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Prolog 1
Оглавление23.9.2000
Das Anwesen war viel zu groß für einen Menschen.
Vielleicht, dachte er plötzlich, war das typisch für dieses Land: zu wenige Menschen wohnten in viel zu vielen und zu großen Häusern. Und die Menschen, die solche Häuser hätten bevölkern können, die mochte man in diesem Land nicht. Dann wollte er diesen Gedanken nicht mehr weiterspinnen: Irgendwie verursachte ihm ein solches Denken ein Gefühl des Unwohlseins, manchmal sogar der Angst; der Angst, schon längst zum Fremden geworden zu sein im eigenen Land. Er wusste, dass er selber auch zu den Stammtischstrategen gehörte, die die vielen Ausländer nicht mochten und ständig neue Ideen hatten, was man mit denen anstellen sollte. Und sobald er alleine war, wollte er auch an sein Gerede am Stammtisch nicht mehr denken, verursachte es ebenfalls ein ungutes Gefühl und manchmal sogar die Überzeugung, dafür irgendwann so etwas wie die Quittung zu erhalten.
Dabei gab es für ihn in der Realität schon seit Jahren keine Abende an irgendeinem Stammtisch mehr.
Und doch waren es vor allem die vielen Ausländer gewesen, die sie vor Jahren schon aus dem Süden von Gelsenkirchen geradezu hatten flüchten lassen. Ein riesiges Haus hatten sie dort gehabt für sich selber und mehrere Mietshäuser für andere Leute. Zunächst hatten sie nichts dagegen gehabt, auch ausländische Familien in ihren Häusern wohnen zu lassen: schließlich war man kein Unmensch, und die Leute hatten nett und sauber ausgesehen und fleißig für ihr Geld gearbeitet, und sie hatten oft davon gesprochen, sobald wie möglich wieder in ihre eigenen Länder zurück zu gehen. Aber nur ein paar Jahre später waren sie gezwungen gewesen, fast alle Wohnungen an ausländische Familien zu vermieten oder leer stehen zu lassen, weil diese Leute nicht mehr weggingen, sondern immer mehr von ihnen kamen, und viele von diesen Leute hatten auch nicht mehr nett ausgesehen und fleißig für ihr Geld gearbeitet, weil es die Arbeiten, die sie einst ins Ruhrgebiet gelockt hatten, gar nicht mehr existierten. Und gewollt und immer häufiger auch verlangt hatten sie vor allem nur noch eines: dass man sie gewähren ließ, wenn sie Regeln nicht nur nicht achteten, sondern sogar gezielt verletzten. Für Unruhe hatten sie gesorgt, für ein ungutes Gefühl zunächst, dann für immer schneller steigende Sorgen und Ängste. Und da waren sie kurzerhand weggezogen ins Grüne wie so viele, die es sich irgendwie leisten konnten wegzugehen aus einer Umgebung, die ihnen längst fremd und oft sogar unerträglich geworden war.
Und sie hatten sich diesen ehemaligen Bauernhof in der Nähe von Raesfeld, einem kleinen Ort im Münsterland am Rande des Ruhrgebiets, allemal leisten können. Eigentlich ist es Feigheit vor dem Feind, hatte seine Frau damals gesagt, und sie hatten darüber gelacht. Mittlerweile lachte er darüber schon lange nicht mehr.
Eines Nachmittags waren sie einfach rausgefahren, hatten kurz vor Raesfeld die stark befahrene B224 verlassen und waren nach ein paar Kilometern vor dem damals schon leerstehenden Gehöft gelandet. In the middle of nowhere, das hatte er damals bereits gesagt, die nächste menschliche Behausung war schließlich über einen Kilometer entfernt; aber der Hof hatte ihnen beiden gefallen, war so etwas wie Liebe auf den ersten Blick gewesen, und so hatten sie, ohne lange zu überlegen, das Haus mit einem großen Stück Land gekauft.
Allein der Umbau hatte ein Vermögen gekostet, Geld, das sie aber hatten. Das er auch jetzt noch hatte. Viel mehr, als er in der noch verbleibenden Zeit seines Lebens je würde verbrauchen können.
Das war nicht immer so gewesen: aus einer kleinen Bäckerei hatten sie im Laufe von weniger als zehn Jahren eine ganze Kette von Läden in mehreren Städten des Ruhrgebiets aufgebaut, hatten Tag und Nacht geschuftet, um weitere Filialen zu eröffnen und noch mehr Geld anzuhäufen. Nur hatten sie nie die Zeit gehabt, das viele Geld auch auszugeben.
