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Prolog 5

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8.7.2006

Das Gebäude der Staatsanwaltschaft Essen liegt an der Zweigertstraße im Stadtteil Rüttenscheid südwestlich des Stadtzentrums, von dort über die B224 bequem zu erreichen. Über eine Straße, die vielleicht wie keine andere durch völlig verschiedene städtische Regionen verläuft, die in ihrer Gesamtheit die Vielfalt des Ruhrgebiets repräsentieren. Im Essener Norden quält sie sich, obschon vierspurig ausgebaut, durch graue Häuserreihen, Industriegebiete und Brachgelände, um sich dann im wenig ansprechenden Betonmeer der Innenstadt zu verlieren. Erst nachdem sie die wichtigste Ost-West-Trasse der Eisenbahn im Ruhrgebiet neben dem Hauptbahnhof unterquert hat, ändert sich das Bild, verläuft sie durch dicht bebaute, ansehnliche Stadtteile in Richtung Baldeneysee, einer der bevorzugtesten Adressen im gesamten Ruhrgebiet.

Es war Samstag, der 8. Juli 2006, als Christiane Rentmeister das Gebäude der Staatsanwaltschaft um kurz nach 11 Uhr verließ. Sie war Staatsanwältin für Wirtschaftsangelegenheiten, ein Beruf, der nur wenig oder gar nicht zu ihrem Alter und ihrem fast jugendlichen Aussehen passen wollte. Sie war gerade dreißig Jahre alt, hatte Jura studiert, ihr Examen summa cum laude bestanden und überhaupt nie etwas anderes getan als für das zu arbeiten, was sie erreichen wollte. Auch heute hatte sie aus ihrem Büro in der Zweigertstraße in Essen ein paar Schreiben mitgenommen, die sie am Wochenende unbedingt noch bearbeiten wollte und am Tag zuvor vergessen hatte. Außerdem hatte sie ohnehin einen Termin in unmittelbarer Nachbarschaft ihres Arbeitsplatzes, und für einen Augenblick zögerte sie nun, weil sie nicht wusste, ob sie den kurzen Weg zum Rüttenscheider Stern mit dem Wagen oder zu Fuß zurücklegen sollte. Da die Sonne wie seit Wochen schon auch an diesem Tag von einem strahlend blauen Himmel schien, entschloss sie sich letztlich, den Weg zu Fuß zurückzulegen. Sie würde am Ort ihrer Verabredung um diese Zeit auch an einem Samstag ohnehin keinen Parkplatz finden.

Sie atmete erleichtert auf, als sie das Gebäude, in dem die Praxis der Frauenärztin untergebracht war, endlich erreicht hatte und sie den kühlen Flur betrat. Du sollst dich nicht mehr überanstrengen, hatte auch Richard ihr gesagt und ihr sogar verboten, an diesem Samstag überhaupt alleine mit dem Wagen in die Stadt zu fahren. Er werde sie selbstverständlich in die Praxis der Gynäkologin, einer alten Schulfreundin von ihr, fahren. Du weißt, dass in den letzten Wochen Dinge passiert sind, wegen derer man eigentlich gar keine Frau mehr alleine aus dem Haus lassen sollte; und du weißt auch, dass wir beide alles andere als unbeteiligt in diesem Fall sind. Aber das hatte sie nicht gewollt. Wie ein kleines trotziges Kind hatte sie auf gar keinen Fall gewollt, dass er sie an diesem Samstagmorgen in die Stadt brachte.

Dass sie schwanger war, das hatte sie vor etwas mehr als drei Wochen zum ersten Mal erfahren, und es hatte sie vor Freude fast umgehauen. Sie hatte es von Anfang ihrer Beziehung zu Richard an darauf angelegt, schwanger zu werden, und nun hatte es endlich funktioniert.

Sie dachte an das Wort Beziehung. Wie blöde und nichtssagend dieses Wort doch war! Und trotzdem musste man schließlich irgendein Wort finden für das, was seit fast genau zwei Jahren zwischen Richard und ihr vor sich ging. Eigentlich brauchte man ein Wort ohnehin nur, um anderen irgendetwas zu erklären; was mit ihr los war, das wusste sie selber nur zu gut. Sie war in diesen Richard Börner von der ersten Sekunde ihres Zusammentreffens an geradezu hilflos verknallt gewesen, und wenn man davon ausging, dass sich ein solches Verknalltsein in jeder Beziehung recht schnell legt, dann war sie eine totale Ausnahme: Es wurde immer noch stärker. Mit jedem Tag.

