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»Und warum hast du einen so großen Mund?«

»Damit ich dich besser fressen kann«, kam es kichernd von hinten.

»Und ehe das Rotkäppchen es sich versah, sprang der Wolf aus dem Bett und verschlang es mit einem Biss. Dann schlief er zufrieden ein. Kurz darauf kam der Jäger zum Haus der Großmutter. Der Wolf hatte sich zwar als Großmutter verkleidet, doch der Jäger durchschaute ihn sofort. Und als er den dicken Bauch sah, war ihm klar, was passiert sein musste. Er nahm sein Messer aus dem Gürtel, schnitt dem Wolf den Bauch auf und befreite die Großmutter und das Rotkäppchen. Und wenn sie nicht gestorben sind …«

»… leben sie noch heute.«

Lena blieb stehen und hielt sich die Hand zum Schutz gegen die tief stehende Sonne an die Stirn. Das bunte Glitzern der unberührten Schneedecke, der angrenzende dichte Wald, dessen Tannen mit Weiß überzuckert waren, der Duft nach feuchter Kälte und Holz. Das waren die Momente, in denen ihr wieder klar wurde, warum sie aufs Land gezogen war. Ein perfekter Ort, an einem perfekten Tag. Wenn das mit Michael nicht gewesen wäre. Und die Wölfe fehlten.

»Mami!«

»Ja?« Lena langte mit ihrer Hand hinter ihren Kopf und streichelte Jean über seine dicke Mütze. Während sie sich seit zwei Stunden im knöcheltiefen Schnee durch kleinere Waldstücke in der Brandenburger Schorfheide kämpfte, saß ihr dreieinhalbjähriger Sohn gemütlich in seiner Kraxe und wollte Geschichten hören. Bereits fünfzehn Minuten nach ihrem Aufbruch hatte er behauptet, nicht mehr laufen zu können. Ein wenig konnte sie ihn sogar verstehen. Das Laufen durch den frischen Schnee war beschwerlich. Doch wenn man Wölfe beobachten wollte, war Schnee von erheblichem Vorteil. Die Tiere waren mit ihrem überwiegend braungrauen Fell vor einer weißen Kulisse besser auszumachen. Vor allem aber vereinfachte der Schnee die Spurensuche. So weit die Theorie.

»Und dann?«

»Was meinst du?« Lena war über die Frage verwundert. »Der Wolf ist tot. Und die Geschichte zu Ende.«

»Ja. Aber dann?«

Für Jean war die Geschichte anscheinend noch nicht zu Ende. »Na ja, das Rotkäppchen hat sich dann ein Gewehr gekauft und alle Wölfe erschossen.«

»Wirklich?«, fragte Jean.

»Wirklich«, sagte Lena.

Sie musste daran denken, wie man den Wolf in Deutschland ausgerottet hatte. Er hatte weiß Gott keinen guten Ruf gehabt. Doch im Märchen vom Rotkäppchen ging es – wollte man den Psychologen glauben, die das Märchen interpretiert hatten – gar nicht nur um den angeblich so bösen Räuber. Es ging vor allem darum, Mädchen davor zu warnen, sich von fremden Männern ansprechen und verführen zu lassen. In älteren Versionen der Geschichte fraß der Wolf das Rotkäppchen daher zunächst auch gar nicht auf, sondern lockte es ins Bett.

»Aber die Wölfe sind wieder da!«

»Genau«, gab Lena ihrem Sohn recht. »Sie sind wieder da. Und sie sind gar nicht so böse wie im Märchen.«

»Aber wo?«, fragte Jean.

»Wölfe sind scheue Tiere, du musst Geduld haben.«

Obwohl Geduld nicht gerade zu den Stärken von Jean gehörte, war seine Frage berechtigt. Die nahe gelegenen Felder und Wiesen hatte sie bereits alle abgesucht, ohne auch nur eine einzige Spur zu entdecken. Lenas letztes Ziel war eine größere Lichtung. Dort war sie der Wolfsfamilie – bestehend aus den beiden Leittieren, den zwei Jährlingen und einem älteren Jungtier – vor zwei Tagen vor einem gerissenen Rehkadaver begegnet. Die Wölfe hatten ihre Mahlzeit bereits beendet gehabt und lagen faul in der Sonne. Nur einer der Jährlinge machte sich einen Spaß daraus, die Raben, die sich über die Essensreste hermachten, immer wieder zu vertreiben. Obwohl die Wölfe Lena entdeckt hatten, hatten sie keinerlei Anstalten gemacht aufzubrechen. Vielleicht waren sie durch das Essen einfach zu müde. Oder sie spürten, dass Lena keine Gefahr für sie war. Lena hatte im Laufe der Zeit gelernt, dass Wölfe ein sehr gutes Gespür für Gefahr hatten.

»Bist du noch böse?«

»Böse?« Lena verstand nicht.

»Auf Papa.«

Wie kam er nur plötzlich darauf? »Warum meinst du das?«

»Weil du nicht lachst. Schon die ganze Zeit.«

Lena bezweifelte, dass sie jeden Tag lachte. Aber man durfte nicht alle Worte eines Kindes auf die Goldwaage legen.