Und dann war es ihm als eine grauenhafte Absurdität vorgekommen, dass seine Frau nur drei Monate nach Fertigstellung dieses großen Anwesens und dem Umzug aufs Land gestorben war und die einzige Tochter erklärt hatte, sie werde nicht mit ihnen dort wohnen; sie wolle lieber eine Wohnung in Bochum haben, wo sie damals studierte. Mittlerweile hatte sie geheiratet und wohnte in der Nähe von Hamburg. Das einzige Enkelkind, ein mittlerweile fünfjähriges Mädchen, hatte seine Frau nicht mehr gesehen; er selber hatte die Kleine außer bei der Taufe aber auch nur noch vier Mal gesehen. Zumeist hatte die Tochter mit ihrem Mann irgendwelche Bekannte im Ruhrgebiet oder die Familie des Schwiegersohnes besucht, und die beiden hatten nicht mehr als einen kurzen Zwischenstopp bei ihm eingelegt. Obschon seine Tochter ihn bei ihren gelegentlichen Telefonaten schon mehrfach eingeladen hatte, war er nie nach Hamburg gefahren: als mittlerweile Sechsundsiebzigjähriger wollte er nicht mehr seine Tochter und deren Familie besuchen. Er wäre sich vorgekommen wie ein Bittsteller, wie ein zufälliger Bekannter, den man nur deshalb im Haus duldete, weil es die Höflichkeit verbot ihm zu sagen, dass er störte.
Es war Samstag, der 23.9.2000.
Den ganzen Tag hatte die Sonne geschienen, es war ein herrlicher Tag gewesen, vielleicht sogar schon zu warm, ein wenig drückend auf jeden Fall, so dass mit einem Gewitter gerechnet werden musste. Und gerade diese schönen Tage empfand er als besonders unerträglich, weil ihn solche Tage nach seinem Dafürhalten geradezu aufforderten, irgendetwas Sinnvolles zu tun, irgendeine hier und jetzt gegebene Möglichkeit zu nutzen, das Leben eines sehr reichen Mannes einfach zu genießen. Die Tage mit scheußlichem Wetter gaben zumindest Anlass, sich zu ärgern, mit anderen über irgendein Sauwetter zu reden; die schönen Tage machten nur deutlich, dass man mit sich selber nichts mehr anzufangen wusste. Er wusste immer weniger, wie er die Zeit vom Aufstehen bis zum Einschlafen verbringen sollte, eine Zeitspanne, die zudem auch noch immer länger wurde, weil er abends nicht einschlafen konnte und morgens selbst im Sommer zumeist noch vor dem Sonnenaufgang aufstand. Vielleicht, hatte er oft gedacht, war es die schlimmste Geißel des Alters, insgesamt immer müder zu werden, ohne noch schlafen zu können.
Dreimal in der Woche kam eine Frau aus Dorsten, einer Stadt am nördlichen Rand des Ruhrgebiets, und brachte das Haus in Ordnung, kochte für ihn, kaufte ein und erledigte überhaupt alle Besorgungen, um die er sie bat. Alle 14 Tage kam ein junger Mann aus der Nachbarschaft und brachte den Garten in Ordnung. An allen anderen Tagen kam niemand, und es passierte an diesen Tagen sehr häufig, dass er den gesamten, immer unendlicher werdenden Tag lang mit keinem Menschen auch nur ein Wort wechselte. Wieso ziehst du nicht wieder in die Stadt?, hatte ihn die Tochter schon mehrfach gefragt. Oder in unsere Nähe? Und dann hatte er jedes Mal ganz entrüstet geantwortet, dass er sich hier wohlfühle wie die Made im Speck, weil er insgeheim davon überzeugt war, dass sie ihn in irgendein Altersheim stecken wollte. Natürlich in das teuerste und beste, das es gab, aber auf jeden Fall in ein Altersheim. Dort, das wusste er, würde er verrückt werden.
Außerdem hatte sich in den letzten drei Monaten zumindest ein ganz klein Wenig verändert. In den letzten drei Monaten war schon zum wiederholten Mal etwas passiert, das ihn zumindest für eine kurze Zeit seine Langeweile hatte vergessen lassen.
