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Prolog 3

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Mai/Juni 2001

Kein ernst zu nehmender Mensch glaubt noch, dass Kinder und Jugendliche wegen der Schule lernen; sie lernen trotz der Schule. Zumindest war sie seit langem insgeheim davon überzeugt, und manchmal machte ihr diese Vorstellung geradezu Angst.

Nicht dass sie Schüler deshalb für intelligente Wesen hielt; sie hielt sie für eine dumme, träge und wurstige Masse und hatte sie über die Jahre und Jahrzehnte niemals für etwas anderes gehalten. Sie wussten zwar viel, konnten viele Dinge, um die sie sie manchmal insgeheim sogar beneidete; aber alles in allem wussten sie eben das Falsche, perfektionierten zumeist nur ihre technische Intelligenz und blieben darauf reduziert, eigneten sich eine oft unangreifbare Bauernschläue an, glaubten – je länger sie im Schuldienst war - immer ungenierter, sich allen traditionellen Bedeutungen entziehen zu können, ohne sich auch nur ein einziges Mal ernsthaft damit auseinandergesetzt zu haben.

Sie war Oberstudienrätin für Latein und Französisch an einem humanistischen Gymnasium in Essen und hatte sich in den letzten Monaten schon des öfteren ganz diskret zu der Frage kundig gemacht, wie lange sie mit ihren 58 Jahren diesem Beruf noch nachgehen musste. In Gesprächen mit ihren wenigen Bekannten – fast ausnahmslos Lehrer – war des öfteren zur Sprache gekommen, dass man als Unterrichtender an einem Gymnasium noch die beste aller möglichen Karten gezogen hatte; der Job an einer Haupt- oder Gesamtschule vor allem im Essener Norden musste eine Tortur, die rapide steigende Zahl von Nachkommen sogenannter bildungsferner Haushalte gar nicht zu bändigen sein. Es wurden dann Horrorgeschichten erzählt von Kollegen, die im Unterricht sogar tätlich angegangen worden waren, und all diese Geschichten hatte sie mit der notwendigen Empörung zur Kenntnis genommen, sie in Wirklichkeit aber nicht geglaubt. Sie hatte sie einfach nicht glauben wollen, weil diese Vorstellung ihr eine geradezu bodenlose Angst einflößte und sie sich statt dessen lieber einredete, dass gerade sie es war, die den härtesten aller möglichen Jobs zu erledigen hatte und dafür auch völlig zu Recht am meisten Geld von allen Lehrern bekam: Auch Gymnasiasten waren heutzutage schon lange nichts anderes mehr als die allgemeine respektlose und frechdumme Masse, die nur noch Rechte und keinerlei Pflichten hatte, aber ihre wenn auch immer bescheidener werdende Intelligenz machte sie viel gefährlicher als dieses hirnlose und schmutzige Pack, das sich in den letzten Jahren anscheinend aus allen unterentwickelten Regionen der Welt in deutschen Schulen verabredet hatte, um dort das Chaos zu veranstalten. Nach zehn Jahren, die ihnen eine völlig unfähige und ignorante Kultusbürokratie als Schulpflicht verordnet hatte, war diese Charge in aller Regel nicht einmal in der Lage, die Sprache des Landes, in dem sie ihr Unwesen trieb, fehlerfrei zu sprechen. Diese Dinge wusste sie zwar nicht aus eigener Erfahrung, aber schließlich brauchte man nur den Fernseher einzuschalten oder die Zeitung aufzuschlagen, um derartige Dinge zu wissen. Wörter wie Latein und Französisch sagten solchen Leuten natürlich gar nichts. Aber das war auch völlig überflüssig, da sich dieses Gesocks ohnehin mit nichts anderem beschäftigte als damit, sich so schnell wie möglich zu reproduzieren. Und wenn sie an solche Dinge dachte, dann war sie manchmal sogar froh an einem humanistischen Gymnasium zu unterrichten, wirkte diese Schulform doch immer noch wie eine Art Filter, der den sozialen Abschaum außen vor hielt. Die Zugangsberechtigung war die soziale Herkunft, nicht unbedingt die Intelligenz der Schüler. Und ein paar renitente Akademikereltern, die bei jeder zu gebenden Note mit dem Rechtsanwalt drohten, waren immer noch leichter zu handhaben als ein Mob, der Gewalt in jedweder Form nicht nur androhte, sondern auch anwendete und letztendlich gar nichts lernen wollte.

