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Prolog 4

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21.6.2006

Es gab Leute, die behaupteten, Uli Kubitzki sei nicht nur schwul, der Typ habe das Schwulsein erfunden. Und besagter Uli Kubitzki nahm solche Bemerkungen nicht nur nicht übel, sondern empfand sie fast schon wie eine Art Belobigung für eine Art von Lebensführung, zu der es für ihn niemals eine wirkliche Alternative gegeben hatte. Das Wort tuntig empfand er somit auch keineswegs als Beleidigung seines Auftretens, sondern als völlig adäquate Bezeichnung dafür.

Sein Arbeitgeber, die Innenstadtfiliale einer großen Bank, sah das alles nicht ganz so locker. Mehrfach hatten Kunden nachgefragt, was denn das für ein komischer Vogel sei, der sie da bedient hatte. Niemand war dabei diskriminierend oder böse geworden; alle hatten sie lediglich über irgendein exaltiertes Verhalten des Bankangestellten lachen müssen, und dann war Uli Kubitzki aus der Kundenbetreuung zur Aktenverwaltung in ein Hinterzimmer versetzt worden. Da Uli Kubitzki zudem aus Wuppertal kam, hatte sein Auftreten in einschlägigen Kreisen schon längst zu einer Art Kosenamen geführt: Ulla de Wuppertal. Und bereits nach wenigen Wochen hatte dieser Name für ihn selber den Status eines Spitznamens oder Pseudonyms verloren: er nannte sich ganz einfach nur noch so.

Auf möglichst ausgedehnten Kontakt mit den einschlägigen Kreisen legte Ulla den allergrößten Wert. Obschon er nicht schlecht verdiente, war seine Behausung eher bescheiden und die Einrichtung mit dem Wort spartanisch noch wohlwollend beschrieben. Er konnte zwar auch im Internet stundenlang seinen Wünschen und Träumen nachhängen, aber wirklich interessant war eine virtuelle Welt für ihn nicht; dort konnte man den Appetit anregen, gegessen wurde woanders. Er brauchte ganz einfach den direkten Zugang zur Realität, und deshalb ging ein großer Teil seines Gehaltes drauf für zumeist mehr als extravagante Kleidung, für Püderchen. Kremchen und Düftchen und die fast täglichen Besuche irgendwelcher Schwulenkneipen in allen möglichen Städten des Ruhrgebiets, in Düsseldorf oder in Köln. Eine Zeit lang hatte er allen Ernstes geglaubt, irgendwann einmal seine finanzielle Situation verbessern zu können durch die Herausgabe eines Schwulenführers durch den Großraum Rhein-Ruhr oder die Erstellung einer solchen Website im Internet; aber davon war er inzwischen wieder abgekommen, weil er ehrlicherweise in der Einleitung schon hätte schreiben müssen, dass ein Besuch dieser Etablissements sich fast nie lohnte: Man konnte hinfahren, wohin man wollte, man traf immer die gleichen Leute mit immer den gleichen Wünschen, Träumen und zynischen Abwehrmechanismen, und die wenigen Typen, deretwegen man sich eigentlich auf die Suche gemacht hatte, bekam man ohnehin nicht.

Und er machte sich fast jeden Abend auf, um einen Mann zu finden, auf dessen Typ ihm die unzähligen Websites im Internet jeden Tag mehr Appetit machten. Als Tunte konnte er natürlich nichts gegen Tunten haben, aber sexuell interessierten die ihn überhaupt nicht. Er liebte die maximale Differenz, die richtigen Kerle, die tough guys. Nur schien bei denen die Nachfrage nach Tunten äußerst begrenzt. Lediglich ein paar türkische Kerle hatten ihm bei seinen regelmäßigen Cruisings auf dem Kölner Hauptbahnhof schon mal gezeigt, wo der Hammer hing. Aber da war immer der fade Nachgeschmack gewesen, dass die Kerle aus Gründen, die wohl mit ihrer Kultur zusammenhingen, notgeil gewesen waren, sich mit ihm einen Spaß erlaubt hatten und die gleiche Übung auch an sonst was praktiziert hätten, wenn es nur lebendig war, man es degradieren und sich daran als Mann beweisen konnte. Er war zwar ein Paradiesvogel, auch hatte er aus reiner Wissbegierde schon einige Male Websites zum Thema bestiality besucht, aber diesbezüglich war der Lustgewinn jedes Mal ein sehr überschaubarer gewesen. Für die Gestaltung des eigenen Liebeslebens kam so etwas eher nicht in Frage. Weder als Täter noch als Opfer.