Beim ersten Mal hatte er fürchterliche Angst gehabt. Er hatte seinen Augen nicht getraut und gewusst, dass er den Vorfall eigentlich bei der Polizei hätte melden sollen. Aber bereits nach ein paar Tagen war er froh darüber gewesen, nicht zur Polizei gegangen zu sein, überhaupt mit niemandem über diesen Vorfall gesprochen zu haben. Es war ihm selber so vorgekommen, als habe er nur so sicherstellen können, ganz allein einem unerhörten Geheimnis auf die Spur zu kommen.
Und dann war es tatsächlich wieder passiert. Nur ein oder zwei Wochen später, das wusste er nicht mehr, und plötzlich schoss es ihm durch den Kopf, dass es ein Fehler war, über diese Vorkommnisse nicht genau Buch geführt zu haben.
Die große Stehuhr im Wohnzimmer schlug elf. Für einen Augenblick dachte er daran, das Licht im Wohnzimmer auszuschalten; dann erschien ihm der Zeitpunkt noch viel zu früh. Wenn es heute passieren sollte, würde es noch Stunden dauern, das wusste er.
Schon oft war ihm die ungeheure Ruhe aufgefallen, die hier ringsum herrschte. Vor allem als sie gerade hier eingezogen waren, hatte er es nicht für möglich gehalten, dass es eine solche Ruhe überhaupt gab.
Und gerade diese Ruhe war es gewesen, die ihm Angst bereitet hatte, als es zum zweiten Mal passiert war. Niemand würde seinen Hilferuf hören, wenn ihm etwas zustoßen sollte, das war ihm schlagartig klar gewesen, und er hatte hinter der Gardine gestanden und war davon überzeugt gewesen, dass selbst draußen noch sein Atem und sein schneller Herzschlag zu hören waren.
Zuvor hatte ihm die Abgeschiedenheit des Hofes noch nie Angst bereitet. Schon mehrfach hatte die Tochter ihn gefragt, ob er nicht Angst davor habe, ganz allein dort zu wohnen, und jedes Mal hatte er ihr wahrheitsgemäß gesagt, dass er keine Angst habe. Das Haus war schließlich mit teuren Sicherheitsvorkehrungen und einer aufwendigen Alarmanlage ausgestattet. Er hatte nie Angst gehabt. Bis vor ein paar Wochen. Aber das war eine Angst, die man sich mit Alarmanlagen nicht vom Halse schaffen konnte.
Gegen kurz vor zwölf schaltete er das Licht im Wohnzimmer aus.
Noch als es zum dritten Mal passiert war, es musste vor zwei oder drei Wochen gewesen sein, hatte er nur gewagt, die Szene vom Fenster seines Schlafzimmers im ersten Stock zu beobachten. Nun ging er langsam durch den dunklen Flur und öffnete die Tür zur Tenne, die sie damals umgebaut hatten zu einem viel zu großen Partyraum, in dem noch niemals eine Party stattgefunden hatte. Neben dem großen Tor war ein Fenster, von dem aus man die beste Aussicht auf die kleine Weide hatte.
Als ihm seine fast krampfhaften Bemühungen bewusst wurden, in der Dunkelheit jedes auch noch so geringe Geräusch zu vermeiden, musste er vor sich selber zugeben, was er natürlich schon längst wusste: Er wollte, dass es wieder passierte. Bereits vor ein paar Tagen hatte er sich gesagt, dass er schließlich nicht der Gejagte war: Er war der Jäger. Und je mehr er sich in diese Bildlichkeit verstiegen hatte, desto nachdrücklicher waren alle Reste der Angst einem Gefühl gewichen, das er nun als das bezeichnen konnte, was es war: Jagdfieber.
Bei seinen allabendlichen Streifzügen durch das Haus hatte er den besten Beobachtungsplatz ausgekundschaftet, hatte kaum die Enttäuschung darüber verkraften können, dass es an vielen Tagen hintereinander wieder einmal nicht passiert war. Er war mit dem Wagen bis in die Innenstadt von Essen gefahren, um sich das beste Fernglas zu kaufen, das er finden konnte. Und er hatte begonnen, das, was er tat, um jeden Preis auch vor den wenigen Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung verborgen zu halten. Er war fürchterlich wütend geworden, als seine Haushaltshilfe das Fernglas entdeckt und ihn daraufhin angesprochen hatte. Er brauche das Gerät, um Tiere zu beobachten, hatte er der völlig überraschten Frau äußerst unfreundlich mitgeteilt und schließlich noch hinzugefügt, sie solle sich gefälligst nicht in seine Privatangelegenheiten mischen.