Eigene Kinder hatte sie nicht, war auch nicht verheiratet; überhaupt war da nie etwas Ernsthaftes gewesen mit Vertretern des anderen Geschlechts, und bis kurz vor ihrem 50. Geburtstag hatte sie sich einreden können, dass sie voll und ganz in ihrem Beruf aufging.

Aber dann hatte sich etwas geändert. Nicht schlagartig, eher schleichend, so dass sie im Rückblick nicht einmal mehr sagen konnte, wann alles angefangen hatte. Und was genau es war, das sich geändert hatte, das konnte sie ohnehin nicht sagen. Es war nicht so sehr das Gefühl, etwas Unbestimmtes noch erreichen zu wollen; es war die immer häufiger auftretende Gewissheit, etwas ganz Bestimmtes endgültig verpasst zu haben.

Im Frühjahr schließlich hatte sie es einfach nicht mehr ertragen können. Das war schon Wochen vorher klar gewesen. Also hatte sie verreisen müssen, egal wohin, nur irgend wohin. Und doch konnte man nicht einfach sagen, dass man nach Mallorca fuhr; Mallorca, das klang trotz aller Berichte über angebliche und tatsächliche Prominente, die sich dort niedergelassen hatten, schließlich immer noch nach Putzfrau und Proleten. Also hatte sie nach Valldemosa fahren wollen, in den kleinen Ort im mallorcinischen Gebirge, wo Chopin mit seiner Geliebten George Sand sein Lungenleiden hatte kurieren wollen. Mehrfach hatte sie im Kollegium ganz begeistert von George Sands „Ein Winter in Mallorca“ gesprochen, von ihrem Wunsch, diesen Ort Valldemosa einmal zu sehen, und dann erst hatte sie gewagt, die Reise zu buchen.

Letztendlich hatte der Ort Can Picafort im Norden der Insel, den ihr eine junge Kollegin empfohlen hatte, zumindest nach ihrem Dafürhalten mit den Größen der europäischen Kultur so ganz offensichtlich gar nichts zu tun. Trotz der vier Sterne, mit denen sich ihr Hotel rühmte, und der sogar in ihrem Reiseführer erwähnten exquisiten Küche eher mit Putzfrauen und Proleten. Und auch den Spuren Chopins und George Sands in Valldemosa hatte man an einem einzigen Tag bequem nachgehen können, und bereits am späten Nachmittag hatte der Bus die kleine Gruppe mit Ausflüglern vor dem Hotel in Can Picafort wieder abgesetzt. Und von dem Augenblick an hatte sie begonnen, die Stunden und Tage bis zu ihrer Heimreise zu zählen.

Sie wusste sich in diesem Touristenkaff einfach nicht zu verhalten. Alles, was dort angeboten wurde, interessierte sie nicht im geringsten; und was sie anderen hätte anbieten können, war auch dort so ganz offensichtlich nicht gefragt. Und somit war alles wie zu Hause, wie in Essen, wie in der Schule, wie immer. Vielleicht sogar noch schlimmer; denn das wunderbare Wetter der letzten Tage hatte es mehr als nahe gelegt, einfach hinauszugehen, sich an den Strand zu legen, in einem der zahlreichen Restaurants etwas zu essen, zu trinken, auf der Promenade einfach nur Menschen zu beobachten, auf jeden Fall irgend etwas zu tun, für das man die Abgeschiedenheit eines banalen Hotelzimmers allerdings hätte verlassen müssen. Und genau das konnte sie ohne Chopin und Georges Sand nicht.

Zwei ganze Tage hatte sie nur im Hotelzimmer verbracht, dann war sie morgens mit einem an der Rezeption bestellten Taxi alleine nach Alcudia gefahren, aber dort war alles noch schlimmer gewesen, weil ein solcher Ausflug, wie sie meinte, einer gebildeten Person doch eigentlich die Verantwortung auferlegte, irgendetwas Sinnvolles zu tun, und das war ihr einfach nicht gelungen. Sie hatte nicht einmal mehr die Energie gehabt, den teuren Reiseführer, und sei es zur Wahrung irgendeines Scheins, auch nur aufzuschlagen. In dem Gesicht des jungen Taxifahrers, der sie aus der Stadt zurückgebracht hatte, wollte sie sogar ein unverschämtes Grinsen entdeckt haben und hatte dem Mann unterstellt, ihre Hilflosigkeit erkannt und seine Verachtung deutlich gezeigt zu haben. Und als sie um Punkt 17 Uhr bereits wieder in ihrem Hotelzimmer saß und auch noch feststellen musste, dass ihre Mitmenschen in diesem Touristenkaff um diese Zeit ganz offensichtlich erst richtig unternehmungslustig wurden, rechnete sie auf einem Stück Papier aus, wie viele Tage und Stunden sie noch in diesem Hotelzimmer würde verbringen müssen: Es war nun genau 17 Uhr und 3 Minuten. Also noch drei Tage und ziemlich genau sieben Stunden, bis man zumindest auf das übliche Bisschen Leben zu Hause wieder rechnen konnte.