Und dann hatte sich von einer Sekunde auf die andere alles geändert. Er wäre alles geworden, Ziege, Esel, Huhn oder auch nur ein Stück blutige Schweineleber mit einem Schlitz drin, einfach alles, nur um in die Nähe dieses Kerls zu kommen.

Es war an einem Freitagabend in Dortmund gewesen. Dort war ein echter Kerl gewesen, bei dem ihm augenblicklich eines aufgefallen war: Der hatte endlich mal nicht sofort weggeschaut, sondern hatte zunächst sekunden-, wenig später sogar minutenlang seinem inquisitorischen Blick standgehalten. Sie waren schließlich ins Gespräch gekommen und wenig später hatte er den Kerl sogar mit in seine spartanisch eingerichtete Behausung in Wuppertal genommen. Es war spät am Abend gewesen und dennoch hatte er plötzlich eine riesige Lust verspürt, seine gesamte ihm gegenüber oft sehr reserviert auftretende Nachbarschaft auf sich aufmerksam zu machen: Seht her, solch einen Typen kann ich abschleppen!

Jonas hieß der Kerl, und obschon Ulla nicht sonderlich bibelfest war, wusste er, dass es dort irgend so eine komische Geschichte mit einem Walfisch gab.

Es sollte aber noch viel biblischer werden; denn irgendwann fing dieser Kerl an zu erzählen, dass er nur eine Art Vorprogramm sei für eine Show, in deren Genuss Ulla auch noch kommen könne, wenn er nur wollte. Und auch das weckte bei Ulla irgendwelche nebulösen Erinnerungsfetzen aus zehn Jahren katholischem Religionsunterricht; da hatte doch auch mal jemand gesagt, er selber sei zwar schon eine heiße Nummer, aber es werde jemand kommen, dem traue er sich nicht einmal die Hose aufzumachen. So oder zumindest so ähnlich.

Zum ersten Mal dämmerte dann in dieser Nacht bei Ulla die Erkenntnis, dass das sexuelle Verlangen schon seit Jahrmillionen nie etwas anderes als eine virtuelle Welt im Kopf jedes Einzelnen war; und solang sie dort blieb, war sie grenzenlos, machte vor gar nichts halt. Ihre Umsetzung in der realen Welt allerdings fand die Grenzen spätestens dort, wo der Körper des Menschen an seine Grenzen kam, weil er zum Beispiel den ihm zugefügten Schmerz nicht mehr als sexuelle Stimulation empfinden konnte, sondern als elementare Bedrohung und ihn ganz einfach nicht mehr aushielt.

Und dieser Jonas ließ ihn diese Grenze ganz schnell erreichen, scherte sich um seine Einwände überhaupt nicht und verstand es vor allem, sich über Stunden auf dem schmalen Grad zwischen dem Auslösen schier grenzenloser Lust und dem Zufügen von nicht mehr zu ertragendem Schmerz zu bewegen. Dass er dabei immer geiler wurde, machte Ulla ab und zu sogar Angst; denn wenn es in der Sado-Maso-Szene eine wichtige Spielregel gab, dann war es die, die Grenze zwischen Ritual und Realität immer im Auge behalten zu müssen, weil es ansonsten auch mal ganz schön schief laufen konnte.

Als dieser Jonas seine aufgestaute Geilheit nach fast drei Stunden und wie Ulla meinte geradezu literweise in seinen Mund entleert hatte, war ganz offensichtlich dessen Interesse an Ulla mit einem Schlag erloschen. Als Mensch hatte er ihn natürlich ohnehin nicht interessiert; das kannte Ulla von seinen Kontakten mit echten Kerlen schließlich zur Genüge. Endgültig war Ulla aber erst davon überzeugt, als er noch zwischen den weit gespreizten Oberschenkeln des Fremden auf dem Boden hockte, der langsam den Reißverschluss seiner Jeans nach oben zog und wie beiläufig und doch laut und vernehmlich sagte: „Beim nächsten Mal mache ich dich tot.“

Es kam so gut wie nie vor, dass es Ulla die Sprache verschlagen hatte; aber in dem Augenblick war es so, er wagte nicht einmal mehr nachzufragen, ob er sich eventuell verhört habe, und das nachfolgende Schweigen wurde fast peinlich. Erst nach ein paar Minuten schien der Fremde plötzlich wieder bei der Sache zu sein. „Hat’s dir gefallen?“, wollte er wissen.

