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Seit ein paar Stunden schon war es Freitag, der 5.Mai 2006.

Die Nacht war bisher ruhig gewesen. Zu ruhig sogar, weil die Zeit einfach nicht vergehen wollte und sie schon mehrfach begonnen hatten, über völlig belanglose Dinge zu reden. Nach sieben gemeinsamen Nachtschichten auf dem Streifenwagen war der Vorrat an Gesprächsthemen einfach erschöpft, und man redete nur miteinander, weil das Schweigen noch peinlicher war.

„Mit den Schalkern ging es diese Saison ja auch nicht so besonders", versuchte es Polizeihauptmeister Gerber noch einmal.

„Wieso?“, wollte sein junger Kollege nicht sonderlich interessiert wissen. „Am Mittwoch haben sie doch Bielefeld noch mit 3:1 abgefertigt.“

„Na gut, aber wer ist Arminia Bielefeld? Warte mal nur bis morgen, da können sie sich in Mainz schon wieder die nächste Packung abholen.“

„Ist doch egal, Bayern ist sowieso Meister, und Pokalsieger sind sie vorige Woche auch wieder geworden.“

„Hör mir bloß auf mit dem Pokal! Das 0:6 der Schalker in Frankfurt werde ich mein ganzes Leben nicht mehr vergessen. Für uns kann in dieser Saison wieder mal nur das übliche Minimalziel geben: die Dortmunder müssen auf jeden Fall hinter uns sein. Und das sind sie und bleiben sie auch.“

Polizeihauptmeister Gerber stimmte sofort zu und gab dann noch zu bedenken, dass in diesem Jahr ohnehin im Fußball andere Dinge wichtiger seien. In etwas mehr als einem Monat würde in Deutschland schließlich die Fußball-Weltmeisterschaft beginnen.

„Meinst du, unsere Jungs haben eine Chance?“

Davon war Gerber gar nicht überzeugt, weil er den Trainer der deutschen Nationalmannschaft als Weichei bezeichnete.

„Zumindest wird die ganze Sache für uns eine Menge Überstunden bedeuten.“

Und weil diese Behauptung zwischen ihnen ganz offensichtlich alles andere als strittig war, wurde es wieder still im Wagen.

Auch ihren liebsten Zeitvertreib für nicht enden wollende Nachtschichten hatten sie gerade bereits hinter sich gebracht. Über die kilometerlange Grillostraße waren sie quer durch Schalke gefahren und hatten wie immer vorher eine Wette darüber abgeschlossen, wieviele Pkw wohl diesmal regelwidrig entgegen der Fahrtrichtung am Straßenrand geparkt sein mochten. Heute nacht hatte Westermann das Spielchen gewonnen. Neun hatte er getippt, und es waren sieben gewesen. Gerber hatte mit zwanzig die kriminelle Energie seiner Mitmenschen wie immer ganz gehörig überschätzt.

Nun standen sie an der Einmündung der Magdeburger in die Bismarckstraße, und als die Ampel endlich auf Grün umsprang, lenkte Gerber den Wagen langsam nach links und ließ ihn dann mit geringer Geschwindigkeit über die völlig menschenleere Straße in Richtung Buer zockeln, als wisse er beim besten Willen nicht, was sie hier um diese Zeit eigentlich zu suchen hatten. Selbst der Bahnübergang der Emschertalbahn, an dem sich tagsüber die Autos alle Nase lang in beide Richtungen kilometerweit stauten, schien in einen tiefen Dornröschenschlaf verfallen zu sein.

„Arsch der Welt", sagte Westermann leise. „Echt Arsch der Welt."

„Kanakengegend", schränkte Gerber ein. „Hier hausen doch nur noch Kanaken." Und dann war Westermann froh, dass der Kollege seine Meinung zu Ausländern im allgemeinen und Türken im speziellen nicht weiter ausführte.

Dabei gab es einen wahren Kern in dem, was Gerber gesagt hatte: Vor ein paar Wochen war ein großer Artikel im „Stern“ erschienen über die immer weiter um sich greifenden Slumviertel in deutschen Großstädten, und dieser Stadtteil Bismarck und diese Straße, über die sie gerade fuhren, waren mit Fotos als unrühmliche Beispiele genannt worden.