Schon als Schülerin war das Fach Mathematik ihre einzige Schwäche gewesen. Aber daran lag es nicht, dass sie sich in diesem Fall so gründlich täuschte. Sie hatte noch genau fünf Stunden und dreiundfünfzig Minuten zu leben.

Wenn man die Straße von Can Picafort in Richtung Alcudia geht, gelangt man nach wenigen Kilometern in das Naturschutzgebiet der Albufera, einer Landschaft mit ausgedehnten Sumpfgebieten und dichten Schilfbeständen, das war ihr um halb sechs klar, weil sie es in ihrem Reiseführer gelesen hatte. Und da sie um kein Geld der Welt die wenigen Meter zur belebten Strandpromenade gelaufen wäre, ging sie um kurz nach sechs völlig plan- und ziellos über die Chaussee in Richtung Arta. Nach nur wenigen hundert Metern endete die Bebauung des monotonen Touristenortes und links und rechts der Straße lag eine Landschaft, die mit ihrem Kieferbestand auf sandigem Boden an eine Dünenlandschaft irgendwo weiter im Norden Europas erinnern konnte. Sie war nicht einmal zwei Kilometer von Can Picafort entfernt, als sie sich entschloss, in einen der sandigen Wege nach links einzubiegen. Sie nahm sich vor, nicht allzu weit zu laufen, alles zu tun, um sich ja nicht zu verlaufen; aber die Vorstellung, zu früh wieder in ihrem Hotelzimmer eingesperrt zu sein, ließ sie gleich alle Bedenken über Bord werfen. Schon nach wenigen Minuten war der Lärm der stark befahrenen Straße nicht mehr zu hören und sie hätte nicht mehr sagen können, wie oft sie auf einem der Wege nach links oder rechts abgebogen war.

Es kam ihr die Idee, einen Augenblick zu rasten, sich einfach auf den sandigen Boden zu setzen und das herrliche Wetter und die Ruhe zu genießen; aber dann hatte sie diese Idee schon wieder verworfen. Sie würde ohnehin keine Ruhe finden, das wusste sie schließlich aus Erfahrung; außerdem hatte sie Angst vor irgendwelchem fremdartigen Getier, das sich ihr möglicherweise nähern konnte, und wenn man langsam weiter ging, sah es für andere zumindest so aus, als verfolge man ein eindeutiges Ziel.

Sie sah sich um, und sofort kam es ihr in den Sinn, dass sie sich natürlich in ihrem Reiseführer auch ausgiebig über die Flora und Fauna der Insel kundig gemacht hatte; aber nichts von der sie im Augenblick umgebenden Natur hätte sie bestimmen und mit Worten belegen können. Es sah hier aus wie in einer ausgedehnten Dünenlandschaft irgendwo an der Nord- oder Ostsee, das konnte sie sagen, die hohen Bäume inmitten des erstaunlich frischen Grüns noch als Pinien identifizieren, aber das reichte den Ansprüchen nicht, die sie an sich selber stellte; der Boden war sandig und hatte sich zu leichten Hügeln oder Dünen geformt, die Büsche machten einen wiederstandsfähigen und stacheligen Eindruck, und als ihr dieser Satz noch einmal durch den Kopf ging, empfand sie seine Plattheit als geradezu peinlich für einen gebildeten Menschen ihres Kalibers. Heute Abend, das nahm sie sich nun vor, würde sie sich in ihrem Reiseführer wirklich kundig machen über die Flora und Fauna Mallorcas. Sie wollte nicht auch noch zugeben, dass sie eine solche Idee nur erfreute, weil sie auf diese Art und Weise zumindest für eine bestimmte Zeit in ihrem Hotelzimmer beschäftigt sein würde. Statt dessen fielen ihr die Schüler wieder ein: auch nach mehrjährigem Studium der alten Sprachen würden sie daran scheitern, die Wörter Flora und Fauna sprachgeschichtlich herzuleiten. Von der mythologischen Dimension des Wortes „Fauna“ ganz zu schweigen. Flora und Fauna würden sie wegen des Wortes „und“ lediglich für irgendwie zusammengehörende Begriffe halten, vergleichbar und austauschbar mit C und A, Blau und Weiß oder Dick und Doof. Und wer die belangloseste Episode im Leben eines noch belangloseren Popstars bereits für wesentlich mehr als einen kleinen Pups hielt, der musste sich natürlich mit so etwas wie Mythologie gar nicht mehr beschäftigen! Sie dachte an ein paar Schülerinnen, die sie bereits mehrfach im Unterricht bei der Lektüre irgendwelcher sogenannter Storys über sogenannte Boygroups erwischt hatte, und sie war erleichtert über die Ablenkung, die ihr die Verachtung dieser Schülerinnen verschaffte. Den Satz über die Belanglosigkeit dessen, womit sich diese kleinen Ziegen beschäftigten, würde sie sich heute auch noch aufschreiben, um ihn bei nächster Gelegenheit an den Mann oder besser die Frau zu bringen. Das Wort „Pups“ würde sie weglassen.