„Na klar.“

„Lässt du es dir oft so machen?“

„Nicht oft.“

„Warum denn nicht? Du brauchst das doch.“

„Weil man kaum jemanden findet, von dem man es sich machen lassen will.“

„Und du meinst, ich könnte das?“

„Allerdings.“

Und dann lachte der Fremde plötzlich los. „Ich bin doch noch gar nichts. Soll ich dir mal jemanden zeigen, der es sogar mir machen könnte?“ Und noch bevor Ulla irgend etwas antworten konnte, hatte der andere ihm bereits ein Foto über den Tisch zugeschoben.

Es zeigte einen Riesen von einem Kerl auf einem Pferd, von dem Ulla nur hoffen konnte, dass auch dieses Tier es sich genau wie er gerne machen ließ; denn ansonsten würde das kleine Pferdchen nicht viel Gefallen finden an der Masse Kerl, die da auf seinem Rücken saß. „Geil“, sagte er sofort. „Echt saugeil.“

„Was ist saugeil?“

„Na der Typ.“

„Findest du?“

Das fand Ulla allerdings.

Und von diesem Augenblick an wusste er kaum noch zu sagen, wie er alles das finden sollte, was ihm sein nächtlicher Besuch anschließend zu verstehen gab. Dieser saugeile Typ sei ein Bekannter von ihm, und er habe sich mit dem einen kleinen Scherz erlaubt. Er habe diesem Kerl etwas entwendet, das der unbedingt wiederhaben wolle; der sei bereit, so ziemlich alles zu tun, nur um diesen Gegenstand wieder in seinen Besitz zu bekommen.

Ulla verstand gar nichts, bemerkte aber sehr wohl, dass sein Gegenüber auf Rückfragen mehr als ärgerlich reagierte. Ihm war und blieb die ganze Sache seltsam, geradezu absurd, er wollte damit spontan nichts zu tun haben, aber die immer ungehaltener werdenden Reaktionen des anderen schüchterten ihn zusehends ein. Dass es sich dabei doch wohl um keine krummen Dinger handele wie Rauschgift oder ähnliches, wagte er zumindest noch nachzufragen, und dann war sein Gegenüber regelrecht empört: Natürlich nicht, mit so etwas habe er überhaupt nichts zu tun. Es sei nicht mehr als ein Spaß, mit dem er diesen geilen Kerl ein wenig aufziehen wolle.

Der Spaß war Ulla zu diesem Zeitpunkt schon längst vergangen.

Seinem Gegenüber ganz offensichtlich nicht.

Deshalb sage er es ihm nun zum letzten Mal: Er solle diesem geilen Kerl etwas zurückgeben, das der sich mehr wünsche als sonst etwas auf der Welt und für dessen Rückgabe der so ziemlich alles zu tun bereit sei. Ulla könne sich noch aussuchen, welchen Wunsch ihm dieser tough guy ohne mit der Wimper zu zucken erfüllen werde. Anschließend machte er sogar noch ein paar Vorschläge, und obschon Ulla alles andere als prüde war, sah er sich schließlich doch gezwungen, der Flut sexueller Phantasie Einhalt zu gebieten und sich zumindest pro forma für etwas eher Traditionelles zu entscheiden. Zum einen wollte er ein eventuelles Treffen mit dieser affengeilen Schnitte auf dem Bild im Gegensatz zu dem bedauernswerten Pferdchen zumindest überleben; dass das armselige Vieh das nicht getan hatte, davon hatte Jonas’ Bericht ihn wortreich informiert. Vor allem aber wollte er diesen verrückten Typen in seiner Wohnung endlich loswerden.

Es wurde bereits hell, als Ulla den Besuch an der Tür verabschiedete; dass dieser Jonas wiederkommen sollte, so oft er wollte, das sagte er und meinte es auch genau so; die ganze Sache mit dem geilen Kerl sollte Jonas so schnell wie möglich vergessen, das hoffte er und sagte es aber nicht.

Nur drei Tage später tauchte Jonas bereits wieder auf.

Der Treffpunkt und der Zeitpunkt lösten zunächst allerdings Betroffenheit aus: der morgige Abend und eine Autobahntoilette irgendwo an der A3 in Richtung Niederlande um Mitternacht. Ulla hatte zwar in seinem bisherigen Leben schon so ziemlich alles ausprobiert, was sich unter schwuler Subkultur zusammenfassen ließ, aber bis auf gelegentliche Abenteuer im Düsseldorfer Hofgarten hatte er anonyme Treffen an irgendwelchen finsteren Plätzen eigentlich immer gemieden. Nicht weil er sie nicht spannend fand; er hatte ganz einfach Angst davor.

