Читать книгу Alles Mythos! 20 populäre Irrtümer über die Germanen - Thomas Brock - Страница 6
Die Germanen – Zwischen Mythos und Wirklichkeit
ОглавлениеAls wild und unzivilisiert, roh und bestialisch beschrieben schon die antiken Historiker vor rund zweitausend Jahren die Germanen. Dass diese Klischees bis in die Gegenwart fortleben, liegt vor allem auch daran, dass die Germanen ihre Geschichte selbst nicht aufgeschrieben haben. Stattdessen berichteten über sie nur einige wenige römische und griechische Schriftsteller. Für die waren andere und fremde Völker sowieso Barbaren, die sich in Felle kleiden, auf dem Erdboden schlafen und den Wein unverdünnt trinken. Sie blickten auf die Germanen durch die Brille von Eroberern, überhöhten und spitzten zu und stellten den Feind als besonders gefährlich dar, um die Siege der eigenen Feldherren umso bedeutender und die Verluste umso unvermeidbarer erscheinen zu lassen. Der römische Schriftsteller Plutarch etwa stellte die Kimbern und Teutonen, die am Ende des zweiten Jahrhunderts v. Chr. über 5000 Kilometer durch Europa gezogen waren, als besonders roh und wild dar – so wirkten die Taten des Heerführers Marius umso größer. Der römische Feldherr Gaius Julius Caesar betonte die Aggressivität der Germanen – um so seinen Gallienfeldzug zu begründen. So ist vieles von dem, was in den römischen Geschichten, Kaiserchroniken und Feldzugberichten über dieses Volk geschrieben steht, zweifelhaft. Vor allem Caesar begründete mit seinem umfassenden „Bericht über den gallischen Krieg“ maßgeblich das Klischee der wilden Barbaren. Der römische Geschichtsschreiber Publius Cornelius Tacitus griff später vieles davon wieder auf. Die Klischees und Irrtümer, die sich schon in der Antike gefestigt hatten, werden in den ersten sechs Kapiteln dieses Buches dargestellt.
Rein und unvermischt, Urväter deutscher Nation, von überlegener Rasse – diese Klischees entwickelten sich um 1500 durch deutsche und italienische Humanisten und in der um 1800 aufkommenden deutschen Nationalbewegung. Sie mündeten schließlich in dem Versuch, eine jahrtausendealte, rassische Überlegenheit der „Deutschen“ zu konstruieren. Doch auch hier liegen die Ursprünge Jahrhunderte zuvor in der Antike vor allem bei dem römischen Autor Publius Cornelius Tacitus. Er hatte in seiner kleinen Ethnographie „Germania“ um 100 n. Chr. die Germanen als sittliches Gegenbild zu dem – in seinen Augen – moralisch verkommenden Römischen Reich stilisiert und damit in weiten Teilen erstmals das Klischee vom Edlen Wilden geschaffen. Die Irrtümer, die sich daraus in der frühen Neuzeit und Moderne entwickelten, werden im zweiten und dritten Teil dieses Buches beschrieben.
Der rote Faden, der die einzelnen Kapitel dieses Buches miteinander verbindet, ist das Bild der Germanen, dessen Rezeption und Missbrauch von der Antike bis zur Gegenwart. Für dieses Thema gibt es einen Begriff: Es ist der Germanenmythos. Die vielen einzelne Irrtümer und Klischees über die Germanen bilden zusammen einen Gesamtmythos. Da Mythen sinnstiftende Erzählungen sind, die Ursprung und Herkunft von Personengruppen, Kulturen und Völkern ausdrücken sollen, ist der Germanenmythos ein deutscher Mythos im engsten Sinne des Begriffes. Er beruht auf einem historisch wahren Kern, der vereinfacht und durch zeitgenössisch gängige Schemata in Form gebracht wurde. Arminius vom germanischen Stamm der Cherusker etwa war so ein mythologischer Idealheld, der sogar weit über Deutschland hinausstrahlte, etwa als „Herman the German“ im angelsächsischen Sprachraum. Noch bis in die jüngste Vergangenheit bedienten sich seiner die Medien. Zum Jahreswechsel 2008/2009 titelte etwa das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL: „Die Geburt der Deutschen. Vor 2000 Jahren: Als die Germanen das Römische Reich bezwangen“. Der Hauptartikel ist überschrieben mit: „Feldherr aus dem Sumpf“. „Wollte Hermann der Cherusker ein germanisches Ur-Reich schaffen? 2000 Jahre nach der Varusschlacht liefern Archäologen ein verblüffendes Bild. Der später zum Nationalhelden erhobene Heerführer war ein Machtpolitiker, der Rom weit mehr ins Wanken brachte als bislang gedacht.“ Mit diesen Sätzen bediente DER SPIEGEL wenigstens die folgenden sechs Irrtümer und Klischees, denn: 1. Deutsche gab es vor 2000 Jahren nicht, 2. Von einem germanischen Reich kann keine Rede sein, 3. Das Römische Reich bezwangen die Germanen nicht, 4. Hermann kam nicht aus dem Sumpf, 5. Hermann hieß nicht Hermann, sondern Arminius und 6. Das Römische Reich des ersten Jahrhunderts nach Christi Geburt wankte nicht wegen der Germanen. Nur eines stimmt: Arminius wurde später zum Nationalhelden erhobenen. Das war ab etwa 1500 der Fall und zeitigte ab 1933 verheerende Folgen.