Und dabei hatte er nicht einmal gelogen, dachte er plötzlich und musste kurz lachen: Ich habe mir dieses Fernglas gekauft, um Tiere beobachten zu können.
Das Fenster bot den besten Blick auf den Tatort, aber schon nach wenigen Minuten spürte er wieder die Nachteile, die sein Beobachtungsplatz mit sich brachte: Das Fenster war so hoch, dass man nur im Stehen durch die zudem verdreckte Scheibe sehen konnte. Er hatte in den vergangenen Tagen lange überlegt, ob er das Fenster nicht säubern sollte, aber dann war es ihm jedes Mal als die sicherere Lösung vorgekommen, die Scheibe so verdreckt zu belassen, wie sie war. Auf diese Weise würde er als Beobachter von außen nicht zu entdecken sein.
Das Alter vermindert das Bedürfnis nach Schlaf, nicht aber die Neugierde und die Ungeduld. Das Warten wurde wie immer für ihn eine Tortur.
Er führte sogar eine Art Protokoll, und nur einen halben Tag später hätte die Mordkommission der Recklinghausener Polizei sich zumindest für kurze Zeit der Hoffnung hingeben können, damit den Schlüssel zur Lösung zumindest eines der rund gerechnet fünf bis sechs Morde in der Hand zu haben, die rein statistisch in diesem ziemlich großen Landkreis pro Jahr begangen werden. Aber da war dieser Notizblock verschwunden.
Zunächst hatte er irgendwo im Haus vorhandenes Papier benutzen wollen; dann war er aber doch eines Tages mit dem Wagen nach Dorsten gefahren und hatte in einem Schreibwarenladen einen neuen Notizblock gekauft. Nach langem Hin und Her hatte er sich für 50 Blatt DIN A 6 entschieden.
Nur knapp eine halbe Seite dieses Notizblocks sollte beschrieben werden, bevor es für immer der Chance beraubt war, in der Asservatenkammer der Polizei zu verschwinden:
Es ist jetzt mittlerweile Sonntag, der 24. September 2000, 0 Uhr 30.
Als habe der Schreiber mit dieser kurzen Notiz das jungfräuliche Papier ohnehin ein und für alle Mal entweiht, fügte er hinzu: Es ist schon dreimal passiert, aber ich weiß nicht mehr genau wann. Nun ist es ruhig.
Es kam ihm vor, als sei er stundenlang durch das gesamte Haus gelaufen, um einen Bleistift, Kuli oder Füller zu finden, der auch schrieb. Es musste Hunderte dieser Gegenstände im Haus geben, aber sie schrieben alle nicht.
Um ein Uhr war es dem angefertigten Protokoll nach immer noch ruhig; Das letzte Mal, so wurde hinzugefügt, ist es vor ungefähr zwei oder drei Wochen passiert. Kann mich leider nicht mehr genau erinnern.
Um zwei Uhr war es zum letzten Mal ruhig in dem Notizblock. Um 2 Uhr 14 brachen die Aufzeichnungen ab: Ich gehe jetzt nach draußen. Das ist ja unglaublich!
Das Rufzeichen hinter dem Satz hatte er noch gemacht. Dann hatte er ganz offensichtlich die Tür geöffnet, hinter sich ins Schloss fallen lassen und war nach draußen gelaufen in Richtung der Weide, wo das Pony stand, das er für seine kleine Nichte gekauft hatte, die ihn noch kein einziges Mal besucht hatte. Alle kleinen Mädchen mochten Pferde, hatte er gedacht. Kurz bevor er starb, sah er, wie eine völlig nackte Person von dem Tier rutschte und auf ihn zulief. Für Sekunden nahm er dann noch die Silhouette eines Kindes vor den dichten Brombeersträuchern direkt neben der Weide wahr. Danach nahm er nichts mehr wahr, weil er tot war.
Die Leiche wurde erst gegen 10 Uhr von der Frau entdeckt, die gekommen war, um im Haus für Ordnung zu sorgen. Der Tote lag am Rand der völlig durchnässten Weide. Am frühen Morgen hatte sich ein starkes Gewitter entladen, ein Umstand, der der nur wenig später eintreffenden Polizei die Spurensuche nicht gerade erleichterte.