Dass dazu nicht der geringste Anlass bestehe, ließ Jonas ihn wissen. Selbstverständlich bringe er Ulla dorthin und werde auch selber auf dem Rastplatz anwesend sein. Sonst könne er die Sache schließlich nicht kontrollieren und vor allem selber nicht tun, was er vorhabe.

Dass Ulla letztlich zustimmte, hatte nur einen Grund: Irgendwann hatte er einfach nicht mehr gewagt, diesem Jonas zu widersprechen. Dieser Mann machte mit ihm, was er wollte und duldete dabei keinen Widerspruch, es war ihm schließlich selber so vorgekommen, als folge sein Leben plötzlich einer Dramaturgie, die sich um die Einwände eines normal denkenden Menschen keinen Deut mehr scherte.

Nur die Tatsache, dass Jonas ihn dann noch wissen ließ, sein Bekannter – stockhetero sei der übrigens - habe seinem sexuellen Wunsch als Gegenleistung für die Rückgabe eines Gegenstandes sofort zugestimmt, bekam er dann doch noch mit, und für einen Augenblick glaubte er, dass er sich überhaupt völlig zu Unrecht Gedanken machte. Wahrscheinlich war das eine völlig abgefahrene Wette, versuchte er sich einzureden, es werde sich alles auflösen als zwar ziemlich abgefahrener und derber, letztlich aber ganz harmloser Scherz, über den man am Schluss gemeinsam lachen würde.

Sein Bekannter, fügte Jonas dann noch hinzu, stehe darauf, seinen Schwanz in jeden Mund zu stecken, und sei es der eines Schweins, wenn das Vieh es ihm nur gut besorge.

Mit dieser Bemerkung wusste Ulla dann endgültig nichts mehr anzufangen. Auf keinen Fall bestärkte sie das kleine Bisschen Zuversicht, das er sich gerade erst eingeredet hatte.

Der Rastplatz Helderloh an der A3 in Fahrtrichtung Emmerich mit einem Toilettengebäude, bei dessen Anblick sowohl Männchen als auch Weibchen sich nach kurzer Inspektion in aller Regel lieber in die dichten Büsche verdrücken, als sich dort irgendeine Seuche zu holen, ist in der Tat ein wenn auch nicht gerade stark frequentierter Schwulentreff für anonymen Sex. Nur wenig später sollte dieser eigentlich unbedeutende Sachverhalt aufgrund weiterer Indizien ein erster wichtiger Hinweis sein für die Spurensicherung der Mordkommission des Kreises Wesel.

Der Rest sah aus wie etwas, das nach Einbruch der Dunkelheit nicht nur auf deutschen Autobahnrastplätzen nicht selten passiert und niemanden wirklich interessiert.

Die Befriedigung sexueller Bedürfnisse hat für die meisten Menschen alles Verbotene, Okkulte, erst recht Heilige, verloren. Ob das gut oder schlecht ist, darüber lässt sich womöglich immer noch streiten; aber dass sexuell befriedigte Menschen die ausgeglicheneren Exemplare ihrer Spezies sind als die unbefriedigten und im Geiste sublimierten, darüber dürfte inzwischen allerdings Einigkeit bestehen.

Der riesige Kerl, der kurz zuvor in einem Golf mit zugeklebten Autokennzeichen auf die hinter dem Toilettengebäude verlaufende Fahrspur geparkt hatte, machte von Beginn an nicht den Eindruck, als bereite es ihm irgendwelche Probleme, seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen; lediglich an einem solchen Ort hatte man einen solchen Typen nicht unbedingt erwartet. Ein solcher Kerl, so hätte ein eventueller unbefangener Beobachter der folgenden Szenen vermuten müssen, hatte doch eigentlich alle Chancen der Welt. Ganz gleich, ob bei Männchen oder Weibchen.

Einen Augenblick lang blieb der große Kerl bei eingeschaltetem Standlicht noch in seinem Wagen sitzen; erst als sich aus den dichten Sträuchern schon fast an der Ausfahrt des Rastplatzes eine schmächtige Figur löste und langsam auf den dunkelblauen Golf zukam, schaltete der Mann noch einmal das volle Licht seines Wagens ein, so dass die schmächtige Figur im grellen Scheinwerferlicht ganz offensichtlich geblendet wurde und zum Schutz der Augen den linken Arm vor sein Gesicht hielt. Der Mann im dunkelblauen Golf schaltete das Licht seines Wagens nun vollständig aus und öffnete langsam die Fahrertür.