Statt dessen kam das Wort Mythologie wieder in ihr Bewusstsein. Und als ihr die Diskrepanz zwischen der Bedeutung dieses Wortes und der Belanglosigkeit von Schülerinteressen bewusst wurde, musste sie sogar leise lachen. Aber sofort war ihr dieses Lachen dann wieder vergangen, als ihr die schiere Unmöglichkeit deutlich wurde, einer vollkommen dummen und ignoranten Masse die Reichweite dieses Begriffs jemals zu verdeutlichen. Und als sie dann glaubte, immer schon gewusst zu haben, einem Beruf nachzugehen, in dem man an der Verantwortung, die man trug, fast verzweifeln konnte, gelang es ihr sogar für kurze Zeit, in einem unverbindlichen Gefühl aus Stolz, Resignation und Weltschmerz zu schwelgen.

Die Mythologie, das war schließlich nicht weniger als Ursprung und Grundlage des menschlichen Denkens und damit aller Entwicklung. Es gab nichts anderes, von dem sie so felsenfest überzeugt war. Was wir als Erkenntnis zunächst nur in Bildern formulieren und weitergeben konnten, wurde durch den kritischen Geist immer wieder in Frage gestellt und schließlich durch das Wort, den Begriff, die Sprache auf den Punkt gebracht und überwunden. Und die Entwicklung, die die Menschheit insgesamt durchlaufen hatte, wurde von jedem einzelnen Menschen im Laufe seines Lebens wiederholt. Das Kind dachte in Bildern, der erwachsene Mensch in der Sprache; nur im Traum und in krankhaften Geisteszuständen konnten die Bilder wieder die Oberhand im Denken des zivilisierten Menschen erlangen. Und als sie daran dachte, musste sie wieder lachen: Ihre Schüler würden vielleicht eines Tages zu der Erkenntnis kommen, dass die Beschäftigung mit den Bildern von Boygroups in einem Jugendmagazin ein überflüssiger Umweg und damit verschwendete Zeit war; aber zu einem Mehr an Erkenntnis würde es wohl kaum reichen.

Und dann hatte sie etwas gehört. Es hatte sie nicht erschreckt, es hatte nur diese unendliche Ruhe und das klitzekleine Bisschen Seelenfrieden gestört, den ihr ihre Lieblingsbeschäftigung, die Verachtung anderer Menschen, für kurze Zeit verschafft hatte. Und sie hätte auch beim besten Willen nicht sagen können, was genau sie gehört hatte. Es waren keine Stimmen gewesen, vielleicht war es sogar irgendetwas gewesen, das mit Menschen gar nichts zu tun hatte, und plötzlich machte ihr gerade diese Vorstellung Angst. Fremde Menschen waren ihr, wenn sie ehrlich war, immer unheimlich gewesen, es gab in Wirklichkeit kaum jemanden, vor dem sie nicht Angst hatte und den sie aus eben diesem Grund zu verachten versuchte; aber gegen andere Menschen hatte sie zumindest wegen ihrer Intelligenz immer noch eine Chance gehabt.

Als sie voller Anspannung den Atem anhielt, hörte sie wieder Geräusche, und nun waren diese Geräusche eindeutig als menschliche Stimmen zu identifizieren. Und als sei dies das endgültige Signal, nun unbedingt äußerste Vorsicht walten zu lassen, ging sie hinter einer dichten Buschreihe in die Hocke und starrte gebannt in die Richtung, aus der die Stimmen gekommen waren. Vor ihr lag eine sandige Mulde, die von der Höhe, auf der sie stand, vollständig einsehbar war.