»Nein, Jean. Ich bin nicht böse auf Papa«, sagte Lena, was nicht gelogen, aber auch nicht die ganze Wahrheit war. Als sie heute Morgen aufgestanden war, war Michael nicht da gewesen. Er hatte einen Zettel in der Küche hinterlassen, dass er kurz in die Werkstatt müsse, aber mittags wieder zurück sei, um sich ums Essen zu kümmern. »Böse« war sie wegen des Zettels und seiner Abwesenheit nicht gewesen – eher enttäuscht, und diese Enttäuschung musste Jean ihr angemerkt haben. Der Sonntagmorgen war eigentlich ihr gemeinsamer Morgen. Michael machte Kaffee und brachte ihnen zwei Tassen ans Bett. Dann, wenn das Drängeln von Jean nicht mehr zu ertragen war, standen sie auf und bereiteten ein üppiges Frühstück mit Eiern, Speck und frischem Obstsalat zu. Der Sonntag war einer der wenigen Tage, an denen sie sich Zeit ließen. Es war ihr festes Ritual. Zumindest war es das mal gewesen.

»Aber Mami!«

»Ich bin wirklich nicht böse auf Papa!«, sagte Lena ein wenig genervt.

Wahrscheinlich hätte sie Michaels Abwesenheit beim Frühstück nicht mal gestört, wenn sie nicht das Gefühl gehabt hätte, dass er sich in letzter Zeit ein wenig zu viele »Auszeiten« gönnte. Dass er am Sonntag wirklich zum Arbeiten in die Behindertenwerkstatt musste, bei der er seit einigen Jahren angestellt war, nahm sie ihm einfach nicht ab. Wofür? Am Sonntag war die Werkstatt zu. Und selbst wenn es dringenden Papierkram gab, so hätte er diesen von zu Hause aus erledigen können. Erst letztes Wochenende war er auf einer Schulung in Süddeutschland gewesen. Und jetzt schon wieder den halben Sonntag weg? Die ganze Arbeit mit Jean und dem Haushalt blieb an ihr hängen, und sie kam mit ihrem Wolfsprojekt nicht weiter. So war das ursprünglich nicht verabredet gewesen.

»Und wir finden bestimmt noch Spuren«, lenkte Lena das Thema wieder auf die Wölfe. Wirklich glauben konnte sie das allerdings selbst nicht. Sie ergriff das um ihren Hals baumelnde Fernglas und ließ ihren Blick über den Schnee und den Waldrand schweifen.

»Ich will auch!«, kam es direkt von hinten.

»Moment!« Lena meinte ein paar Spuren am gegenüberliegenden Waldrand entdeckt zu haben. Sie stellte das Fernglas scharf. Zwei größere Abdrücke vorne, zwei kleinere nacheinander gesetzt hinten. Eindeutig ein Hase. »Da gibt es nicht viel zu sehen.«

»Trotzdem.«

»Aber dann läufst du ein Stück.« Sie hätte nie für möglich gehalten, welch großen Anteil das Androhen von Strafen, Bestechung und Erpressung in der Erziehung von Kleinkindern einnahm.

Hinter ihr wurde es kurz ruhig. »Okay.«

»Versprochen?«

Wieder eine längere Pause. Zumindest schien sich Jean bewusst zu sein, dass man Versprechen nicht einfach so brach.

»Ja. Gib her!«

Nachdem Lena die Kraxe auf den Boden gestellt und Jean daraus befreit hatte, griffen seine kleinen Finger gierig nach dem Fernglas. Zunächst ahmte er Lena nach und ließ es langsam über die Lichtung und den angrenzenden Waldrand schweifen. Dann sah er abwechselnd zu Boden und in die Baumkronen, um am Ende durch das Objektiv Lena anzustarren. Er begann zu kichern. »Mami. Ich sehe dich gar nicht.«

Lena musste lachen. Wie süß er aussah, den Kopf in den Nacken gelegt, das viel zu große Fernglas vor den Augen. »Du musst es an dem kleinen Rad in der Mitte scharf stellen.«

»Wo?«

Jean nahm das Fernglas von den Augen und suchte nach dem Rad. Nachdem er es entdeckt hatte, drehte er ein wenig daran herum. Dann setzte er es erneut vor die Augen. »Es funktioniert nicht!« Und schon war das Fernglas wieder uninteressant. Er reichte es ihr zurück.

»Ich glaube, wir haben heute einfach kein Glück. Komm!« Lena reichte ihm ihre Hand. »Wir kehren um. Papa wartet sicherlich schon mit dem Mittagessen. Wir könnten nach Stöcken suchen«, schlug sie vor. Das würde ihn eine Zeit lang motiviert halten, selbst zu laufen. »Da hinten im Wald. Da gibt es bestimmt welche.«

Jean rannte sofort los. Kurz darauf kam er mit einem dicken Ast zurück und drückte ihn Lena in die Hand, damit sie ihn vom Schnee und den Verästelungen befreite.

»Für dich«, sagte Jean stolz. Und schon rannte er wieder los und verschwand hinter einer kleinen Felsformation. Ihr wäre es lieber gewesen, er hätte sich seine Kräfte eingeteilt.

»Mami!«

»Ja?« Jetzt kam er bestimmt gleich mit einem halben Baum zurück, der alle Dimensionen sprengte, denn der zweite Stock war schließlich für ihn selbst bestimmt. »Was denn?«

Keine Antwort.

»Jean?« Lena ging um die Felsen herum.

Wie angewurzelt stand er da. Instinktiv blieb sie ebenfalls sofort stehen.

»Ganz ruhig!«, flüsterte Lena. »Sieh ihnen nicht in die Augen, hörst du!«

Keine zehn Meter von Jean entfernt standen fünf Wölfe. Sie starrten abwechselnd sie und ihren Sohn an. Dann löste sich eines der Tiere aus dem Rudel und bewegte sich langsam auf Jean zu.

Homo Lupus

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