Erst nun wurde deutlich, wie groß der Mann aus dem dunkelblauen Golf tatsächlich war; er musste an die zwei Meter messen. Und noch deutlicher wurde die Größe seines Körpers im Vergleich zu der schmächtigen und sich unsicher, fast linkisch bewegenden Figur des anderen Mannes, der nicht einmal die Hälfte an Masse und Gewicht auf die Waage bringen konnte.

Der große Kerl trat auf wie jemand, der sich seiner Sache auf jeden Fall sicher sein konnte, als habe er die andere Figur schon längst als ihm hilflos unterlegenen Menschen in seinem Kopf abgespeichert und könne allem, was auch geschehen sollte, mit großer Gelassenheit entgegensehen. Als sich die beiden Männer gegenüberstanden, konnte nicht viel mehr Zeit vergangenen sein, als die Äußerung des Satzes: Bringen wir es hinter uns! benötigt, bis der große Kerl die rechte Tür seines dunkelblauen Golf öffnete, sich langsam in den Beifahrersitz fallen ließ und seine langen Beine das einzige waren, das außerhalb des Autos von ihm noch zu sehen war.

Es fing nun an zu regnen, und das musste für den großen Kerl einfach ärgerlich sein; seine langen Beine wurden nass.

Ansonsten schien er sich seiner selbst völlig sicher, und dass er nun nervös nach rechts und links schaute, das hatte ganz andere Gründe. Er hatte schließlich nicht gewollt, was nun folgen musste; da es aber anscheinend unvermeidlich war, wollte er es so schnell wie möglich hinter sich bringen. Nur Zeugen wollte er dafür keine haben. Er würde alles tun, um zu vermeiden, dass jemand mitbekam, was er nun tun würde. Er hatte sogar vor seiner Ankunft in Erfahrung gebracht, dass es hier auch keinerlei Videoüberwachung gab. Noch einmal sah er sich um. Auf dem dunklen Rastplatz war nichts und niemand zu sehen, und nur ab und zu fuhr auf der Autobahn hinter ihm ein Auto mit zumeist hoher Geschwindigkeit in nördliche Richtung.

Er ließ die Tunte auf dem mittlerweile nassen Asphalt zwischen seinen Oberschenkeln auf die Knie gehen und öffnete mit der linken Hand den Reißverschluss seiner Jeans. Dann fasste er mit der rechten Hand den Kopf des anderen Mannes und zog ihn zu sich hin, gerade so als möge er den, der da im immer stärker werdenden Regen vor ihm auf dem Asphalt kniete.

Er mochte ihn aber nicht, er hasste ihn sogar und schloss schließlich die Augen, weil er nicht sehen wollte, wie der andere mit der Zunge unter seine Eichel ging, sie mit seinen Lippen umschloss und sein Schwanz in der feuchten Wärme hart werden sollte, als gehöre er nicht zu dem Körper eines Menschen, der voller Hass steckte, sondern führe ein Eigenleben.

Der riesige Kerl kannte das Spielchen ganz offensichtlich: Mit beiden Händen fasste er schließlich den Kopf, in dessen Mund er steckte, und presste ihn noch fester gegen seinen Körper und zwischen seine Oberschenkel und schob seinen mittlerweile prallen Kolben rücksichtslos tiefer in die würgende Öffnung, weil er hinter sich bringen wollte, was von ihm verlangt wurde, und das nur möglich war, wenn man über das, was man da machte, einfach nicht mehr nachdachte. Wenn man das vergessen, den Kopf abschalten konnte, der immer sagen wollte, was man tat und was man eben nicht tat, dann war da nur noch der Schwanz, der geleckt werden wollte, ganz egal in wessen Mund er steckte. Und von einem bestimmten Punkt an war es dann ohnehin ganz gleichgültig, ob der in einer feuchten Fotze, einem Mund oder sonst was steckte. Man wollte und von einem bestimmten Punkt an musste man es nur noch hinter sich bringen, und als der riesige Kerl daran dachte, völlig nackt auf dem bloßen Rücken des kleinen Pferdes durch ein von nichts und niemandem bewohntes Gebiet zu reiten, explodierte sein Schwanz endgültig in den Mund vor ihm.

Und mit dem Orgasmus war dann wie immer augenblicklich doch so etwas wie das schlechte Gewissen auch bei ihm wieder zur Stelle: Das hätte nicht passieren dürfen, das war selbstverständlich nur Mittel zu irgendeinem wichtigen Zweck, und vor allem durfte davon niemand etwas erfahren.