Es waren zwei Männer, die langsam und leise miteinander redend über den gegenüberliegenden Dünenrand kamen, so dass zunächst nur ihre Köpfe, dann ihre Oberkörper und schließlich ihre gesamten Körper sichtbar wurden. Der eine der Männer mochte Anfang, Mitte 50 sein, der andere vielleicht Mitte bis Ende 20. Der ältere war untersetzt, wirkte grobschlächtig; der jüngere war schlank und groß. Aber es waren nicht ihre körperlichen Merkmale, was sie in Erstaunen versetzte: der ältere Mann trug ein rot-weiß kariertes Hemd, eine dreiviertellange Lederhose, passende derbe Schuhe und ein Baseballcap, Kleidung, mit der er auf dem Münchener Oktoberfest und vielleicht auch am Ballermann in Arenal keinerlei Aufsehen erregt hätte, hier aber irgendwie deplaciert wirkte. Der jüngere Mann war unauffällig gekleidet: T-Shirt, Turnhose, Sportschuhe und ebenfalls ein Baseballcap. Er trug außerdem einen Rucksack und sah aus wie jemand, der gerade den Rückweg vom Strand angetreten hatte.

Und dann dieses Pferd. Es war kein Pferd, es war eher ein Pony, und doch sah es nicht aus wie ein Pony, sondern eher wie ein Pferd. Ihre Gedanken kamen ihr selber albern vor, und doch war es genau so: Dieses Tier war viel kleiner als ein Pferd, aber es war nicht so rundlich und fett, wie man es von Ponys gewohnt war. Würde sie es nun alleine hier in dieser Mulde sehen, so ließe es sie an ein edles Araberpferd denken; da der untersetzte ältere Mann es an einer Leine hinter sich herzog, wirkte es im Vergleich zu ihm aber kleiner als ein normales Pferd, geradezu zerbrechlich. Und dann war ihr klar, dass ihr zu der Szene, die sich ihren Augen bot, einfach keine Geschichte zur Begründung einfallen wollte: Was machten diese zwei erwachsenen Männer in dieser gottverlassenen Gegend mit diesem Tier? Es sah einfach grotesk aus.

Mittlerweile waren die beiden Männer in der Mitte der Senke stehen geblieben und der junge Mann hatte den Rucksack von seinem Rücken auf den Boden fallen lassen. Anschließend waren beide Männer damit beschäftigt, irgendwelche Utensilien in dem Rucksack zu suchen. Der junge Mann hatte schließlich eine Kamera in der Hand, er stand auf und hielt sich das Okular der Kamera prüfend vor das Auge. Dann wurde ihm die Sucherei des älteren Mannes ganz offensichtlich zu bunt; er nahm energisch den Rucksack hoch und ließ kurzerhand den gesamten Inhalt in den Sand fallen. Sie konnte nicht erkennen, was in dem Rucksack gewesen war und nun wie achtlos weggeworfener Müll im Sand lag.

Ganz offensichtlich hatte es der junge Mann mit der Kamera eilig. Mit Gesten und Worten trieb er nun den älteren zur Eile an, und dann war ihr auch klar, dass sie Landsleute beobachtete: Nu mach doch schon! Wir sollten hier nicht ewig bleiben!, hatte sie ganz deutlich verstehen können. Dabei war ihr ein ganz leichter Akzent aufgefallen. Der junge Mann musste aus Osteuropa kommen. Der ältere kam ganz offensichtlich aus Bayern: Nu mach mal nicht die Pferde scheu, sagte er im reinsten Honoratiorenbayrisch und lachte plötzlich los.

Bereits als der ältere Mann ganz offensichtlich der Aufforderung zur Eile nachkam und auf das kleine Tier zuging, wurde er von dem jüngeren Mann mit der Kamera aufgenommen. Der ältere Mann nahm den Strick, der um den Hals des Tieres gebunden war, und ging anschließend in einem weiten Kreis um den mittlerweile in der Mitte der Mulde stehenden jungen Mann. Jetzt bleib mal stehen!

Der ältere Mann stand nun mit dem Rücken zu ihr; das Pferd trottete langsam auf ihn zu und blieb schließlich wie gelangweilt vor ihm stehen. Sie sah auf ihre Armbanduhr: es war viertel vor sieben, und noch immer schien die Sonne von einem wolkenlosen Himmel! Die für den heutigen Tag prognostizierten knapp 30 Grad mussten immer noch herrschen.