Als die Schriften der römischen Autoren, allen voran die Germania des Tacitus, im 15. und 16. Jahrhundert wiederentdeckt wurden, nachdem sie mehr als eintausend Jahre in Vergessenheit geraten waren, nahmen die Reformatoren den antiken Mythos von den Germanen auf. Glaubte man bislang daran, von den alten Griechen abzustammen, wurden aus den Germanen allmählich die Urahnen der Deutschen. All die schlechten Eigenschaften, die die römischen Autoren ihnen zuschrieben, wurden ausgeblendet. Im 17. und 18. Jahrhundert waren Arminius und seinen Germanen als Motiv auch eine kurzfristige internationale Karriere beschieden, etwa unter französischen Philosophen wie Charles de Montesquieu oder Jean-Jacques Rousseau und italienischen Opernkomponisten.
Einen Wendepunkt in der Germanenrezeption markierte die Zeit der napoleonischen Feldzüge. Der Konflikt zwischen Römern, Romanen und Germanen in der Antike wurde zum Konflikt zwischen Franzosen und Deutschen. Die Philosophen und Schriftsteller Johann Gottlieb Fichte, Ernst Moritz Arndt und der „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn verliehen dem bis dahin patriotisch geprägten Germanenmythos erstmals einen deutlich nationalistischen, chauvinistischen und rassistischen Anstrich.
Vor allem im 19. Jahrhundert wurde die Schlacht im Teutoburger Wald (Varusschlacht) des Jahres 9 n. Chr. zum „Wendepunkt der Weltgeschichte“, wie es unter Anderen der Nobelpreisträger Theodor Mommsen behauptete. Die blonden Recken unter Arminius hätten damals die Römer verschreckt, weshalb wir heute mit deutscher und nicht mit romanischer Zunge sprächen. Zwar war die Varusschlacht im Jahr 9 n. Chr. eine der verlustreichsten, die der römischen Armee je widerfahren ist, doch ihre Auswirkungen waren regional beschränkt. Die Römer marschierten schon wenige Jahre nach der Schlacht in den angeblich befreiten Gebieten wieder auf. Die Koalition des Arminius zerbrach und der angebliche deutsche Nationalheld wurde schließlich von seiner eigenen Verwandtschaft ermordet. Bei den Römern war die Schlacht schon nach wenigen Jahren wieder vergessen. Und „Deutsche“ und „Deutschland“ lagen im Jahr 9 n. Chr. wenigstens noch eintausend Jahre entfernt in der Zukunft. Dennoch hält sich kaum ein Germanen-Mythos so hartnäckig, wie der von der Schlacht im Teutoburger Wald.