Der Tod war durch einen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand herbeigeführt worden. Der Täter hatte mit solcher Heftigkeit zugeschlagen, dass der Schädelknochen an der linken Schläfe zertrümmert worden war. Und als habe der Täter ganz sicher sein wollen, musste er das bereits tote Opfer auch noch gewürgt haben. Als Tatzeitpunkt wurde die Zeitspanne zwischen zwei und vier Uhr morgens angegeben.
Die Tür, die in die Tenne führte, war beschädigt worden. Ganz offensichtlich war mit ziemlicher Gewalt sowohl am Schloss als auch an der Tür hantiert worden. Was die untersuchenden Beamten verblüffte, war die Tatsache, dass die Alarmanlage im gesamten Haus ausgeschaltet worden war.
Auf Grund der ersten Untersuchungsergebnisse kam die Polizei somit zwangsläufig zu der Schlussfolgerung, dass ein Unbekannter versucht haben musste, in das Haus einzudringen. Dabei musste diese Person vom Eigentümer überrascht worden sein. Dieser hatte die Alarmanlage des Hauses entweder gar nicht eingeschaltet gehabt oder aber sie eigenhändig ausgeschaltet, um sich dem Eindringling zu stellen und ihm letztlich bis auf die Weide vor dem Haus nachzulaufen. Dort musste ihn der Täter erschlagen haben; denn die Blutspuren auf der Weide sagten eindeutig aus, dass der alte Mann dort gestorben war.
Jede von der Polizei vorsichtig und vorläufig formulierte Antwort warf natürlich auch neue Fragen auf. Warum hatte der Täter sein ihm unterstelltes Vorhaben nach dem Mord nicht zu Ende geführt? Weshalb war er nicht in das Haus eingedrungen und hatte sich genommen, was er haben wollte? Niemand hätte ihn in dieser Einöde mitten in der Nacht daran gehindert. Und es hätte sich auf jeden Fall gelohnt: die untersuchenden Beamten waren geradezu entsetzt darüber, welche Summen alleine an Bargeld aus dem Haus zu entwenden gewesen wären. Aber sie waren eben nicht entwendet worden. Es gab überhaupt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass der Täter trotz der auch noch bei der Ankunft der Beamten halb offen stehenden Tür in das Haus weiter eingedrungen war.
Warum war die Alarmanlage des Hauses nicht eingeschaltet gewesen? Warum war das Opfer dem Täter sogar noch nachgelaufen?
Das Opfer war ein Mann von sechsundsiebzig Jahren. Wenn dieser Mann seine Kräfte nicht maßlos überschätzt hatte, lag der Verdacht nahe, dass er den Täter gekannt hatte. Dass er ihn womöglich sogar erwartet hatte: dafür sprach auch das Ausschalten der Alarmanlage.
Wen also hatte dieser Mann gekannt?
In der näheren Umgebung ließ sich die Liste der in Frage kommenden Personen schnell abarbeiten: Bis auf die Haushaltshilfe und den Jungen, der alle 14 Tage kam, um den riesigen Garten in Ordnung zu halten, kannte den Mann niemand näher. Und natürlich wurden diese beiden Personen und deren Umfeld genau unter die Lupe genommen.
Die Haushaltshilfe hieß Koscinski und wohnte im ungefähr 10 Kilometer entfernten Dorsten. 1988 war sie mit ihrer Familie aus Schlesien in die Bundesrepublik gekommen und hatte alle Klischees über polnische Spätaussiedler bedient: Das Wort Sozialhilfe hatte sie sogar buchstabieren, aber ansonsten kein einziges deutsches Wort sprechen können. Ihr 58jähriger Mann hatte über 45 Jahre in schlesischen Kohlegruben gearbeitet – zumindest hatten das zwei ebenfalls aus Schlesien geflüchtete Kumpel bei der Knappschaft beeidet – und bezog deshalb eine Rente, die weit über dem lag, was ein deutscher Kumpel im Durchschnitt als Altersruhegeld bezog. Ihre zwei Kinder waren inzwischen volljährig: die Tochter arbeitete als Abteilungsleiterin in einem großen Kaufhaus in Essen, war verheiratet und wohnte auch dort; der 21jährige Sohn, der erklärte Liebling der Mutter, studierte Ingenieurswissenschaften in Bochum. Er hatte als Spätaussiedlerkind zwar problemlos eine Bude im Studentenheim in Bochum bekommen, wohnte aber dennoch zumeist bei Muttern.