Auf der rechten Seite tauchte der Schacht 3 der vor ein paar Jahren stillgelegten Zeche Consol auf. „Gespenstisch", meinte Gerber gereizt. „Absolut gespenstisch. Heute müssen wir im Ruhrgebiet schon ins Museum gehen, um zu wissen, wie ein Pütt aussieht."

Westermann lachte kurz und sagte nichts. Und als habe ihn diese Reaktion des Kollegen endgültig wütend gemacht, fuhr Gerber fort: „Hugo haben sie doch jetzt auch noch dicht gemacht. Wo soll denn das noch hinführen?“

Westermann hob wie gelangweilt die Schultern. „Ich weiß es auch nicht. Ist mir auch völlig egal.“

Natürlich war es ihm nicht egal, was gerade in den letzten Wochen und Monaten wieder an Horrormeldungen über die wirtschaftliche Entwicklung des Ruhrgebiets in den Massenmedien verbreitet worden war. Wegen der seit Jahren insgesamt schlechten wirtschaftlichen Situation konnte der Bergbau endgültig nicht mehr subventioniert werden. Die Tonne Kohle aus Nordamerika oder Australien kostete ohnehin mitsamt Beförderungskosten um die halbe Welt gerade einmal die Hälfte des Preises, den die einheimische Kohle verursachte. Die Länder Osteuropas produzierten den Stahl viel billiger als die Betriebe, die irgendwelche Umstrukturierungen von Thyssen oder Krupp noch übrig gelassen hatten. Und nun ging es auch noch mit der Automobilindustrie bergab. Das chronisch kranke Ruhrgebiet würde es in Zukunft noch weiterhin mit voller Wucht treffen.

Und wenn man sich nach den Gründen für das Entstehen von Slums fragte, so lagen die Antworten doch auf der Hand: In einer Stadt wie Gelsenkirchen lag die Arbeitslosigkeit bei fast 20 Prozent, es fehlte an neuen Betrieben, die die arbeitskraftintensiven Industrien Kohle und Stahl ersetzen konnten, und mit den Arbeitsplätzen im Bergbau waren vor allem die Strukturen verloren gegangen, die über mehr als ein Jahrhundert Menschen aus aller Herren Ländern zu Bürgern des Ruhrgebiets gemacht hatten. Ein Bergmann hatte sich unter Tage immer auf seinen Kumpel verlassen müssen, ganz gleich wo der herkam. Heute gab es in allen Städten des Reviers Viertel, in denen man die besten Chancen hatte, von ausländischen Jugendlichen nicht nur angepöbelt zu werden. In einigen Städten des Ruhrgebiets war bereits von sogenannten no-go-areas die Rede, ein Begriff, den man noch vor ein paar Jahren höchstens im Hinblick auf amerikanische Großstädte gekannt hatte.

Über Jahrzehnte hatte eine Clique von angeblich roten Kommunalpolitikern so gut wie nichts getan, um dieser Entwicklung, die schließlich nicht über Nacht gekommen war, entgegenzuarbeiten. Ihre Wiederwahl mit Ergebnissen von über 60 Prozent war immer nur eine Formsache gewesen. Anstatt die Probleme anzugehen, wurde vor allem völlig unverantwortliche Sozialkosmetik betrieben: Bergleute wurden mit 49 Jahren bei vollen Bezügen in den Ruhestand versetzt, und wer dummerweise noch seinen Lebensunterhalt durch Arbeit verdienen musste, der zog lieber gleich fort: Die Nachbarstadt Essen hatte den traurigen Rekord inne, die am schnellsten schrumpfende Großstadt Europas zu sein.

Natürlich wusste Westermann alles das, aber er hatte nun einfach keine Lust dazu, sich zum zigsten Mal in dieser Woche Gerbers wüste Beschimpfungen der angeblich völlig unfähigen Politiker in Berlin, Düsseldorf und sonstwo anzuhören, und die Hasstiraden des Kollegen gegen alle Ausländer waren ihm in den letzten Wochen schon ein paar Mal zuviel geworden. Raus mit diesen fiesen Schnorrern! Was wollen die denn jetzt noch hier? Wir brauchen die Kanaken nicht. Unsere eigenen Leute haben keine Arbeit mehr, und die fressen sich bei uns den Arsch fett und setzen einen Kanaken nach dem anderen in die Welt!