Man musste kein religiöser Mensch sein, um so zu denken und sich gleichzeitig über sich selber zu ärgern. Das war eben passiert, sagte man sich dann, es hatte niemandem geschadet, ganz im Gegenteil, irgendwie hatte es doch Spaß gemacht. Wozu also diese Selbstvorwürfe?

Nur dass es niemand erfahren durfte, das blieb immer. Das war in seine Festplatte eingebrannt, seit seinem ersten sexuellen Erlebnis mit einem anderen Menschen überhaupt.

Der große Kerl war das, was man als stockhetero bezeichnen konnte, und dass sein erster sexueller Kontakt mit einem anderen Menschen mit einem Mann passiert war, das durfte niemand wissen. Dabei war ihm auch immer wieder klar, dass eigentlich gar nichts passiert war, sondern dass er es damals darauf angelegt hatte. Es hatten ihn auch noch nie irgendwelche Zahlen beruhigen können, die eindeutig belegten, dass bei vielen Jungen der erste sexuelle Kontakt mit einem anderen Jungen stattfindet. Von ihm durfte das niemand wissen. Und von Beginn an hätte er auch sagen können, weshalb nicht, was genau seine Situation von den Hunderttausenden oder gar Millionen aus irgendwelchen Statistiken unterschied: Dieser Lehnert hatte damals nie einen Hehl daraus gemacht, dass er ihn abgöttisch liebte, und damit hatte alles, was sie hätten tun können, bis auf diese eine Ausnahme aber eben nicht getan hatten, immer schon eine ganz andere Qualität gehabt als irgendwelche Spielchen anderer Pubertierender, die sich gegenseitig in den Schritt fassten oder zusammen onanierten oder sonst was veranstalteten.

Mittlerweile glaubte der riesige Kerl, alleine die Erwähnung des Namens Lehnert könne bei ihm einen augenblicklichen Brechreiz hervorrufen: Von diesem Kerl hatte er sich vor über zehn Jahren bedienen lassen, dass ihm fast die Ohren abgefallen waren. Und damit war dieser Kerl heute und für alle Zeit eben ein schwules Schwein, so wie alle Schwulen Schweine waren. Natürlich sagte man so etwas nicht, weil man ja tolerant sein musste, aber er selber hatte damals doch noch nicht einmal geahnt, dass man seinen Schwanz sogar in einen Mund stecken konnte.

Daran dachte der große Kerl auch, als er sah, wie die Tunte vor ihm sich langsam auf dem nassen Asphalt aufrichtete und er selber aus dem Wagen stieg und die Beifahrertür ins Schloss fallen ließ. Eine Zeit lang schienen die beiden Männer einander ziemlich unschlüssig gegenüber zu stehen, die Tunte ging zu einem Gebüsch, kramte dort irgendetwas hervor und überreichte es dem Kerl, der es sofort öffnete. Für einen eventuellen Beobachter der Szene lief das Geschehen dann urplötzlich völlig aus dem Ruder.

Dass hier irgendetwas völlig aus dem Ruder gelaufen war, das war auch der erste Eindruck der Beamten der Mordkommission Wesel, die nur knapp eine dreiviertel Stunde später am Ort des Geschehens waren und versuchten, zu rekonstruieren, was eigentlich auf diesem Rastplatz an der Autobahn 3 genau passiert war. Äußerst hilfreich waren ihnen dabei zwei jungen Frauen aus Polen, die aufgrund des beobachteten Geschehens allerdings unter Schock standen, so dass sich ihre Vernehmung recht schwierig gestaltete.