Jetzt lass sie mal sehen, wie sehr du dich schon freust!

Und wieder war da der Hinweis gewesen auf einen ganz leichten osteuropäischen Akzent. Das e in sehen und in sehr war viel zu kurz gewesen.

Der ältere Mann stand aus ihrer Perspektive nun direkt vor dem kleinen Pferd, so dass sein massiger Körper es völlig verdeckte und sie es gar nicht sehen konnte. Zudem blickte sie nun fast in die Sonne, die über der rechten Schulter des Mannes stand und sie blendete. Den Strick, mit dem er zuvor das Tier geführt hatte, gab er in die linke Hand und mit der rechten fummelte er ganz offensichtlich an der Vorderseite seiner ledernen Hose herum. Nach einer weiteren Anweisung des jungen Mannes wippte der ältere plötzlich auf den Zehenspitzen, und dann kam ihr die Szene mit einem Schlag peinlich bekannt vor: Aus ihr bis heute unerfindlichen Gründen war sie in der Schule vor rund zwei Jahren einmal versehentlich in die Herrentoilette gelaufen und hatte dort den stellvertretenden Schulleiter, Studiendirektor Malmes, am Pissoir stehen sehen. Er hatte ebenso auf den Zehenspitzen gewippt wie der grobschlächtige Kerl im Bajuwarenoutfit und war kurz darauf an Prostatakrebs gestorben. Viele hatten das angeblich kommen sehen. Sie jedenfalls nicht. Ihr war dieser Vorfall nur unendlich peinlich gewesen.

So ist es schön, sagte die junge Stimme schließlich, und da klang das ö viel zu sehr nach einem e.

Jetzt zeig ihr, was du willst! Nun war es eindeutig: das war kein ai, sondern ein ei gewesen in zeigen.

Ein paar Mal noch wippte der ältere Mann auf den Zehenspitzen, dann zog er plötzlich seine Lederhose nach oben, als wolle er deutlich machen, dass sein großer Hintern sie auch ausfüllte. Nu mach schon! Muss ich hier ewig warten? Nun gab es keinen Hinweis mehr auf irgendeinen ausländischen Akzent.

Die Stimme des jungen Mannes hatte gelangweilt und doch gereizt geklungen, so als mache der ältere alles falsch oder tue einfach nicht, was ganz offensichtlich von ihm erwartet wurde. Noch immer unter dem Blick der auf ihn gerichteten Kamera ließ der ältere Mann den Strick fallen, mit dem er zuvor das Pferd gehalten hatte, und lief zu den Sachen, die die beiden vor ein paar Minuten achtlos auf den Boden geworfen hatten. Er hob irgendeinen großen Gegenstand hoch und lief damit zurück zu dem kleinen Tier. Erst als er diesen Gegenstand auf den Rücken des Tieres legte, konnte sie erkennen, dass es ein Sattel war, und augenblicklich wollte sie nicht glauben, was sie sah: Dieser schwere große Kerl wollte doch wohl nicht im Ernst auf das kleine Tier steigen!

Aber genau das tat er. Obwohl er mit einem Satz auf das Tier hätte springen können, stellte er fast theatralisch zunächst den linken Fuß in den weit neben dem Tierkörper herabhängenden Steigbügel des viel zu großen Sattels, stemmte sein Gewicht hinein und ließ sich dann schwer auf den Rücken des Tieres fallen. Noch immer hatte der junge Mann nicht für eine einzige Sekunde seine Filmaufnahmen unterbrochen.

Sie war entsetzt über die Rohheit der beiden Kerle. Es fiel ihr schwer, nun nicht aus der Sicherheit ihres Verstecks hinauszutreten und die beiden Männer voller Empörung zur Rede zu stellen. Aber natürlich wagte sie das nicht.

