norden.

Seine Reise begann in Großbritannien, dass den Römern wegen seiner Zinnlagerstätten in Cornwall vertraut war. Sechs Tage segelte er von dort bis Thule, wo das Eismeer und das Polarlicht nur noch einen Tag entfernt lagen. Er habe „ein merkwürdiges Gemisch, einer Meerlunge ähnlich, gesehen“, notiert der Geograf, „in dem Land und Meer und alle Dinge schweben“ und Gegenden, „in denen nur einmal im Jahre Tag und einmal Nacht ist“.

Zurück fuhr er wahrscheinlich entlang der Nordseeküste, wo er in einem „Mündungsgebiet“ auf den Stamm der Guiones traf. Dort lag auch die Insel Abalon, an deren Strand Bernstein angespült werde, mit dem die Bewohner heizten, oder den sie an die Teutonen, einen Nachbarstamm der Guiones, verkauften.

Der genaue Verlauf von Pytheas’ Flottenexpedition ist heute nicht mehr bekannt. Ob Pytheas’ Thule, das seit ihm sprichwörtlich für den äußersten Nordrand der Welt steht (lateinisch: ultima Thule), in Norwegen, auf Island oder den Shetland-Inseln lag, ist ungewiss. Abalon, so wurde immer wieder vermutet, könnte Helgoland gewesen sein. Immerhin blieben von seinem Bericht „Über das Weltmeer“ Beschreibungen anderer antiker Autoren erhalten. Ein Originalzitat ist so überliefert: „Und die Barbaren zeigten uns, wo die Sonne sich zur Ruhe begibt.“

Das Land nördlich der Alpen lag fern. Es reichte an gesichertem Wissen, dass dort im Norden westlich Kelten lebten, als Spezialisten im Verhütten und Schmieden von Eisen bekannt, und östlich Skythen, ein Reitervolk aus den Steppen nördlich des schwarzen Meeres. Die Konkurrenten vor der Haustür, wie die Etrusker in der Toskana, hatte die aufstrebende Römische Republik seit 395 v. Chr. mehrfach besiegt. Das südliche Etrurien hatten sie 265 v. Chr. erobert und die nördlichen Städte der Etrusker schlossen Bündnisse mit Rom. Die Iberische Halbinsel unterteilte Rom im Jahr 197 v. Chr. in die römischen Provinzen Hispania citerior und Hispania ulterior, nachdem die Karthager unter Hannibal am Ende des zweiten Punischen Krieges vertrieben waren. Karthago und den Rest des Reiches in Nordafrika eliminierte Rom im Dritten Punischen Krieg (149–146 v. Chr.) und Griechenland stand nach der Zerstörung Korinths 146 v. Chr. unter römischer Herrschaft.

121 v. Chr., kurz bevor Kimbern und Teutonen ihren Marsch durch Europa antraten, hatte Rom im Süden Frankreichs die Provinz Gallia ulterior (später: Gallia Narbonnensis) geschaffen. Der Name bedeutete das „entfernte Gallien“ – im Gegensatz zur älteren Provinz Gallia citeria (auch: cisalpina), dem „näheren Gallien“. Um das Jahr Einhundert v. Chr. kontrollierte Rom die Küste rund um das Mittelmeer und dessen Hinterland. Doch das Land nördlich der Alpen lag noch immer fern.

Das änderte sich auch nicht, nachdem der Treck der Kimbern und Teutonen seit 120 v. Chr. 5000 Kilometer durch Europa gewandert war und dabei ein ums andere Mal der römischen Armee empfindliche Verluste beigebracht hatte und schließlich im Jahr 101 sogar Italien angriff. Wer diese Menschen waren, woher sie kamen, wohin sie wollten, blieb den Römern verborgen. Stattdessen machte manch schauderhaftes Gerücht die Runde.

Selbst beim Sizilier Diodor, einem Zeitgenossen Caesars, taucht der Name Germanen nicht auf. Er nannte die Bewohner Nordeuropas Kelten und Gallier. „Es heißt, dass von den wildesten (Galatern), die gegen Norden und in der Nähe des Skythenlandes leben, einige sogar Menschenfresser seien“, schrieb er etwa in seiner Universalgeschichte. Noch immer lagen die Länder jenseits der Alpen fern. Der Begriff Germanen war unbekannt.

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