Die beiden jungen Frauen waren Lehrerinnen für Deutsch an einem polnischen Gymnasium, so dass sich das Herbeiziehen eines Dolmetschers eigentlich erübrigt hätte, aufgrund der Verfassung der beiden Frauen aber wenig später als doch hilfreich angesehen wurde. Die jungen Frauen hatten in Tübingen an einem Fortbildungsseminar teilgenommen und hatten sich an diesem Tag vorgenommen, einen Tag des Seminars zu schwänzen, um sich einen lang gehegten Wunsch erfüllen zu können. Mit ihrem schon recht betagten Pkw waren die beiden morgens von Tübingen aufgebrochen, um nach Amsterdam zu fahren, dort einen Tag zu verbringen und am nächsten Tag zurückzukehren. Irgendwie hatten sie die Entfernung unterschätzt oder die Leistungsfähigkeit ihres Wagens überschätzt, zudem hatten sie irgendwo rings um Frankfurt in einem endlosen Stau gestanden. Auf jeden Fall war ihnen kurz nach dem Oberhausener Kreuz klar geworden, dass sie es an diesem Tag nicht bis Amsterdam schaffen würden und sie sich einen geeigneten Platz zum Übernachten im Wagen suchen mussten. Zunächst hatten sie die Raststätte Hünxe angesteuert, aber schnell war ihnen dieser übervolle und stark frequentierte Ort als wenig geeignet erschienen. Zwei in einem Pkw schlafende Frauen mussten auf dem riesigen und hell erleuchteten Parkplatz dort einfach auffallen, und sie wussten nicht einmal, ob es in Deutschland überhaupt erlaubt war, die Nacht auf einem Rastplatz im Pkw zu verbringen. Also waren sie weitergefahren. Die nächsten Rastplätze ohne jede Beleuchtung waren ihnen suspekt vorgekommen und sie hatten sich davor gefürchtet, dort auch nur anzuhalten. Der Rastplatz Helderloh hatte dann genau ihren Vorstellungen entsprochen: Es war dort keine Menschenseele gewesen und wegen des erleuchteten Toilettengebäudes hatten sie ihre Angst zumindest zurückdrängen können. Außerdem, so gaben die beiden Frauen zu Protokoll, sei es bereits kurz vor halb zwölf gewesen, als sie dort ankamen, und sie seien ganz einfach am Ende ihrer Kräfte gewesen.

Es habe zu dieser Zeit, jedenfalls soweit sie dies hätten überblicken können, kein einziges Auto auf dem Gelände des Parkplatzes gestanden. Sie selber hätten ihren Wagen am Anfang des Platzes von der Straße gefahren und halb hinter einem Gebüsch versteckt, weil sie neben ihrer wohl verständlichen Angst auch die Befürchtung gehabt hätten, die deutsche Polizei könne sie entdecken und sonst was mit ihnen anstellen. Obschon auch in der folgenden halben Stunde nicht ein einziger Wagen auf den Platz gefahren sei, hätten sie vor lauter Angst kein Auge zutun können, dann sogar in Erwägung gezogen, doch noch weiterzufahren, um in irgendeiner Ortschaft in der Umgebung zu übernachten.

Und dann sei ein Pkw auf den Platz gefahren, die beiden Frauen wussten sogar bestimmt, dass der dunkelmetallicblaue Pkw ein ziemlich neuer VW-Golf gewesen war. Der sei fast bis zum anderen Ende des Rastplatzes gefahren und habe dort angehalten. Nein, das Kennzeichen hätten sie nicht erkennen können, weil man es gar nicht hatte erkennen können. Es sei nämlich ganz offensichtlich mit irgendwelchen Klebestreifen unkenntlich gemacht worden. Die vernehmenden Beamten fragten mehrfach nach, aber die beiden Frauen blieben dabei: Es habe sich um ein weißes, also wahrscheinlich deutsches, Kennzeichen gehandelt, das aber durch schwarze Querstreifen nicht zu lesen gewesen sei.

Dann sei plötzlich wie aus dem Nichts ein Mann aus dem Gebüsch gekommen und sei auf das parkende Auto zugegangen. Sie hatten den Mann nicht wirklich erkennen können, aber dieser Mann sei das spätere Opfer gewesen. Aus dem Golf sei ein Mann ausgestiegen, wesentlich größer als das Opfer, und die beiden hätten sich kurz unterhalten.

Die Beschreibung dessen, was dann passiert war, fiel den beiden polnischen Frauen nicht leicht. Es sei zwischen den beiden Männern keine hundert Meter vor ihnen dann ganz offensichtlich zu sexuellen Handlungen gekommen. Es bedurfte viel Einfühlungsvermögens einer Beamtin und der Dolmetscherin, um die beiden Frauen ihre Beobachtungen und Vermutungen schließlich auf den Punkt bringen zu lassen: Ganz offensichtlich habe das spätere Opfer den Mann in dem Golf oral befriedigt. Als das Opfer dem anderen Mann etwas überreicht habe, sei es wenig später zu einem heftigen Streit zwischen den beiden Männern gekommen. Nein, sie hätten nicht verstehen können, worum es da gegangen sei; der größere Mann habe das Opfer ein paar Mal heftig geschlagen, das Opfer sei sogar zu Boden gestürzt; dann habe das Opfer ganz offensichtlich in Panik mehrfach den Namen Jonas gerufen, woraufhin der Mann sich in den Golf gesetzt habe und geradezu panikartig weggefahren sei.