Wieder trieb der ältere Mann das Tier in einem Kreis um den jungen Mann, der ganz offensichtlich nicht eine Sekunde von dem Spektakel auf seinem Film versäumen wollte, was sie in eine hilflose Wut versetzte. Unter ständigen Anweisungen des jungen trieb der ältere Mann das kleine Tier an, bis es schließlich unter seinem Gewicht in einen mühsamen Trab verfiel, aus dem es dann mehrfach durch ein brutales Reißen an den Zügeln gestoppt wurde, um sofort wieder durch ebenso brutale Tritte in die Flanken nach vorne getrieben zu werden. Schließlich verließ der junge Mann mit der Kamera den Platz in der Mitte der Mulde, um mit der Kamera aus verschiedensten Positionen das mitzubekommen, was sie mit immer mehr Abscheu erfüllte. Dabei war er fast ununterbrochen damit beschäftigt, den anderen Kerl sich bewegen zu lassen wie eine Marionette: Mehrfach musste dieser den Kopf des Tieres zwischen seine Oberschenkel ziehen, sich in den Steigbügeln aufrichten und schwer auf den schmalen Rücken des Tieres zurückfallen, die Füße aus den Steigbügeln nehmen, so dass die derben Wanderschuhe dicht über dem sandigen Boden baumelten und der große Hintern des Kerls das Tier zu erdrücken schien. Deutlich war nun auch das angestrengte Schnauben des kleinen Tieres zu hören.

Ängstlich sah sie sich um. Und dann konnte sie die Schamlosigkeit dieser beiden Kerle nicht mehr ertragen: Es mussten doch noch andere Menschen hier irgendwo in der Umgebung sein! Wie konnten diese beiden Kerle es wagen, am helllichten Tag etwas Derartiges zu veranstalten? Und wozu das alles? Was sollte das eigentlich bedeuten? Sie sah sich hilflos um, noch immer schien die Sonne von einem wolkenlosen Himmel, und weit und breit war niemand zu sehen, der es ihr ermöglicht hätte, aus ihrem beschämenden Versteck herauszutreten, um dem Spuk ein Ende zu setzen. Und so wagte sie schließlich nicht einmal mehr, sich zu rühren; denn die Ungeheuerlichkeit dessen, was sie sah, ließ sie gleichzeitig erahnen, dass die beiden Männer einiges tun würden, um ihr als zufälliger Beobachterin ihres Treibens keine Chance zu lassen, anderen das mitzuteilen, was sie gesehen hatte. Und obschon es ihr selber vorkam wie das alberne Verhalten eines kleinen Kindes, das sich der Hoffnung hingab, es geschehe nicht, was doch geschah, wenn man einfach nur die Augen geschlossen hielt, schloss sie ihre Augen.

Und irgendwann hatte sich etwas geändert. Hatte es bisher nur die ungeduldigen Anordnungen des jungen Mannes gegeben, die der ältere anscheinend ohne zu murren umsetzte, so gab es nun Widerstand von Seiten des älteren gegen die immer unzufriedeneren Bemerkungen des jüngeren. Das mache ich nicht, glaubte sie schließlich zu hören, du bist ja völlig verrückt!

Als sie die Augen öffnete, stand der ältere Mann neben dem Tier und redete offensichtlich aufgebracht auf den jüngeren ein; der jüngere hatte zum ersten Mal die Kamera nicht mehr vor seinem Gesicht, sondern hielt sie in der rechten Hand neben seinem Körper. Und dann war sie erstaunt: Nicht einmal dem älteren Kerl in seiner bajuwarischen Verkleidung hatte sie ein dermaßen rohes Verhalten zugetraut; aber wie konnte ein derart sympathischer junger Mann, dessen offenes und freundliches Gesicht sie nun zum ersten Mal bewusst wahrnahm, sich für eine solch gemeine Tierschinderei hergeben?

Sie sollte nicht viel Zeit haben, sich derartigen Gedankengängen hinzugeben. Sie sah, wie der ältere Mann den Sattel vom Rücken des Tieres nahm und offensichtlich verärgert in den Sand warf, während der junge Mann seine Kleidung auszog und schließlich völlig nackt die Zügel des Tieres in die Hand nahm.

Noch Minuten vor ihrem gewaltsamen Tod, als sie um viertel vor elf schon seit fast eineinhalb Stunden wieder auf dem Balkon ihres 4-Sterne-Hotels saß und auf den erleuchteten Swimmingpool im um diese Zeit menschenleeren Innenhof blickte, wusste sie nicht, was zu tun war, glaubte nur, das, was hätte getan werden müssen, ohnehin schon lange versäumt zu haben. Sie war nicht zur Polizei gegangen.

