Читать книгу Der Pferdestricker - Thomas Hölscher - Страница 5

Prolog 2

Оглавление

17.3.2001

Die Chance, dass ein Mann irgendwo auf der Welt und irgendwann in seinem Leben einmal in einem Sportverein Fußball gespielt hat, muss bei über 50 Prozent liegen.

Die Chance, dass ein Mann schwul ist, liegt überall auf der Welt bei ungefähr 5 Prozent. Die Chance, dass ein schwuler Mann zu seinem Schwulsein auch steht, dürfte wesentlich geringer sein, hängt diese Sache doch ab von der Bildung und dem Grad an Zivilisation, über den die Gesellschaft verfügt, in der er lebt.

Die Chance, dass ein schwuler Fußballer zu seinem Schwulsein auch steht, dürfte in welcher Gesellschaft auch immer eine zu vernachlässigende Größe sein. Es ist eher zu befürchten, dass statistische Erhebungen in dieser Richtung die Grundlagen der Mathematik auf den Kopf stellen würden, da sich im Ergebnis die hier zu erzielenden Zahlen im Minusbereich bewegen werden: Ein schwuler Mann, der gerne Fußball spielt, tut gut daran, alles Erdenkliche zu veranstalten, um den Eindruck zu erwecken, er sei alles, aber auf gar keinen Fall schwul. Am besten sofort das Gegenteil davon, was auch immer das sein mag.

Rolf Werners war schwul, und er war Fußballer aus Leidenschaft. Seit seinem sechsten Lebensjahr war er Mitglied bei Germania Hassel, einem Sportverein im Gelsenkirchener Norden. Mittlerweile war er 33 Jahre alt, ein Alter, in dem man in aller Regel nur noch bei den alten Herren mitspielt und außerdem oft gefragt wird, warum man eigentlich noch immer nicht verheiratet ist.

Manchmal glaubte er selber, man könne nur erahnen, welch eine Karriere als Fußballer er hätte machen können, wenn er nicht den überwiegenden Teil seiner Energie damit verschwendet hätte, sein Schwulsein zu verbergen. Als Fußballer hatte er sich zwar keinen großen Namen gemacht; dafür aber als Erzähler der besten Schwulenwitze beim Stammtisch nach den Spielen.

Wann sein Interesse an Männern begonnen hatte, das hätte er nicht mehr sagen können; dass es massiv da war, davon zeugten vor allem seine Aktivitäten im Internet. Er mischte überall mit, wo es darum ging, unter möglichst phantasievollen Namen und geschützt durch ständig wechselnde Passwörter die eigene Geilheit zumindest in einer virtuellen Welt auszuleben. Aber selbst in dieser Scheinwelt konnte er die Angst nicht wirklich loswerden. Als sein Computer einmal den Geist aufgegeben hatte, da war in ihm sofort der fürchterliche Verdacht aufgetaucht, ein Bekannter aus dem Fußballverein habe sich auf irgendeine Weise in seinen Computer gemogelt und wisse nun, dass sich sein Interesse fast ausnahmslos beschränkte auf Materialien, die sich unter gay sex, leather and spurs, submission oder bareback riding subsumieren ließen. Auf Deutsch hätte er sich nicht einmal selber eingestehen können, dass er auf so Sachen wie schwulen Sex, Leder und Sporen, Unterwerfung, ungeschützten Sex und Reitvorführungen von möglichst strammen Kerlen auf ungesattelten Pferden stand; auf Englisch klang das alles einfach viel selbstverständlicher. Und nicht so provinziell. Angeblich konnten ja auch die vielen Schlagersternchen und sonstige Verantwortliche der Unterhaltungsmusik ihre Gefühle auf der Bühne viel besser in der englischen Sprache ausdrücken: I love you ging ohne weiteres; ich liebe dich klang angeblich doof.

Neben der Angst gab es noch etwas, das mit zunehmendem Alter nicht etwa geringer, sondern immer stärker wurde: Den Wunsch, all diese Bilder und Wörter in seinem Kopf sollten endlich einmal Realität werden. Die bevorzugte Rolle des unbeteiligten Zuschauers hatte zweifelsohne ihre Vorteile, was die Handhabung der Angst anbetraf; was die Befriedigung der eigenen Geilheit anbelangte, reichte sie jeden Tag weniger aus.

Vor zwei Monaten schien die virtuelle Welt tatsächlich in seine Realität gekommen zu sein. Der Kerl hieß Dirk Berger, war von seiner Firma aus Norddeutschland ins Ruhrgebiet versetzt worden und hatte sich sofort bei Germania angemeldet. Und vom ersten Augenblick an schien kein Bild, das etwa unter den Stichworten jeans butt, bulging jeans oder horny crotch schon tausendfach auf dem Monitor seines Computers erschienen war, mit diesem Dirk Berger konkurrieren zu können: Dessen geiler Arsch, so glaubte er, war jeden Weltkrieg wert, und was sich da zwischen den großen Oberschenkeln unter dessen Jeans abzeichnete, das ließ ihn träumen und das Duschen nach dem ersten Fußballspiel herbeisehnen.