Dabei hatte Richard ihr von der ersten Sekunde an gesagt, dass er schwul sei. Dass er zumindest auch schwul sei. Und dass hatte sie damals in keiner Weise gestört. Ganz im Gegenteil. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte ein Mann ihr überhaupt etwas bedeutet, hatte sie den unbedingt für sich gewinnen, mit dem Sex haben wollen. Und das war ihr mit Börner recht schnell gelungen.

Ein paar Bekannte hatten alles das nicht begreifen können, hatten sich mehr oder weniger von ihr abgewandt oder schlimmstenfalls eine Art psychotherapeutische Behandlung für Anfänger mit ihr begonnen: Wenn sie einen Partner auswähle, der vom Alter ihr Vater sein konnte, dann müsse sie wohl ein negatives Vatererlebnis gehabt haben und suche sie nun wohl einen Vaterersatz, wenn sie sich einen erfolgreichen Rechtsanwalt an Land zog, dann brauche sie wohl wie im Beruf einen ebenbürtigen Streitpartner, und wenn sie mit einem Schwulen zusammen sei, dann habe sie nur Angst davor, dass ihr eine andere Frau den Mann wegnehmen könne. Und so weiter, und so weiter.

Irgendwann hatte sie die Kontakte zu Leuten mit einem derartigen Mitteilungsbedürfnis pseudo-intellektueller Botschaften einfach abgebrochen, weil sie diesen ganzen Schwachsinn nicht mehr hatte ertragen können. Es war schließlich ein Faktum, dass sie diesen Mann über alles liebte, und dass auch er sie liebte, daran bestand mittlerweile kein Zweifel mehr. Dass er schwul war, daran konnte sie natürlich auch keinen Zweifel haben. Und dann war eben doch ein ganz kleines Stück Wahrheit an dem ganzen Psychogerede: Sie könnte es ertragen, wenn Richard auch etwas mit einem Mann haben sollte; wenn das so war, und da hatte es sogar in den vergangenen zwei Jahren etwas gegeben, dann lag es nicht an ihr und dagegen hatte sie ohnehin keine Chance; aber eine andere Frau, das konnte und wollte sie sich noch nicht einmal vorstellen.

Irgendwann hatten Richard und sie einmal lange miteinander über alles geredet, grundsätzlich sozusagen und theoretisch fundiert, hatten mit Vokabeln wie schwul, hetero und bisexuell und sogar mit Prozentzahlen jongliert und sich ganz plötzlich einfach totgelacht: Wörter waren das, nichts als Wörter, die die meisten Menschen nur davon abhalten sollten, einfach sie selber und damit frei zu sein. Sie hatte sich zusammen mit Richard dafür entschieden, frei zu sein, ob andere das nun verstanden oder nicht, das spielte dabei nicht mehr die geringste Rolle.

Ihre Eltern waren von Beginn an unter den Personen gewesen, die von ihrer Verbindung mit einem gewissen Dr. Richard Börner gar nichts hielten. Ein erfolgreicher und gut verdienender Rechtsanwalt, das war in Ordnung; aber dass dieser Mensch sagte, schwul oder zumindest auch schwul oder vielleicht vor allem schwul zu sein, das ging gar nicht. Vor allem die Mutter hatte sich nur noch auf der Grundlage von übelsten Vorurteilen bewegt, und irgendwann war sie selber derart wütend geworden, dass sie es gerade noch hatte verhindern können, die Mutter darum zu bitten, sie mit diesem kleinbürgerlichen Scheißdreck in Zukunft bloß zufrieden zu lassen.

Nun musste sie grinsen: Es würde ihr nach dem heutigen Termin bei der Gynäkologin einen Riesenspaß bereiten, den Eltern definitiv mitteilen zu können, dass ein Schwuler sie in ein paar Monaten zu Opa und Oma machen würde. Sie hatte mit Richard ausgemacht, dass sie nach der ärztlichen Untersuchung direkt zu ihren Eltern nach Düsseldorf fahren und bis zum Sonntagmorgen dort bleiben würde, und der hatte auch im Prinzip gar nichts dagegen gehabt, weil er am Abend das sogenannte kleine Finale der Fußballweltmeisterschaft zwischen Deutschland und Portugal im Fernsehen anschauen wollte. Wenn es irgendetwas gab, das sie beide in keiner Weise teilten, dann war es die Begeisterung für den Fußball. Sie war heilfroh, dass die Fußball WM morgen zu Ende ging. Wogegen Richard bis zum Schluss etwas gehabt hatte, war ihr Entschluss gewesen, alleine die Gynäkologin aufzusuchen und alleine zu den Eltern nach Düsseldorf zu fahren. Es würde mir auch nicht das Geringste ausmachen, dich während des Fußballspiels durch die Gegend zu kutschieren, hatte Richard mehrfach gesagt; aber ich will nicht, dass du alleine bist. Sie hatte es nicht gewollt, sie hatte es einfach nicht gewollt. Nicht vor dem Spiel, nicht während des Spiels und auch nicht nach dem Spiel. Ich habe aber einfach Angst um dich. Du weißt, dass dieser Kerl hier irgendwo herumläuft und es auch auf uns abgesehen hat. Und da hatte sie es endgültig gar nicht mehr gewollt, dass er anscheinend alles daran setzte, auf sie wie auf ein kleines Kind aufzupassen: Lass uns nicht mehr darüber reden! Ich gehe bei Jana in der Praxis vorbei und fahre anschließend zu meinen Eltern. Ich kann schon selber auf mich aufpassen.