Und zum zweiten Mal sei wie aus dem Nichts plötzlich ein dritter Mann aus dem Gebüsch am Ende des Parkplatzes gekommen, sei zu dem am Boden liegenden Mann gegangen, habe den beim Schopf gepackt und ihm dann kurzerhand mit einem einzigen Schnitt die Kehle durchgeschnitten. Daraufhin sei er ohne jede Eile zurückgegangen, in dem Gebüsch verschwunden, aus dem nur wenig später ein Pkw ohne Licht und mit ziemlich hoher Geschwindigkeit auf die Fahrbahn geschossen und weggefahren sei.

Die vernehmenden Beamten wollten ihren Ohren kaum trauen, und doch belegten die Ergebnisse der Spurensicherung und der kriminaltechnischen Untersuchungen exakt das, was die beiden Frauen ausgesagt hatten. Das Opfer hatte am rechten Straßenrand nahe der Ausfahrt der hinteren Fahrspur gelegen. Sein Körper hatte Verletzungen von der Rauferei mit dem erheblich größeren und stärkeren Mann aufgewiesen, unbedeutende Schürfwunden an beiden Händen und am Knie und Blutergüsse im Gesicht, Folgen der Einwirkung von stumpfer Gewalt, wahrscheinlich von Schlägen und Fausthieben; in seinem Mund war zudem Sperma nachgewiesen worden, so dass zumindest der genetische Fingerabdruck des größeren Mannes nur wenige Tage später bekannt war. Die Kehle des Opfers war mit einem einzigen, von links nach rechts geführten Schnitt durchtrennt, das Opfer regelrecht enthauptet worden, da dieser Schnitt mit einer unglaublichen Gewalt ausgeführt worden sein musste: bis auf die Halswirbelsäule war jegliches Gewebe und waren sämtliche Sehnen und Blutgefäße durchtrennt worden. Das Opfer musste innerhalb kürzester Zeit völlig ausgeblutet sein.

Auch den Standplatz des Täterfahrzeugs hatte die Spurensicherung ausgiebig untersucht, aber bis auf das Reifenprofil, das sich ziemlich deutlich auf dem feuchten Waldboden abgezeichnet hatte, hatte man nichts gefunden. Über Farbe, Modell oder Aussehen des Täterfahrzeugs hatten die beiden polnischen Frauen keinerlei Auskünfte geben können; es sei zu dunkel gewesen und alles sei viel zu schnell passiert, und natürlich hatten sie kurz nach dem brutalen Mord schon unter Schock gestanden.

Trotz der wenigen Informationen über den Pkw war zu diesem Punkt aber bereits nach wenigen Tagen Klarheit gegeben: der Pkw, mit dem der Täter zum Tatort gekommen und von dort wieder verschwunden war, war noch am Abend der Tat in Schermbeck, einem Ort in der Nähe von Wesel, gestohlen und bereits drei Tage später in einem Waldstück in der Nähe von Bocholt gefunden und eindeutig als Täterfahrzeug identifiziert worden. Seitdem wurde es von der Spurensicherung auf den Kopf gestellt.

Das Gleiche galt für das Paket, das das Opfer dem Mann aus dem Golf übergeben und das der schließlich wütend auf die Straße geworfen und bei seinem überstürzten Verschwinden achtlos zurückgelassen hatte. Und wenn in diesem Fall selbst hartgesottenen Kripobeamten nicht nur die Art der Tötung des Opfers doch ziemlich nahegegangen war, so sorgte dieses Beweisstück zumindest für Heiterkeit: Die rund zehn mal fünfzig Zentimeter große Verpackung enthielt keineswegs wie zunächst vermutet Rauschgift oder sonst irgendeinen strafrechtlich relevanten Stoff, sondern einen monströsen Dildo. Die dazu gehörige Gebrauchsanweisung musste aus dem Paket gefallen sein, als der riesige Kerl die Verpackung aufgerissen hatte: Schieb dir das Ding in deinen dämlichen Arsch, du Weichei, stand in ungelenken Großbuchstaben auf einem kleinen Zettel.

Es gab Fingerabdrücke von nur zwei Personen auf dem seltsamen Präsent mit der noch seltsameren Gebrauchsanweisung: Die des Opfers konnten eindeutig identifiziert werden; aufgrund der Aussage der beiden polnischen Frauen konnten die anderen nur von dem großen Kerl mit dem metallicblauen Golf stammen.

Es kann also nicht überraschen, dass die Mordkommission in Wesel eine ganze Zeit noch von einem völlig aus dem Ruder gelaufenen Eifersuchtsdrama unter Homosexuellen ausging. Dies um so mehr, als der Rastplatz Helderloh als Schwulentreff bekannt war.

Nicht unbedingt die erste Adresse, aber immerhin.

Der Pferdestricker

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