Das erste gemeinsame Duschen übertraf dann sogar noch seine kühnsten Träume, und von jenem Tag an plädierte er ständig für zusätzliche Trainingseinheiten und die Einführung von englischen Wochen auch im Spielbetrieb der alten Herren in Deutschland. Zudem schien ihm die Einführung neuer Trainingsmethoden in der Art angezeigt, wie sie als Bilder auf dem Speicher seines Computers unter Begriffen wie shoulder ride, chicken fight oder human pony zu finden waren: Diesen geilen Kerl würde er auf seinem Rücken, seinen Schultern oder auf allen Vieren dreimal um die Welt schleppen, um zumindest ein klein wenig von dem herzustellen, was er sich selber um jeden Preis verboten hatte: den körperlichen Kontakt. Und so war er denn auch, je geiler dieser Kerl ihn machen konnte, um so ängstlicher bemüht, nur ja kein zu offensichtliches Interesse an dem zu zeigen, ihn am besten sogar zu reduzieren auf eine Art Gegenstand, der wider alle Vernunft aus der Scheinwelt seines Computers in die trübe Realität seines Lebens gekommen war.

Natürlich funktionierte das nicht. Was immer stärker wurde, war der Wunsch, dieser Gegenstand solle ihm bei ihren auf den Sport reduzierten Treffen neben dem visuellen Genuss auch noch eine ganz andere Welt eröffnen. Ein solcher Kerl verlangte einfach nach mehr als den Fliesenwänden in einer schon ziemlich heruntergekommenen Dusche oder der spartanisch eingerichteten Umkleide, die immer nach dem unreinen Atem uralter Abflussrohre und Schweißfüßen roch, nach etwas, das schon eine ganz andere Umgebung verlangte und Dinge geschehen ließ, die sich die kühnste Phantasie kaum ausmalen konnte und das gerade deshalb so stimulierend war.

Es war der 17.3.2001 um exakt 17 Uhr 30, als sie das Spiel gegen alte Herren aus Marl im strömenden Regen endgültig verloren hatten und wie immer in solchen Fällen mit hängenden Köpfen, schlechter Laune und gegenseitigen Vorwürfen in Richtung der Umkleiden gingen. Immerhin konnte Rolf Werners dem Regen noch positive Seiten abgewinnen, hatte der doch schon längst auch das Trikot von Dirk Berger dermaßen durchnässt, dass dessen Körperlichkeit unter dem nassen Textil noch geiler aussah, als posiere der Kerl splitternackt vor ihm. Aber nichts von der Faszination hätte man ihm angemerkt; denn mittlerweile war er endgültig davon überzeugt, aufpassen zu müssen: Es hatte da keinerlei eindeutige Hinweise gegeben, und doch glaubte er felsenfest, dass sein Interesse an einem gewissen Dirk Berger anderen nicht entgangen sein konnte. Wenn andere leise miteinander sprachen, war er mittlerweile davon überzeugt, dass sie über ihn sprachen, und wenn sie nichts sagten, glaubte er, sie redeten nur aus Rücksicht ihm gegenüber nicht weiter.

Während seine Mitspieler sich zumeist mit weit gespreizten Beinen nur kurz auf den Holzbänken niederließen, sich möglichst schnell der völlig verdreckten Schuhe und durchnässten Trikots entledigten, um dann sofort unter die warme Dusche zu gehen, blieb er, als mache er sich immer noch Gedanken über das gerade knapp verlorene Spiel, mit den Händen vor dem Gesicht in der nach Seife und menschlichen Ausdünstungen riechenden Umkleide sitzen. Er würde es nicht überleben, wenn sie ihn für einen Schwulen halten würden, das wusste er. Wenn auch nur bei einem von ihnen ein solcher Verdacht auftauchen sollte.

Und dann war da plötzlich dieses Geräusch, das er sich nicht erklären konnte. Es hörte sich im ersten Augenblick an, als tippele eine Frau mit Stöckelschuhen aufgeregt über den gefliesten Gang vor dem Umkleideraum. Aber dann war ihm schnell klar, dass das Geräusch nicht durch den Gang eines Menschen verursacht worden sein konnte, weil dieser Mensch wegen der schnell aufeinander folgenden Schritte schon eine Art Stepptanz hätte aufführen müssen, um diese Geräusche zu verursachen. Und noch bevor er mit seinen Gedanken zu einer eindeutigen Zuordnung gekommen war, hatte sich das Geräusch in Richtung Duschraum bewegt und war schließlich irgendwo dort verschwunden.

