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„Die Schizophrenie, meine Damen und Herren, ist eine Ideologie im Kleinen, im Individuellen; und die Ideologie ist eine Schizophrenie des kollektiven Bewusstseins": Professor Streiter konnte eigentlich sicher sein, dass die Mehrheit der in dem überfüllten Hörsaal sitzenden und stehenden Studenten den ersten Satz seiner Vorlesung zur Sozialpsychologie nicht verstanden hatten. Der Geräuschpegel in dem riesigen Raum war trotz des professoralen Auftretens und seines mehrfachen Klopfens mit dem Zeigefinger auf das Mikrophon ungebührlich hoch. Noch immer versuchten nämlich junge Leute gegen alle Vernunft zwischen den vollen Sitzreihen über die nach unten abfallenden Gänge weiter nach vorne zu gelangen, strömten zu spät kommende Kommilitonen in den Saal, schienen diejenigen, die einen Sitzplatz ergattert hatten, vor allem damit beschäftigt zu sein, mit den vor ihnen befindlichen Schreibplatten möglichst geräuschvoll zu hantieren.

Auch als Professor Streiter bekannt gab, diese Zirkeldefinition des französischen Marxisten Jean Gabel lediglich als provokante, von ihm aber letztlich abgelehnte These an den Beginn seiner eigenen Ausführungen stellen zu wollen, war es immer noch fast quälend laut. Erst als Streiter von sich gab, dass selbstverständlich der Entdialektisierungs- und Verdinglichungsprozess der gemeinsame Nenner sowohl der Ideologie als auch der Schizophrenie sei, dies aber nun wirklich schon den Status eines Gemeinplatzes habe, wurde es endlich ruhiger. Und dennoch war Streiter weiterhin davon überzeugt, dass die überwiegende Mehrheit seiner Studenten ihn nicht verstanden hatte. Akustisch mittlerweile vielleicht, aber ansonsten auf keinen Fall. Seine berufliche Haltung war vor allem dadurch gekennzeichnet, dass er Studenten durchweg für dumm hielt, für eine verwöhnte, wurstige Masse, die einfach nicht einsah, welche Möglichkeiten sie seiner Meinung nach hatte: sich die ganze Welt durch Bücher in die eigenen vier Wände zu holen.

Und genau dazu schienen die anwesenden jungen Leute gerade an diesem Tag gar kein Interesse zu haben. Draußen herrschte nämlich das schönste Märzwetter, das man sich durch Streiters langweiliges Gerede jedenfalls nicht in diesen von Neonlicht erleuchteten Betonbunker holen konnte. Und außerdem hatte fast die Hälfte aller anwesenden jungen Leute irgendein elektronisches Gerät bei sich, mit dem sie sich völlig ungeniert das auf kleine und größere bunte Bildschirme holten, was sie für die Welt hielten.

Auch Inga Weber hing derartigen Gedanken nach. Sie saß auf einer der unteren Stufen des Hörsaals, hielt einen Schreibblock nur mühsam auf den Knien und einen Kuli in der rechten Hand für den Fall, dass doch noch irgend etwas Bemerkenswertes dem professoralen Munde entschlüpfen sollte. Aus Erfahrung wusste sie, dass dies nicht der Fall sein würde, und deshalb hatte sie lange gezögert, die Vorlesung am heutigen Vormittag zu besuchen. Letztlich war sie überhaupt nur in die Vorlesung gegangen, um die lange Straßenbahnfahrt von Gelsenkirchen nach Bochum irgendwie zu rechtfertigen. Außerdem hatte Stefan heute seine letzte Nachtschicht hinter sich gebracht, und an solchen Tagen konnte man ihn vor dem Nachmittag ohnehin nicht aus dem Bett bekommen.