Mutter selber hatte schon früh die Vorteile des Kapitalismus erkannt und war sich trotz der üppigen Rente des Ehemannes nicht zu schade gewesen, das Familieneinkommen durch diverse nie versteuerte Jobs zu erhöhen. Als sie den in einer Zeitung annoncierten Job bei Schneider tatsächlich bekommen hatte, hatte es ihr zu Beginn den Atem verschlagen. Wenig später hatte ganz Dorsten erfahren, dass sie als Haushälterin bei dem Millionär arbeitete.
Für die Polizei gab es hier Fragen, die mit dem Mord zusammenhingen, schon sehr bald nicht mehr.
Das war bei der anderen ständigen Kontaktperson des Ermordeten allerdings nicht der Fall. Dabei handelte es sich um den einzigen Sohn vom Nachbarhof. Karl, so hieß der arme Kerl, war mehr oder weniger geistig behindert, und setzte somit eine uralte westfälische Tradition fort, der zufolge der Älteste Pastor, der zweite Lehrer, der Dämlichste Arzt und irgendeiner der Spökenkieker werden musste. Da auch im katholischen Münsterland die Antibabypille mittlerweile ihre verheerende Wirkung entfaltet hatte, waren der Pastor, der Lehrer und sogar der Arzt ausgefallen, und nur Karl war zur Welt gekommen. Als geistig Behinderter kam Karl natürlich sofort in das Fadenkreuz der Untersuchungen; dennoch war in diesem Fall nicht einmal einem Gärtner etwas anzuhängen, an dem sogar eine Annette von Droste-Hülshoff ihr Vergnügen gehabt hätte.
Ansonsten war sehr schnell klar, dass das Opfer so offensichtlich gar kein Bedürfnis nach sozialen Kontakten gehabt hatte, dass es bei den Menschen in einer ländlichen Gegend wie dieser aber sehr wohl bekannt war, dass sich dort ein steinreicher Unternehmer in ihrer Mitte niedergelassen hatte. Er wollte zwar niemanden kennen, aber natürlich wusste man, wer er war. Die Zahl möglicher Täter und Motive explodierte.
Denn schließlich war dieser Mann nicht irgendwer.
Konrad Schneider kannte man im Ruhrgebiet. In allen Städten dieser Region trug zumindest jede zweite Bäckerei seinen Namen.
Dieser Mann war zunächst Arbeiter in einem Stahl produzierenden Betrieb in Duisburg gewesen. 1988 war dieser Betrieb geschlossen worden und Schneider war arbeitslos geworden. Damals war er 56 Jahre alt gewesen und somit in dem von der Gewerkschaft erarbeiteten Sozialplan nicht berücksichtigt worden. Mit 57 Jahren hätte er in die Frührente gehen können.
Der Mann war aber nicht in Rente gegangen.
Zum Arbeitsamt auch nicht.
Mit der nicht unerheblichen Abfindung, die ihm auf Grund seiner mehr als 35 Jahre Arbeit in diesem Betrieb gezahlt worden waren, hatte er sich einen Kindheitstraum verwirklicht: Er hatte immer schon Bäcker werden wollen.
Bei der Verwirklichung dieses Traumes war er sehr schnell an die Grenzen seiner Träume gekommen: In Deutschland gab es schließlich eine völlig überflüssige Handwerksordnung, und selbst wenn man nur kleine Brötchen backen wollte, brauchte man dafür einen Meisterbrief. Da er nicht im Besitz eines solchen war, hatte Schneider schnell einen Kompagnon gefunden, mit dessen Meisterbrief der erste Laden eröffnet werden konnte. Diesen Mann hatte Schneider finanziell über den Tisch gezogen, ein Verhalten, das er beim Aufbau seines Backimperiums ganz offensichtlich nicht zum letzten Mal gezeigt hatte. Sein Weg zum Millionär war gepflastert mit vielen Bankrotteuren, die Schneiders gnadenloses Geschäftsgebaren ruiniert hatte. Feinde, das war der Polizei sehr schnell klar, hatte dieser Mann mehr als genug gehabt, und so war es mehr als verständlich, dass sich die Untersuchungen schließlich vor allem auf das geschäftliche Umfeld des Opfers konzentrierten.