Dafür brach nun ein Lärm los, den er allerdings sehr eindeutig zuordnen konnte und der ihm in den letzten Wochen aus ihm selber zunächst unerklärlichen Gründen immer verhasster geworden war: Das laute und völlig ungenierte Gegröle und Gejohle seiner Mitspieler. Obschon er immer gewusst hatte, dass es Unsinn war, hatte er ein paar Mal ihr ausgelassenes Toben auf sich bezogen, hatte geglaubt, einen Vorgeschmack davon zu bekommen, wie es wäre, wenn sie herausfanden, dass er schwul war: In die Mitte würden sie ihn stellen, mit den Fingern auf ihn zeigen und sich mit eben diesem Gegröle und Gejohle über sein Malheur totlachen. Einmal war er mitten in der Nacht sogar schweißgebadet aus einem solchen Traum erwacht.

Es waren vielleicht zwei oder drei Minuten vergangen, das Geschreie hatte sich ein wenig gelegt, als die ersten seiner Mitspieler die Tür zur Umkleide mit noch tropfnassen Haaren aufstießen und ihm lachend mitteilten, dass er etwas verpasst habe. Was, das wollten sie ihm nicht verraten, er solle doch selber sehen, sagten sie, und das führte bei ihm zu neuem Misstrauen. Möglicherweise war das eine Falle, würden sie dort auf ihn warten, um ihn zu blamieren, und als er daran dachte, spielte er den Desinteressierten und ließ noch einmal rund zwei Minuten vergehen, bis er sich schließlich langsam und fast widerwillig in Richtung Duschraum in Bewegung setzte wie jemand, der etwas ohnehin nur tat, um dem lästigen Gequengel kleiner Kinder keinen Vorwand mehr zu geben. Als er dann endlich die Tür zur Dusche öffnete, wollte er nicht glauben, was er sah: Mitten in dem vom heißen Wasser völlig vernebelten Raum stand ein schwarzes Pferd.

Eigentlich war es kein Pferd, es war eher ein Pony, das auf dem gefliesten Boden inmitten der nackten Kerle und des wegen seines Erscheinens nun wieder anschwellenden Lärmpegels ganz offensichtlich selber nicht so recht wusste, was es da eigentlich verloren hatte. Weil fast zwanzig Menschen gleichzeitig auf ihn einzureden schienen, dauerte es eine Zeit lang, bis er verstanden hatte, dass dieses Vieh urplötzlich in der Dusche erschienen war, und da hatte sich schon einer der Leute erbarmt, hatte sich ein Handtuch um die Hüften gelegt, das Tier bei der Mähne gepackt, es über den Flur zur Tür gebracht und dort mit einem Klaps auf den Hintern aus dem Gebäude geworfen.

Die folgenden Tage waren eine Tortur. Der Berger habe splitternackt unter der Brause auf dem Vieh gesessen, hatten sie ihm mitgeteilt und damit in ihm eine nicht enden wollende Flut geilster Bilder ausgelöst und vor allem ein kaum zu bewältigendes Gefühl aus Ungewissheit und der Überzeugung, irgend so etwas wie die größte und vielleicht einzige Chance seines Lebens endgültig verpasst zu haben. Die Ungewissheit versuchte er durch zunächst vorsichtiges, dann aber immer ungenierteres Nachfragen und den Gebrauch seiner Phantasie zu kompensieren; es bremste ihn jedes Mal erst die Angst, gleich könnten die Kerle skeptisch werden und wissen wollen, weshalb er denn immer nachfrage und ob er eigentlich schwul sei. Die Gewissheit, etwas Entscheidendes verpasst zu haben, war ihm ja ohnehin nicht neu; aber so hatte sie noch nie geschmerzt.

Noch wochenlang träumte er davon, eher die Umkleide verlassen zu haben, den splitternackten Berger groß und schwer auf dem nassen Tier sitzen gesehen und mit der Kamera seines Handys abgelichtet zu haben. Ins Internet hätte er die Aufnahmen gestellt, und in seiner Phantasie malte er sich die überall fast ausschließlich auf Englisch abgegebenen Kommentare derjenigen aus, die für ihn in seiner Homophobie schon seit Jahren das Echo der Welt und das Maß aller Dinge, in Wahrheit aber nur eine kleine Minderheit geiler und verklemmter Voyeure waren. Dass sie unter einem derart geilen Arsch das Vieh beneideten, stand dann dort, dass der Kerl bei seinem nächsten Ritt doch sie nehmen solle, dass man besonders schätze, wenn dem geilen Kerl auf dem nassen Tierrücken die große Nülle auch noch hart werde und so weiter und so weiter.

Die wirkliche Welt maß diesem Ereignis viel weniger Bedeutung bei: in einem winzigen Artikel wurde darüber als einem großen Jux in der Lokalpresse berichtet, und das auch nur, weil einer der Spieler mit einem freien Mitarbeiter der WAZ befreundet war, der absolut nicht mehr wusste, was er schreiben sollte, da es Sauregurkenzeit und dann auch noch die Vorstandsitzung eines Kaninchenzüchtervereins ausgefallen war.

Der Pferdestricker

Подняться наверх