Nach drei Semestern war sie von dem Fach Psychologie maßlos enttäuscht. Sie hatte sich etwas ganz anderes darunter vorgestellt. Was genau, das konnte sie auch heute noch nicht sagen, etwas ganz anderes eben, und nun würde sie lieber heute als morgen die Brocken hinwerfen. Aber da war eben die paar Euro Bafög, die sie bekam, weil ihre Eltern ihr nicht das gesamte Studium bezahlen konnten; als Lehrer verdiente ihr Vater zwar eigentlich ganz gut, aber das vorhandene Familieneinkommen musste auf vier Kinder verteilt werden, die allesamt noch studierten und von denen sie das jüngste war. Und dieses verdammte Stipendium verlangte von ihr nach jedem Semester irgendwelche Scheine, Belege und Prüfungen, die sie bis jetzt nur mit manchmal unbeschreiblichem Ekel hinter sich gebracht hatte. Jedes Semester war dieser Ekel noch ein Stück schlimmer geworden, und in den letzten Wochen war es ihr immer öfter so vorgekommen, als würde eine Verbindung nach der anderen zur wirklichen Welt gekappt. Manchmal hatte sie sich schon gewünscht, mit Pauken und Trompeten durch diese Prüfungen zu fliegen, damit endlich irgendeine Entscheidung gefallen war; denn mit jeder bestandenen Prüfung kam ihr ein Entrinnen aus diesen perversen Zusammenhängen unmöglicher vor.

„Die Schizophrenie, meine Damen und Herren, soll also eine Ideologie im Kleinen, im Individuellen sein? Die Ideologie eine Schizophrenie des kollektiven Bewusstseins?“ Die mittlerweile als Frage wiederholte Behauptung des Anfangs der Vorlesung erreichte sie nur, weil Professor Streiter offensichtlich auch noch ein großes Vergnügen dabei empfinden konnte, sich mit einem solchen Firlefanz zu beschäftigen. Wer keine Probleme hat, dachte sie, der macht sich eben welche. Vor allem dann, wenn er für diesen Blödsinn auch noch so viel Geld bekommt.

Sie hatte schon oft daran gedacht, mit Stefan ganz offen über die Dinge zu reden, die sie seit ein paar Monaten bedrückten, aber das hatte sie einfach nicht geschafft. Obschon auch sie eine eigene kleine Bude in Bochum hatte, lebten sie doch fast immer zusammen in Stefans Wohnung, und schließlich verdiente Stefan bei der Polizei ganz gut. Als sie nun auf den professoralen Mund sah, der sich öffnete und schloss wie bei einem Fisch, den man im Aquarium beobachtete, ohne dass sie auch nur ein Wort mitbekam, fragte sie sich wieder, weshalb sie noch nie mit Stefan über diese Sache geredet hatte. Sie kannten sich schließlich schon ein halbes Jahr, und ein paar Mal schon hatte sie davor Angst verspürt, dass ihre Beziehung zerbrechen könnte, wenn sie nicht bald irgendwelche wichtigen Entscheidungen treffen würden.

Stefan würde ihr sofort sagen, hör doch einfach auf, ziehe doch ganz zu mir. Lass uns doch heiraten.

Und vielleicht war es gerade das. Manchmal warf sie sich vor, selber nicht zu wissen, was sie eigentlich wollte. Aber vor diesem Schritt hatte sie Angst, und sie wusste, dass sie tausend Gründe aus dem Hut zaubern konnte, um Stefan von solchen Ideen abzubringen. Wir kennen uns doch erst ein halbes Jahr, ich bin schließlich erst 22, du willst doch im Herbst auch noch deinen Kommissarslehrgang beginnen. Und immer hatte Stefan Verständnis gezeigt. Warum schlug er nicht mal mit der Faust auf den Tisch?

Warum nahm er soviel Rücksicht auf ihre Angst?

Warum machte er nicht endlich, was sie wollte, sondern wartete darauf, dass sie das auch noch formulierte.

Irgendwann kündigte das matte Tischklopfen derjenigen, die noch nicht eingeschlafen waren, das Ende der Bewegungen des professoralen Mundes an. Jeder schien es eilig zu haben, die quälende Enge des Hörsaales zu verlassen. An den Ausgängen wurden die meisten durch das grelle Sonnenlicht geblendet.

Auf dem Wandelgang traf sie auf Elke, die vor zwei Jahren mit großer Begeisterung Germanistik und Philosophie begonnen hatte und sich nun mit Althochdeutsch, Einführungen in die Logik und wissenschaftstheoretischem Gerede platt gemacht fühlte. „Gehst du auch mit in die Mensa?"

„Ich habe eigentlich gar keinen Hunger", meinte Inga.

„Komm trotzdem mit!" Elke hatte sie schon untergehakt und in Richtung Mensa mitgeschleift. „Sag mal, geht es dir heute nicht gut?"

„Warum?"