Hoffentlich.

Warum hatte sie sich eigentlich so zickig angestellt?, dachte sie plötzlich. Hatte sie womöglich schon Angst, durch ihre Liebe zu diesem Mann ihre Selbstständigkeit zu verlieren? Dann verdrängte sie diese Vorstellung und lachte schließlich sogar. Das war doch Unsinn!

Es gab mehrere Arztpraxen und Büros in diesem Haus, in dem die ehemalige Schulfreundin als Gynäkologin tätig war. Dass sie an einem Samstagmittag einen Arzttermin bekommen hatte, lag natürlich nur an dieser alten Schulfreundschaft, in aller Regel waren Arztpraxen und Büros an Samstagen geschlossen; dass der Hausflur menschenleer war, das war somit typisch für einen Samstagmittag. Sie war etwas verärgert, als sie feststellte, dass der Aufzug ganz offensichtlich defekt war; bis in den dritten Stock zu laufen war bei diesem Wetter selbst in einem kühlen Hausflur nicht unbedingt das Wahre.

Sie legte die Umhängetasche mit den Akten und den wenigen Reiseartikeln für die Übernachtung bei den Eltern über die linke Schulter und legte die rechte Hand auf das Treppengeländer. Du darfst dich von jetzt an auf gar keinen Fall mehr überanstrengen, hatte Richard ihr bereits vor ein paar Wochen gesagt, als sie ihn über ihre Schwangerschaft informiert hatte; auch er war völlig aus dem Häuschen gewesen über diese Nachricht. Und wieder musste sie grinsen: Natürlich bemerkte sie noch gar nichts von ihrer Schwangerschaft, aber es war einfach großartig, wenn er derartig besorgt um sie war.

Dennoch war sie einigermaßen außer Atem, als sie die zweite Etage erreicht hatte und vor der weißgestrichenen Tür mit dem Namen der Freundin stand. Erstaunt war sie, als sie wie bei den beiden letzten Malen die Tür aufdrücken wollte und diese verschlossen war. Jana hatte den Termin doch wohl nicht vergessen?, dachte sie, und dann erst fiel es ihr wieder ein, dass heute kein normaler Arbeitstag war und Frau Dr. Jana Wirkner ihre Vereinbarung natürlich nicht vergessen hatte; noch gestern Abend hatten sie schließlich stundenlang miteinander telefoniert.

Bitte hier klingeln, stand auf einem Schild rechts neben der Tür, und ein Pfeil deutete auf einen Klingelknopf unterhalb des Schildes. Noch bevor sie auf den Klingelknopf drückte und das Signal im Inneren der Praxis zu hören war, fiel ihr urplötzlich der Unterschied auf zu den beiden Malen, die sie bereits in diesem Haus gewesen war: Außer dem monotonen und weit entfernten Lärm des dichten Straßenverkehrs war nirgendwo auch nur der geringste Laut zu vernehmen. Dies war ein reines Bürogebäude, und wahrscheinlich waren Jana und sie im Augenblick die beiden einzigen Personen in dem gesamten Gebäude, sagte sie sich noch einmal und sah mit fast theatralischer Geste auf ihre Uhr, als könne ihr ein Blick auf ihre Armbanduhr zumindest ein Stückchen von dem Gefühl zurückgeben, dessen Verlust ihr in schnell wachsendem Ausmaß fast körperlich bewusst wurde. Es war ein paar Minuten vor 12; sie hatte sich mit Jana um 12 Uhr hier verabredet.

Als sie den Türsummer hörte, drückte sie die Tür auf und ihr Blick fiel auf die verwaiste Rezeption, an der an normalen Tagen zwei bis drei Arzthelferinnen tätig waren. Jana, rief sie, wo steckst du?