Mit fast quälender Langsamkeit passierten sie den Bahnhof Zoo, einen Haltepunkt, der sich zwar nach Großstadt anhörte, in Wahrheit aber nur ein paar Mal am Tag einen Zug vorüberschweben sah, der von Wanne-Eickel nach Dorsten oder von Dorsten nach Wanne-Eickel unterwegs war. Von der in hohem Bogen über Emscher und Kanal führenden Münsterstraße sah Westermann, dass über dem vor Jahrzehnten einbetonierten und zur Kloake umfunktionierten Fluss ein leichter Nebelschleier hing. „Gequirlte Scheiße", sagte er leise. „Da kannst du mit dem Hundeschlitten drüber fahren."

Gerber lachte. „Erzähl einem echten Gelsenkirchener nicht, dass seine Stadt gequirlte Scheiße ist! Mit so einem Gewächs aus dem Sauerland werden wir hier immer noch fertig."

Nun lachte auch Westermann. „Was soll das denn heißen?"

„Sei froh, dass ich solche Naturburschen wie dich mag, die noch von einem Baum zum anderen hangeln."

„Und du hast heute nacht wieder einmal die Gelegenheit, einem solchen Naturburschen aus der Provinz die Großstadt zu zeigen", lachte Westermann. „Gelsenkirchen liegt mir zu Füßen. Na bitte."

Eigentlich war dieser Gerber doch ein ganz netter Mensch, dachte Westermann, als sie dann nach links in die Balkenstraße abbogen, eine Straße, die hier schon seit Jahren vierspurig ausgebaut, aus Kostengründen aber nachts nie beleuchtet ist. Er war ganz nett, aber in den letzten Monaten hatte es ihn wohl auf dem falschen Bein erwischt. Die Frau war ihm weggelaufen, und das hatte der Kerl einfach nicht verkraftet. Und nun versuchte er, alles und jeden für seine Misere verantwortlich zu machen.

„Lass uns mal hier nach links abbiegen", sagte Westermann, als sie die Kreuzung mit der Adenauer-Allee erreicht hatten. Nach rechts wiesen die Hinweisschilder auf die nahe Schalke-Arena hin, in der in ein paar Wochen bereits einige Spiele der Fußballweltmeisterschaft stattfinden würden.

„Warum sollen wir nicht nach rechts fahren?", widersprach Gerber, nachdem er den Wagen allerdings schon auf die Linksabbiegerspur gelenkt hatte. „Lass uns doch mal den lieben Asylanten einen kleinen Besuch abstatten." Gerber lachte gehässig. „Würde mir Spaß machen, unsere Freunde aus aller Welt zu beschützen."

Direkt neben den Resten des alten Parkstadions lag ein großes Lager des Katastrophenschutzes, in dessen Baracken seit Jahren immer wieder Aussiedler und Asylbewerber untergebracht waren.

„Eben", sagte Westermann kurz. „Es würde dir Spaß machen. Deshalb fahren wir ja nach links."

Die Reaktion des Kollegen kam prompt. „Was soll denn das heißen?"

Westermann verdrehte gelangweilt die Augen. „Jetzt fahr schon!", meinte er, als die Ampel auf Grün umsprang.

„Was soll das denn eigentlich heißen?", rief Gerber noch einmal und machte keinerlei Anstalten, den Wagen von der Stelle zu bewegen.

Erst als Westermann sagte: „Mach doch jetzt keinen Scheiß, Schorsch!", gab Gerber Gas, und der Wagen bog nach links. Das Thema war damit aber für ihn noch keinesfalls erledigt. „Was soll denn das heißen, dein blödes Gequatsche?", rief er aufgebracht. „Darf man in diesem Land seine Meinung schon nicht mehr sagen? Diese Kanaken haben hier nichts zu suchen! Gar nichts haben die hier zu suchen! Man sollte sie alle rausschmeißen."