„Du siehst so bedröppelt aus."

„Hör du dir mal anderthalb Stunde so einen Quatsch an!"

„Was glaubst du denn, was ich mir heute schon angetan habe!", lachte Elke. „Zuerst Otfried von Weißenburg und dann definiter Klassenkalkül und klassische Urteilslehre." Elke schien sich plötzlich totlachen zu wollen. „Wenn sie doch wenigstens Preise aussetzten für diejenigen, die sich einen noch überflüssigeren Quatsch aushecken können." Für einen Augenblick verspürte sie so etwas wie Dankbarkeit, dass Elke sie nun einfach mit sich zog und irgendwelchen Widerspruch ganz offensichtlich gar nicht erst hinnahm.

Als sie ins Freie traten, waren sie überrascht. Es war unglaublich warm geworden; noch am frühen Morgen hatte es so ausgesehen, als wolle sich das nasskalte Frühlingswetter der letzten Wochen fortsetzen. Der Himmel war strahlend blau, und vom Eingang der Mensa aus konnte man kilometerweit über das Ruhrtal blicken.

Als Elke in der Schlange vor der Essensausgabe ein paar weitere Bekannte begrüßte, bereute Inga bereits, mitgegangen zu sein. Sie kannte diese Leute und mochte sie nicht. Seit ein paar Monaten war Elke Mitglied in einer linken Basisgruppe, und obschon sie die nassforsche Art dieser Menschen bewunderte, die sich einfach nichts gefallen ließen, sah Inga in der ganzen Sache keinen Sinn. Beschäftigungstherapie war das letztendlich, das hatte sie sich schon oft gesagt. Oder besser, sie hatte es sich eingeredet; denn in Wirklichkeit fühlte sie sich durch diese Leute zutiefst verunsichert, die alles in Frage stellten und nichts gelten ließen. In deren Gegenwart konnte sie nur zuhören, hatte noch nie gewagt, zu irgendetwas ihre eigene Meinung zu äußern, hatte eine eigene Meinung vielleicht auch gar nicht mehr gehabt. Nur ein seltsames, tief sitzendes Unbehagen. Die Angst davor, sich nur blamieren zu können. Ihre Liebe zu Stefan würden diese Leute als kleinbürgerliche Beziehungskiste oder sonst wie in dieser Art bezeichnen, davon war sie überzeugt.

„Du, ich fahr doch lieber nach Hause", sagte sie leise, und Elke sah sie einen Augenblick überrascht an. „Schade", meinte sie schließlich. „Ich wollte dir eigentlich die neueste Story von Gerd erzählen."

Inga verzog das Gesicht. „Nee lass mal, da habe ich heute ohnehin keine Lust zu."

„Na dann ein anderes Mal. Dem Typen entkommst du jedenfalls so leicht nicht." Damit lief Elke den anderen Bekannten hinterher, und Inga verließ das Mensagebäude in Richtung Uni-Center.

Neue Geschichten von Gerd hatten ihr jetzt gerade noch gefehlt! Sie hatte diesen Jungen vor ein paar Monaten auf einer Fete in Bochum kennengelernt. Aus ihr bis heute noch unerklärlichen Gründen war dieser Mensch ihr den ganzen Abend nicht von der Seite gewichen. Er hatte sich mit allem möglichen Zeug völlig zugeschüttet, sich vor die Lautsprecherboxen der Stereoanlage gesetzt und bestimmt hundertmal hintereinander Edith Piafs Lied „Non, je ne regrette rien" gehört. Als handele es sich dabei um einen Zauberspruch, hatte er ihr Zeile für Zeile des Liedes übersetzt und immer wieder gesagt: Das ist es! Das ist es! Auch ich bedaure nichts.

Anfangs hatte sie das noch spaßig gefunden. Überhaupt schien sie immer kuriose Typen anzuziehen; aber mit der Zeit war ihr der Junge mit seiner besoffenen Hilflosigkeit auf die Nerven gegangen, schließlich hatte er sie angeekelt. Was sollte so einer auch schon bereuen?, dachte sie nun, und dann tat ihr dieser Gedanke augenblicklich leid. Gerd hatte ihr danach ein paar Mal auch schon an der Uni aufgelauert. Man musste es wohl wirklich so nennen. Plötzlich und unerwartet war er da, und dann wurde man ihn nicht wieder los. Sie jedenfalls nicht; andere schienen damit keine Probleme zu haben. Elke zum Beispiel konnte ihn einfach wegjagen wie einen aufdringlichen Straßenköter.