Es mussten Sprachprobleme gewesen sein. Und so war es auch nun noch: Nicht dass sie sich eine Anzeige bei der Polizei in spanischer, englischer oder französischer Sprache nicht zugetraut hätte; aber in keiner Sprache der Welt hätte sie sagen können, was sie gesehen hatte: Dass ein junger sympathisch aussehender Mann splitternackt auf ein kleines Pferd gestiegen war und es bestialisch unter sich hatte krepieren lassen. Und je sadistischer er zu Werke gegangen war, um so deutlicher war seinem nackten Körper anzusehen gewesen, welchen Spaß ihm das gemacht hatte. Keine Sekunde lang hatte sie ihre Blicke von dem nackten Körper abwenden können, hatte schließlich geglaubt, ihr Pulsschlag müsse die Gefäße in ihrem Hals und ihrem Kopf zerreißen, als das Tier zusammengebrochen und der junge Mann noch minutenlang mit weit nach links und rechts gespreizten Beinen auf dessen Rücken sitzen geblieben war. Vor allem das, was sie von vorn zwischen den Oberschenkeln des Mannes gesehen hatte, hätte sie in keiner Sprache der Welt auf den Punkt bringen können.

Es war genau 22 Uhr 55, als sie beschloss, sich von ihrem Balkon im vierten Stock zurückzuziehen, weil die Hitze des Tages nun endgültig verflogen und von der Bucht von Alcudia ein unangenehm kühler Nordwind aufgekommen war. Sie ging in ihr Zimmer, wollte das Licht einschalten, ließ es dann aus irgendwelchen Gründen aber doch. Als sie wieder auf den Balkon ging, um eine Tasse zu holen, aus der sie zuvor einen Pfefferminztee getrunken hatte, sprang – von ihr unbemerkt – der Zeiger des Reiseweckers auf ihrem Nachtschränkchen auf 22 Uhr 56. Auch den Mann auf dem Balkon bemerkte sie nicht, der sie sofort mit letzter Entschlossenheit ergriff und über die Brüstung hob und in die Tiefe stieß, wo sie ohne einen Laut von sich gegeben zu haben auf den Fliesen neben dem Swimmingpool kopfüber aufschlug. Sie war sofort tot.

Natürlich sorgte dieser Vorfall für einigen Wirbel in dem Hotel in Can Picafort. Zum Entsetzen des Hotelmanagers erregte die Polizeipräsenz in seinem Haus erhebliches Aufsehen. Auch am nächsten Tag noch wurden andere Gäste von der Polizei befragt, unterzogen aus Palma herbeigeeilte Beamte den Ort des Geschehens einer eingehenden kriminaltechnischen Untersuchung und dann kam man schnell zu einem Ergebnis: Die Tote war die 58jährige Oberstudienrätin Frau Dr. Ilse Hartmann aus Essen in Deutschland. Da es keinerlei Hinweise auf Fremdeinwirkung gab, wurden die Ermittlungen eingestellt und man musste von einem Unfall oder sogar von Selbstmord ausgehen. Ein Ergebnis, das sich übrigens durchaus auch mit den Aussagen der anderen Hotelgäste rechtfertigen ließ: Die Tote war allen Befragten – zumeist deutschen Touristen - als ausgesprochene Einzelgängerin vorgekommen, die auf jeden einen verschlossenen, auf suggestive Nachfrage sogar depressiven Eindruck gemacht hatte.

Das kleine Pferd wurde bereits am nächsten Tag von Urlaubern gefunden. Und nur weil sie völlig empört mehrfach bei der Policia Regional anriefen, hielten zwei Beamte es schließlich für angezeigt, doch noch am Fundort aufzutauchen, allerdings nur, um sofort wieder zu verschwinden. Natürlich hatten sie das zerrissene Maul und die blutigen Flanken des Tieres auch gesehen, aber die Aufregung dieser überkandidelten Touristen trotzdem nicht verstanden. Spanien ist schließlich für alles mögliche bekannt und berühmt; für seinen Tierschutz eher nicht.

Auch der Besitzer hatte keine Anzeige erstattet. Es handelte sich um einen Halbwüchsigen aus der Umgebung, der mit vier ausgemergelten Gäulen ein paar Euro verdienen wollte. Und weil er dazu keine Konzession hatte, war das eigentlich illegal. In Can Picafort gab es schließlich ein Hotel und einen teuren Touristenclub, wo man für viel Geld Reitausflüge buchen konnte.

Das humanistische Gymnasium in Essen reagierte auf die Nachricht vom Tode der Mitarbeiterin mit respektvollem Desinteresse. Nur ein paar kleine Mädchen aus den unteren Klassen verspürten so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Sie warfen sich nämlich vor, dass sie noch am letzten Schultag vor den Osterferien ihrer Lateinlehrerin zum Abschied nachgerufen hatten: Ilse, Ilse, keiner will’se.

Natürlich nur leise, so dass die das nicht gehört hatte.

Laut hätten sie sich nie getraut.

Der Pferdestricker

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