„Ist doch gut, Schorsch", sagte Westermann. „Ich habe doch gar nichts gesagt."

„Hast du eben doch!", widersprach Gerber.

„Ist doch alles okay. Du hast doch völlig Recht." Mittlerweile überquerten sie wiederum die Emscher, und wieder sah Westermann auf die Nebel über dem schnurgeraden Wasserlauf. Es sah aus, als solle in dieser engen Röhre das Gemisch aus Wasser und Scheiße zum Kochen gebracht werden. „Du hast doch Recht", wiederholte er noch einmal und dachte: Und ich habe meine Ruhe. Es hatte keinen Sinn, sich mit dem Kollegen anzulegen. Es war ein offenes Geheimnis in der Dienststelle, dass Gerber sich seit ein paar Wochen einfach nicht mehr im Zaum hatte und vor ein paar Tagen vom Dienstgruppenleiter sogar auf sein offensichtliches Alkoholproblem angesprochen worden war. Natürlich hatte Gerber die Vorwürfe empört zurückgewiesen; aber das taten die Spritis alle. Gerber war schließlich nicht der einzige Kollege mit diesem Problem. Ihm war nahegelegt worden, sich mit seinem sozialen Ansprechpartner in Verbindung zu setzen und umgehend eine Änderung dieses Zustandes herbeizuführen. Anderenfalls drohten disziplinarische Maßnahmen.

Vor ein paar Tagen hatte Gerber ihm davon erzählt, weil es ihm natürlich klar gewesen war, dass ohnehin alle Kollegen auf der Dienststelle davon wussten. „Stell dir vor: Disziplinarische Maßnahmen drohen diese Scheißer mir an! Jeder Kanake kann hier tun und lassen, was er will, und mir drohen sie disziplinarische Maßnahmen an!"

„Vielleicht ist es doch so, Schorsch. Vielleicht trinkst du wirklich zuviel in der letzten Zeit.“

„Ach, du bist doch verrückt geworden! Das soll wohl ein Witz sein!"

Natürlich soff Gerber wie ein Loch.

Und dann war da die eigene Feigheit gewesen. Die Angst davor, dem Kollegen sagen zu müssen, dass es eben kein Witz war: Besonders an warmen Tagen hatte er Gerbers Fahne nur mit ganz nach unten gedrehter Seitenscheibe ertragen können. Natürlich war es auch anderen Kollegen aufgefallen, und die hatten ihn mit gemeiner Häme auch noch verarscht. Sieh bloß zu, dass euch die Polizei nicht kontrolliert oder der Schorsch eure Karre vor einen Baum parkt!

Aber mehr hatte niemand gesagt, und wahrscheinlich war es auch gar keine Feigheit von seiner Seite gewesen, dachte Westermann nun. Es war Gleichgültigkeit. Sollte dieser Polizeihauptmeister Georg Gerber doch machen, was er wollte; er selber hatte schließlich mit dem Kerl nichts zu tun. Jedenfalls nicht mehr lange. Er zählte bereits die Tage, bis er den Kommissarslehrgang an der Fachhochschule in Dortmund beginnen konnte und diese perverse Fahrerei mit dem Streifenwagen durch Gelsenkirchen ein Ende haben würde. Man musste weiß Gott keine besonderen Ansprüche haben, um diesen Dienst und diese Stadt so schnell wie möglich wieder verlassen zu wollen.

In Höhe der Einmündung der Uferstraße in die Uechtingstraße hatte Westermann immer noch Befürchtungen, dass der Kollege wegen der unerträglichen Langeweile einen Streit mit ihm vom Zaun brechen könnte; aber nun war Gerber ruhig, und für einen Augenblick hatte Westermann die Befürchtung, der Kollege sei nun beleidigt und rede gar nicht mehr mit ihm.

Von der Uechtingstraße bogen sie nach links ab in die Parallelstraße, und weil ihm die plötzliche Stille fast peinlich wurde, sah Westermann angestrengt aus dem Fenster, als gäbe es hier irgend etwas Interessantes zu entdecken.