Dabei hatte sie noch nie das Gefühl gehabt, dass dieser Junge ihr gegenüber in einer für Männer eher typischen Art aufdringlich geworden war. Sie hatte sich von ihm niemals auch nur ansatzweise sexuell belästigt gefühlt, dachte sie und plötzlich kam ihr diese Erkenntnis seltsam vor. Was erwartete sie eigentlich von Männern? Anscheinend hatte sie seltsame Vorurteile. Und doch blieb die ihr seltsam erscheinende Erkenntnis, dass sie absolut nicht sagen konnte, was dieser Mann eigentlich von ihr wollte. Vielleicht hatte er es auch nur auf sie abgesehen, weil er genau wusste, dass sie ihn nicht wegjagen konnte, ging es ihr nun durch den Kopf, dass sie sich eher alles gefallen ließ. Dass sie jemand war, die sich alles gefallen ließ.

Dann wollte sie an derartige Dinge einfach nicht mehr denken.

Dieser Gerd war übrigens meistens betrunken, und was nun eigentlich tatsächlich mit ihm los war, das wollte sie auch gar nicht mehr herausbekommen. Ist der schwul?, hatte sie Elke gefragt, nachdem sie Gerd einmal händchenhaltend mit einem anderen Jungen durch die Mensa hatte gehen sehen. Elke hatte nur gelacht. Schwul? Also ich glaube, dass du bei dem nicht mit einem Wort auskommst. Der macht, was er will, und wie andere das dann nennen, ist dem völlig egal.

Zu Beginn ihres Studium hatte die Architektur der Ruhr-Uni sie regelrecht depressiv gemacht. Es hatte Wochen gedauert, bis sie in diesem riesigen Betonklotz auf Anhieb ihre Seminarräume und Vorlesungssäle gefunden hatte. Lange Zeit hatte sie mit dem Gedanken gespielt, das kaum begonnene Studium abzubrechen.

Auf der Strecke von der Uni zum Bochumer Hauptbahnhof macht das Ruhrgebiet auf Großstadt. Die Haltestelle der Straßenbahn sieht aus wie das Terminal eines internationalen Flughafens, und nach kurzer Fahrt verschwindet die Bahn unter der Erde. Erst wenn man am Hauptbahnhof in die Linie 302 nach Gelsenkirchen umsteigt und die Bochumer Innenstadt verlassen hat, wird auch dem auswärtigen Besucher klar, dass er sich im Ruhrgebiet befindet. Stahlwerke ziehen vorbei, Industriebrachen, Felder und Wiesen. Dann zockelt die Bahn durch das verstellte Häusersammelsurium von Wattenscheid und erreicht schließlich Gelsenkirchen, ohne dass irgendein Übergang zu bemerken wäre.

Am Ückendorfer Platz, direkt hinter der Stadtgrenze, stieg Inga aus. Von hier aus war es kaum eine Minute bis zu Stefans Wohnung. Eine Zeitlang hatte sie gezögert, ob sie nicht doch gleich zu ihren Eltern weiterfahren, nicht wenigstens zuerst bei Stefan anrufen sollte. Schließlich war es erst kurz nach zwei. Dann war sie einfach ausgestiegen.

Auch als sie vor dem Haus an der Bochumer Straße stand und den Finger schon auf den Klingelknopf mit dem Namen Stefan Westermann gelegt hatte, zögerte sie wieder. Und als ärgere sie sich über ihre eigene Unentschlossenheit, drückte sie plötzlich den Knopf ein paar Mal hintereinander tief ein, um ihn letztlich sekundenlang eingedrückt zu halten. Das Schellen war aus der Etagenwohnung bis auf die Straße zu hören.

Als die Haustür endlich geöffnet wurde, sah sie Stefan mit wirren Haaren und barfuß in der Tür stehen. Sie hatte ihn ganz offensichtlich geweckt.

„Ach du bist's", sagte er leise. „Warum nimmst du nicht deinen Schlüssel?"

Wie resigniert hob sie die Schultern und ging langsam auf ihn zu. Sie war enttäuscht.

Sie hatte offensichtlich etwas anderes erwartet.

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