Von Erfolg waren diese Bemühungen allerdings allesamt nicht gekrönt. Und hatte der Mord zunächst auch überregional für Aufsehen gesorgt, so war das öffentliche Interesse daran auch schnell wieder verflogen.
Fast anderthalb Jahre nach dem Mord sorgte der Fall noch einmal für landesweites Aufsehen, wurde er doch in der Fernsehsendung „Aktenzeichen XY“ behandelt. Die Polizei war inzwischen davon überzeugt, dass der Mörder im geschäftlichen Umfeld des Opfers zu suchen war, und fragte deshalb nach dem Verbleib einer Person, die ebenfalls von dem Opfer um die Existenz gebracht worden und mittlerweile von der Bildfläche verschwunden war.
Zunächst war man bei der Mordkommission in Recklinghausen optimistisch, weil die Zahl der eingegangenen Hinweise außergewöhnlich hoch war. Aber schon bald wurde deutlich, dass keiner dieser Hinweise etwas brachte und schon gar nicht das war, was man eine heiße Spur nannte.
In den folgenden Jahren nahm nicht nur das Interesse der Öffentlichkeit rapide ab. Ein Beamter nach dem anderen wurde zur Bearbeitung anderer Fälle aus dem Untersuchungsteam abgezogen, und spätestens zu Beginn des Jahres 2003 drohte der Fall Schneider zu dem zu werden, was man einen cold case nannte: ein Fall, den man nicht lösen konnte und deshalb schon ad acta gelegt hatte.
Das große Anwesen war mittlerweile längst verkauft worden. Es hatte einen Preis erzielt, der die einzige Erbin, die Tochter des Ermordeten, wütend machte, lag dieser Preis doch nur geringfügig über dem, den der Vater vor sieben Jahren für einen ziemlich heruntergekommenen Bauernhof irgendwo in the middle of nowhere gezahlt hatte. Im gesamten Ruhrgebiet waren die Immobilienpreise im Keller: In allen Städten verzeichnete man hohe Abwanderungsquoten, weil man das Sterben der ursprünglichen Industrien Kohle und Stahl und den Aufbau neuer Strukturen viel zu lang hinausgezögert hatte.
Blieb noch ein kleines Problem: das weiße Pony.
Die Haushaltshilfe des Ermordeten erklärte sich auf Bitten der Tochter des Opfers bereit, eine Annonce in die Zeitung zu setzen. Der Tochter war es völlig gleichgültig, ob mit diesem Tier noch irgendein Gewinn zu erzielen war.
Der Haushaltshilfe nicht.
Zum Ende des Jahres 2000 gab es für lebende Ponys ganz offensichtlich keinen Markt; den höchsten Preis zahlte nämlich schließlich ein Schlachter.
Irgendjemand kam dem Schlachter aber zuvor und schnitt dem alleine auf weiter Flur grasenden Pony eines Nachts kurzerhand die Kehle durch. Am Morgen lag das Tier mit sauber durchtrenntem und ausgeblutetem Hals auf dem Rasen. Ein einsamer Spaziergänger hatte es gefunden.
Zunächst hatte sich dieses Ereignis aufgrund der nach kurzer Zeit bereits in der gesamten Umgebung kolportierten Berichte der herbeigeeilten Polizeibeamten wie eine Sensation angehört; bereits am nächsten Tag war es in der polizeilichen Routine herabgestuft worden auf das, was es rein juristisch war: Sachbeschädigung.
Im September 2000 hatte die Kripo von Essen viel Wichtigeres zu tun: Am Morgen des 3. September hatte eine allein erziehende Mutter aus dem Stadtteil Stoppenberg im Essener Norden bei der dortigen Polizei eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Ihre fünfjährige Tochter hatte morgens nicht in ihrem Kinderbett gelegen. Ihre eigenen Recherchen bei Verwandten und Bekannten hatten allesamt das gleiche Ergebnis gebracht: das Kind war verschwunden.
Rein statistisch werden in der Bundesrepublik jedes Jahr fast 40000 Kinder als vermisst gemeldet. Die meisten dieser Kinder tauchen Gottseidank schnell wieder auf; aber eben nicht alle: Fast 1000 Kinder gelten nach Angaben des Bundeskriminalamtes als dauervermisst.
Mit jedem Tag, der nach dem Verschwinden verstreicht, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit von zwei grauenhaften Szenarien: zum einen, dass das Kind nie mehr auftaucht, zum anderen, dass es Opfer einer Sexualstraftat geworden ist.