Selbst mit einer überdurchschnittlichen Phantasie hätte man sich keine klischeehaftere Vorstellung über das mittlere Ruhrgebiet ausmalen können, als diese Straße sie erfüllte. Nur wenige hundert Meter nach der Einmündung in die Uechtingstraße endet die Bebauung aus backsteinernen Koloniehäusern, und die Straße verliert sich in einem unbeschreiblichen Durcheinander aus Bahnlinien, Industriebrachen und verwilderten Grünflächen. Als sie die einspurige Brücke über die ehemalige Stichbahn zur längst stillgelegten und abgetragenen Zeche Graf Bismarck passierten, meinte Westermann leise: „Ist das eine Scheißgegend!“

„Du hast ja keine Ahnung“, kam es prompt zurück. „Wer nicht hier herkommt, der kann das doch gar nicht beurteilen!“ Und noch bevor Westermann endgültig beurteilen konnte, ob diese Bemerkung besonders aggressiv oder als erster Versuch in Richtung Versöhnung gemeint war, meldete sich Gottseidank die Einsatzleitstelle in Buer.

Sie sollten auf das Gelände der ehemaligen Zeche Bismarck fahren; der Zugang sei nur über die Kneebuschstraße gegenüber dem Ruhr-Zoo möglich. Dort habe ein Mann ein Stück Grund von der Ruhrkohle gepachtet. Er habe von dort angerufen und sei wahrscheinlich das Opfer eines Einbruchs geworden. Der Mann sei sehr aufgeregt gewesen und habe einen angetrunkenen Eindruck gemacht. Man solle da mal nach dem Rechten sehen. Der Mann habe etwas von einem abgeschlachteten Tier erzählt.

Es war 3 Uhr 46.

Mit eingeschaltetem Blaulicht fuhren sie los. Der gemeldete Tatort lag nicht einmal einen Kilometer nördlich von ihnen, aber dort gab es nichts als Industriebrache, die sie im großen Bogen umfahren mussten. Als sie in Höhe der Überführung der A42 die Münsterstraße und den Bahnhof Zoo erreicht hatten, bogen sie nach links. In Höhe des Ruhrzoos bogen sie noch einmal nach links ab in die Kneebuschstraße, durchquerten eine alte Zechensiedlung und bremsten dann ziemlich abrupt vor einem massiven Stahltor, das die Straße versperrte.

„Ich glaube, ich werde verrückt!“, sagte Westermann, aber Gerber schien keine Lust auf lange Diskussionen zu haben. „Steig schon aus! Das Tor muss offen sein, wenn sie das Gelände verpachten.“

Das Tor war tatsächlich nicht verschlossen, ließ sich in quietschenden Angeln zur Seite drehen, und anschließend fuhren sie ein paar hundert Meter durch eine Gegend, die man vielleicht in der abgelegensten Wildnis irgendeines dünn besiedelten Landes vermutete, aber bestimmt nicht inmitten einer Großstadt in Westeuropa.

Und dann sahen sie den Mann schon von weitem mitten auf der Straße stehen. Mit beiden Armen fuchtelte er in der Luft herum, als habe er Angst, der von ihm gerufene Streifenwagen könne ihn in dieser gottverlassenen Wildnis übersehen und vorbeirasen.

Der Mann war tatsächlich betrunken. Westermann waren sofort die Fahne und die glasigen Augen des Mannes aufgefallen. Auch Gerber musste den Zustand des Kerls schnell durchschaut haben; denn er ging auf den Mann zu in einer Art, die sich doch immer mehr Menschen von einem Polizisten nicht mehr gefallen ließen: „Na, Meister, wir sind aber ganz schön abgefüllt!"

Der Mann schien aber gar kein Interesse daran zu haben, über Gerbers rüde Art irgendwelche Gedanken zu verschwenden. „Dat habt ihr noch nich gesehen!", rief er aufgebracht. „So wat habt ihr noch nich gesehen!" Und noch bevor die beiden Beamten weitere Fragen stellen konnten, lief der Mann auf das neben der Straße liegende Grundstück, überquerte eine mit altem Gerümpel und irgendwelchen Ersatzteilen übersäte Wiese vor einer heruntergekommenen Baubude, zwängte sich mit für seinen Zustand erstaunlicher Geschwindigkeit durch die Drähte eines Zauns im Hintergrund und war den Blicken der beiden Beamten entschwunden.