Als sie an der Rezeption vorbeiging und in das menschenleere Wartezimmer blickte, fiel die schwere Tür zur Praxis wieder ins Schloss. Jana, rief sie noch einmal, wo steckst du denn? Dann sah sie, dass die Tür eines der beiden Untersuchungsräume, die nach links von dem langen Flur abgingen, offen stand und gleißendes Licht durch die Türöffnung in den Flur fiel. Jana? Hast du noch andere Patienten, oder darf ich hereinkommen?

Als auch nun keinerlei Reaktion der Freundin zu hören war, wurde ihr endgültig mulmig. Es hatte schließlich einen ganz konkreten Grund dafür gegeben, dass Richard sie eigentlich auf gar keinen Fall alleine zu diesem Termin und anschließend zu den Eltern hatte fahren lassen wollen, und dieser Grund hatte zu tun mit menschenleeren Orten und mit Frauen. Vor allem mit Frauen, die ... Sie verspürte einen fürchterlichen Widerwillen dagegen, das, was plötzlich als vage Möglichkeit aus ihrer Erinnerung aufgetaucht war, auch nur in Sprache zu fassen, und als es dann, ohne dass sie es noch kontrollieren konnte, in wüsten Bildern, zumeist von der Polizei aufgenommenen Tatortaufnahmen, durch ihren Kopf raste, wusste sie, dass sie kurz davor stand in Panik auszubrechen. Jana, was ist denn los mit dir? Bist du da?, rief sie noch einmal, als wolle sie sich selber Mut machen, lief schnell zu der weit geöffneten Tür des hell erleuchteten Zimmers, dessen grelles Licht harte Konturen in der ansonsten abgedunkelten Praxis warf und blickte in den Behandlungsraum.

Jana war da.

Sie lag auf dem Behandlungsstuhl.

Noch bevor sie ihr Entsetzen über das grauenhafte Bild herausschreien konnte, war sie von hinten gepackt und irgendetwas war in ihr Gesicht gepresst worden. Sekunden später verlor sie das Bewusstsein.

Bis zum Verlust des Bewusstseins dauerte es nur wenige Sekunden, aber in diesen Sekunden brannten sich dieses Bild und der schreckliche Geruch in ihr Gehirn ein, so dass sie es bis an ihr Lebensende nicht mehr würde vergessen können.

Dass auch bis zu ihrem eigenen Lebensende nicht mehr all zu viel Zeit vergehen würde, davon war sie wenig später völlig überzeugt.

Das erste, das sie beim Erwachen sah, war der blaue Stoff.

Nur nach und nach wurde ihr deutlich, dass sie auf dem Rücken lag, in einem von kaltem Neonlicht beleuchteten, weißgetünchten und gemauerten Raum, ihre Hände und Füße gefesselt waren, ihr Mund mit einem Klebestreifen verschlossen und ihr Kopf so fixiert war, dass sie direkt nach rechts auf den blauen Stoff sehen musste. Neben dem augenblicklich wieder präsenten grauenhaften Bild ihrer Freundin waren es vor allem die fürchterlichen Kopfschmerzen, die ihr die Orientierung erschwerten und hoffen ließen, dass sie so schnell wie möglich wieder das Bewusstsein verlieren möge, weil alles das, was ihr erwachendes Gehirn ihr mitteilte, einfach nicht wahr sein durfte.

Sie lag auf einer Art Pritsche, rechts neben ihr, kaum einen Meter von ihrem Kopf entfernt, saß ein Mann mit weit gespreizten Beinen, dessen Jeans sie als erstes gesehen hatte. Als sie versuchte, in sein Gesicht zu sehen, war ihr schlagartig klar, dass der Mann sie schon lange angestarrt, ganz offensichtlich nur darauf gewartet hatte, dass sie endlich die Augen aufschlug. Und als sich ihre Blicke für Sekunden trafen, verzog sich sein Gesicht zu einem höhnischen Grinsen, das sie augenblicklich zwang, ihren Blick wieder abzuwenden und die Augen zu schließen.

Das Bild schien sich auf ihrer Netzhaut eingebrannt zu haben, und sie wusste, dass sie eine perfekte Personenbeschreibung dieses Mannes hätte geben können, ein Gedanke, der sie weiter beunruhigte. Dieser Mensch würde ihr keine Chance lassen, seine Personenbeschreibung noch irgend jemandem mitzuteilen: Mitte bis Ende 20, einsachtzig bis einsfünfundachtzig groß, braune, gescheitelte Haare, graue Augen. Und doch wusste sie augenblicklich, dass diese Personenbeschreibung zu oberflächlich und nichtssagend war, etwas Entscheidendes, vielleicht das Wichtigste bei dieser Beschreibung noch fehlte.