Im deutschen Kaiserreich (1871–1918) drang der Germanismus in weite Teile der Bevölkerung ein. Theaterstücke wie Heinrich von Kleists „Hermannsschlacht“ kamen Jahrzehnte nach ihrer Schöpfung auf die Spielpläne der großen Theater. Bei Detmold wurde 1875 das Hermannsdenkmal eingeweiht und seit 1876 befeuerte Richard Wagner den Germanenmythos in seinem „Ring des Nibelungen“. Vor allem ab 1890 entstand in der völkischen Bewegung das Gedankengut der Nationalsozialisten. Völkische Agitatoren gründeten ariosophische Orden, die sich der Rassereinhaltung verschrieben, völkische Wissenschaftler wie Gustaf Kossinna propagierten eine angebliche „altgermanische Kulturhöhe“, völkische Laien zelebrierten Sonnenwendfeiern und Runenorakel und erträumten ein blond-blauäugiges Endzeitparadies. Die Herkunft der Arier wurde in den Norden verlegt und die Germanen zu ihren edelsten Abkömmlingen gemacht. Dieser Germanenmythos kostete nach 1933 Millionen von Menschen das Leben.
Dennoch ist der Germanenmythos noch heute allgegenwärtig, wie nicht nur das Spiegel-Zitat zeigt. In der Alltagssprache findet er sich in Begriffen wie „Tussi“ (von Thusnelda) oder in der Redewendung „einen Hermann machen“. Bielefelds Fußballverein heißt „Arminia“. Die Mannheimer Eichbaum-Brauerei brachte 2012 als „Bier des Jahres“ den „Goldenen Germanen“ heraus, auf dessen Etikett einem ein rotblonder, langhaariger Mann mit Hörnerhelm und Hornbecher zuprostet. Im Jahr 2009, zum 2000sten Jahrestag der Schlacht im Teutoburger Wald, verkauften Bäckereien „Varusbrötchen“, Museumsshops Marmelade „Thusneldas Beste“ und Salami „harter Herrmann“ – wobei dies jedoch salopp-süffisant gemeint war –, während sich in den Buchläden die Titel zum historischen Ereignis türmten. So mancher fabulöse Mythos wurde da schon gleich auf dem Titel transportiert, wo es zum Beispiel hieß: „Der Tag, an dem Deutschland entstand“ – wenngleich dieses Buch inhaltlich eine andere Tendenz aufwies.
Aus den Schulbüchern verschwand das Bild der kriegerischen, heldenhaften, blonden und blauäugigen Germanen erst in den 1980er-Jahren und nur allmählich. Noch immer verlegte so manche Schullektüre die Herkunft der Germanen und die Ursprünge dieses Volkes in die Bronzezeit, manchmal sogar in die Jungsteinzeit – ein Mythos, den die Nazis geschaffen hatten. Auch in den Kinder- und Jugendbüchern lebt das Klischee gelegentlich bis heute fort. Raubeine in Pelzen, Fellen und mit Hörnerhelmen sind in den Texten und Bildern keine Ausnahme.
Und auch die Zeitungen und Zeitschriften spinnen den unheilvollen Faden weiter: Die Germanen sind groß und blond, die Wälder dicht, das Land unwegsam und ständig ergießen sich Schauer vom Himmel. Nicht nur das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL, bedient sich regelmäßig bis in die jüngste Vergangenheit längst überkommener Mythen, die der völkischen Bewegung und der nationalsozialistischen „Blut und Boden“-Ideologie entstammen. Der STERN meinte 2009 etwa: „Die Germanen – Archäologen entwerfen ein neues Bild unserer kriegerischen Vorfahren“ und zeigte einen blonden Germanen. Auch P. M. Hefte und P. M. Magazine machen sich immer wieder auf die „Spuren der Germanen“ und zeigen muskulöse, kräftige Männer Hammer schwingend auf Streitwagen und verknüpften so nordische Mythologie und Wikingerklischees des Mittelalters mit den Germanen der Antike.
Der Ursprung der Germanen wird dabei nicht nur bis in die graue Urzeit verlängert, sondern auch eine Kontinuität in die jüngere Vergangenheit gezeichnet. Da den Überblick zu behalten fällt schwer. Immerhin lässt sich anhand der antiken Schriften ein grober Abriss einer römisch-germanischen Geschichte erstellen. Zusammen mit den archäologischen Hinterlassenschaften und modernsten Methoden gelingt es zumindest in groben Zügen den Menschen der Zeit zwischen 100 v. Chr. bis etwa 300 n. Chr. an Rhein, Elbe und Donau ihre Geschichte zu entlocken – und viele Mythen zu entzaubern.