„Warte mal", hielt Westermmann seinen Kollegen zurück. „Ich hol eine Lampe. Man sieht doch die Hand vor Augen nicht." Er nahm eine Stablampe aus dem Streifenwagen und dann liefen die beiden in die Richtung, in der der Mann verschwunden war. Auch Gerber zwängte sich zwischen den Drähten hindurch, und als er mit der Jacke an einem der Stacheln hängen blieb, beschloss Westermann, doch lieber über den Zaun zu steigen: „Drück mal den Draht nach unten! Ich bin schließlich noch im biologisch wertvollen Alter."

Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit ringsum gewöhnt hatten und in etwa fünfzig Metern Entfernung schemenhaft die Umrisse des Mannes zu erkennen waren. „Hier müsst ihr hinkommen!", rief er mit sich überschlagender Stimme. „Hierhin! Aber macht euch auf wat gefasst!"

„Der macht doch wohl kein krummes Ding mit uns", sagte Westermann leise und umklammerte mit der rechten Hand das Halfter seiner Dienstwaffe.

„Hat er schon!", rief Gerber ärgerlich. Sein rechter Fuß stand mitten in einem großen Pferdeapfel. „So eine verdammte Scheiße!"

„Nu macht doch endlich!"

Westermann richtete den Schein der Stablampe auf den Mann und lief voraus. Als er den Mann fast erreicht hatte, hob der die Hände schützend vor seine Augen. „Leuchte mir doch nicht so in die Visage!", rief er aufgebracht. „Hier musse hin gucken!" Mit der linken Hand deutete er neben sich.

Westermann ließ den Lichtschein in die angegebene Richtung wandern, und dann erstarrte er. „Das darf doch nicht wahr sein!"

Der gleichen Meinung war auch Gerber, als er wenig später, immer noch über Pferdescheiße an seinem Schuh fluchend, am Ort des Geschehens eintraf. „So was habe ich ja noch nie gesehen!"

Vor ihnen lag der blutige Kadaver eines weißen Pferdes. „Eins von meinen Ponys", rief der Mann ganz außer sich. „Einfach abgeschlachtet! Kannße mir vielleicht mal sagen, wer so wat macht?"

Zumindest Westermann konnte nicht. Er lief ein paar Schritte zurück in die Dunkelheit und kotzte wie ein Reiher. Die weiteren Ermittlungen musste er seinem Kollegen überlassen.

Und obschon der gerne den durch gar nichts zu beeindruckenden Macho nach außen kehrte, war auch ihm der Schrecken noch anzumerken, als sie nach über einer Stunde wieder im Wagen saßen und losfuhren.

„So was habe ich wirklich noch nie gesehen", meinte Westermann.

„Ich auch nicht", stimmte Gerber zu. „War schon ekelhaft." Aber schon als sie die Bismarckstraße erreichten, schienen ihn ganz andere Gedanken zu bewegen. „Schreibst du den Bericht?", fragte er.

Noch immer schien Westermann ganz andere Probleme zu haben. „Im Augenblick bestimmt nicht."

„Hab ich mir schon gedacht." Gerber sah seinen Kollegen von der Seite an. „Sag mal, wie schreibt man denn eigentlich, wenn einer so was macht? Du weißt doch sonst immer alles. Ist das nun Sachbeschädigung oder was?"

„Weiß ich doch nicht", murmelte Westermann und dann ließ er die Seitenscheibe des Streifenwagens nach unten gleiten. „Hör endlich auf!"

Gerber lachte plötzlich los. „Kotz mir hier bloß nicht den Wagen voll!", rief er fast übermütig. Mit einem erneuten Seitenblick auf Westermann lachte er noch einmal. „Du sagst mir doch früh genug Bescheid, wenn du noch mal kotzen musst?"

Das versprach Westermann und musste sich nur wenig später dazu durchringen, sein Versprechen auch einzuhalten.

Der Pferdestricker

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