Erst als sie nun seine Atemzüge hörte, seinen Atemzug plötzlich direkt vor ihrem Gesicht verspürte, riss sie instinktiv die Augen wieder auf: Sein Gesicht war so dicht vor dem ihren, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten, er wich wie erschrocken zurück und ließ sich dann mit einem Lachen, das dem eines Kindes glich, wieder auf den Sessel zurückfallen. Nun sah sie zum ersten Mal die große schwarz-weiße Wanduhr, der Uhr auf einem Bahnsteig ähnlich, an der Wand links hinter dem Mann. Es war 15 Uhr 20. Als habe der Mann nur darauf gewartet, dass sie endlich die Uhr hinter seinem Rücken zur Kenntnis genommen hatte, hob er langsam vom Boden ein Blatt Papier hoch, auf das mit gestochen scharfer Schrift etwas geschrieben worden war, und hielt es ihr vors Gesicht: Um 18 Uhr werde ich mit dir beginnen, um 19 Uhr wirst du nur noch tot sein wollen, aber um 20 Uhr wirst du immer noch nicht aussehen wie diese Schlampe, Frau Dr. Jana Wirkner. Ich freue mich auf dich. Jonas.

Er musste ihr erneutes Entsetzen bemerkt haben, denn wieder sah er sie höhnisch grinsend an, warf sich plötzlich mit fast kindischer Freude in den Sessel zurück, schlug sich wie vor Vergnügen auf den linken Oberschenkel fasste sich dann mit der rechten Hand zwischen die weit gespreizten Oberschenkel und manipulierte völlig ungeniert an seinem Geschlechtsteil, bis es deutlich unter dem blauen Stoff der Jeans zu erkennen war.

Und dann war ihr schlagartig klar, was bei der Beschreibung dieser Person noch gefehlt hatte: Es war das zur äußeren Erscheinung dieses Mannes absolut nicht passende Benehmen eines Kindes, das sie nun mit erwartungsvollen Augen anstarrte und sich ganz offensichtlich überhaupt nicht über die Tragweite dessen im Klaren war, was es da anstellte.

Als wolle er das unterstreichen, hielt er ihr noch einmal den Zettel vor das Gesicht, wie ein Kind, das irgendetwas gezeichnet hatte, von dem es vielleicht dumpf ahnte, dass es das besser nicht getan hätte, und das nun voller Spannung auf die Reaktion eines Erwachsenen wartete: Um 18 Uhr werde ich mit dir beginnen, um 19 Uhr wirst du nur noch tot sein wollen, aber um 20 Uhr wirst du immer noch nicht aussehen wie diese Schlampe, Frau Dr. Jana Wirkner. Ich freue mich auf dich. Jonas.

Eine derart infantile Person konnte einen solchen Text nicht einmal schreiben, davon war sie überzeugt; dass er das angekündigte Vorhaben in die Tat umsetzen würde, daran hatte sie nicht den leisesten Zweifel.

Bereits eine halbe Stunde zuvor war bei der Kripo in Essen ein Anruf der Kollegen aus Recklinghausen eingegangen. Ein gewisser Oberkommissar Sundermann teilte einem völlig verdutzten Kollegen kurz und bündig mit, die Polizei solle augenblicklich die Praxis einer Frau Dr. Jana Wirkner am Rüttenscheider Stern aufsuchen; es sei dort höchstwahrscheinlich etwas Schreckliches geschehen. Als der Essener Beamte nachfragte, um genauere Informationen zu erhalten, war die Verbindung bereits unterbrochen.

Nur wenig später hielt ein Streifenwagen der Essener Polizei vor dem Gebäude am Rüttenscheider Stern und zwei uniformierte Beamte stiegen aus dem Wagen. Sie waren überrascht, als sie die Praxis der Gynäkologin unverschlossen vorfanden; zur Beschreibung ihrer Befindlichkeit nach der Überprüfung der Praxis sollten ihnen auch nach Jahren noch die Worte fehlen.

Es blieb nicht bei dem Grauen, das alleine schon das Bild und der entsetzliche Geruch verursachte.

Die junge Ärztin war an ihren Behandlungsstuhl gefesselt, zerschnitten und regelrecht ausgeweidet worden wie ein erlegtes Wild, wobei der Täter die Eingeweide und inneren Organe wie Trophäen in der ansonsten durch den weißen Anstrich und die weißen Vorhänge fast steril wirkenden Praxis verstreut hatte. Die weiteren Untersuchungen sollten aber vor allem eindeutig ergeben, dass die junge Ärztin noch gelebt hatte, als der Täter sein Werk begonnen hatte.

Der Pferdestricker

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