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Lena folgte Ewald und seinen Mitarbeitern durch die kargen, leeren Flure des großen Gebäudes. Man musste schon ein spezieller Typ Mensch sein, um in einer solchen Umgebung arbeiten zu können, ohne depressiv zu werden. Lena hätte es hier keine Woche ausgehalten. Vielleicht sorgte die ständige Beschäftigung mit dem gewaltsamen Tod dafür, dass man das Fehlen von Farbe und Pflanzen als nicht mehr bedrückend wahrnahm. Vor einer Tür am Ende eines Gangs hielten sie an. Ewald öffnete sie und bat Lena einzutreten.

Das Zimmer war mit einem grauen Zweisitzer, drei dazu passenden modernen Sesseln und einem niedrigen Glastisch eingerichtet. An der Seitenwand befand sich ein kleines Fenster. Auf dem Sofa saß ein Mann und las Zeitung. Er war wahrscheinlich der Urheber des süßlichen Aftershavegeruchs, der Lena unmittelbar in die Nase gestoßen war. Der Mann wartete, bis Lena, Ewald und seine zwei Mitarbeiter den Raum betreten hatten. Erst dann erhob er sich.

»Darf ich vorstellen?« Ewald zeigte auf den Mann. Lena schüttelte die ihr dargebotene Hand. »Herr Dr. Fallender. Managementberater.« Und an ihn gewandt: »Das hier ist die geniale Biologin, von der ich Ihnen erzählt habe. Frau Dr. Bondroit.«

Fallender war ein hochgewachsener Mann Mitte vierzig, den man mit seinem dichten, braunen Haar und den markanten Gesichtszügen wohl als durchaus gut aussehend bezeichnen musste. Er trug einen schwarzen Anzug, darunter einen schwarzen Rollkragenpullover. Sein markantes Gesicht wurde durch die lang gezogenen seitlichen Koteletten noch betont. Lena erkannte ihn sofort wieder. Sie hatte ihn erst kürzlich in einer Talkshow gesehen. Fallender war als Experte für das Thema Management-Coaching geladen gewesen und ihr als arroganter, selbstverliebter Mensch im Gedächtnis hängen geblieben. Er hatte waghalsige, unwissenschaftliche Thesen vertreten und Plattitüden kundgegeben, garniert mit ein paar plastischen Anekdoten, die für die nötigen Lacher sorgten. Ewald musste wahrlich verzweifelt sein, wenn er solche Wichtigtuer zurate zog.

»Freut mich.« Fallender drückte ihre Hand auffallend fest, ein Verhalten, das Lena gerne bei Männern beobachtete, die von Anfang an klarzustellen versuchten, wer im Raum das Sagen hatte.

Sie nickte nur, damit sie sich eine Freundlichkeitsfloskel sparen konnte.

Fallender setzte sich zurück auf die Couch, woraufhin Ewald Lena aufforderte, in dem Sessel gegenüber Platz zu nehmen. Er öffnete das Fenster, bevor er sich selbst setzte. Wahrscheinlich störte ihn ebenfalls der penetrante Aftershavegeruch. Dann setzten sich auch seine Mitarbeiter.

Und jetzt? Lena blickte zu Ewald. Warum sollte sie diesen Mann kennenlernen? Und warum der Raumwechsel?

»Mit Herrn Dr. Fallender«, Ewald sah zu dem Managementberater, »hatten wir bereits eine kleinere Unterredung.« Fallender nickte, und Ewald sah zu Lena. »Und wie ich schon sagte: Es ist an der Zeit, anders zu denken. Innovative Methoden sind gefragt.« Er räusperte sich. »Ich habe daher auch Herrn Dr. Fallender in unser kleines – oder sagen wir lieber größeres – Problem eingeweiht.«

Lena war gespannt, was ein Managementberater für sinnvolle Ratschläge in einem Fall geben konnte, in dem es um die Unterwanderung eines Clans ging.

»Wir haben länger diskutiert. Und Herr Fallender kam mit einer Idee um die Ecke, die uns vielleicht trotz der begrenzten Zeit weiterhelfen könnte. Sie kennen die Omega-Theorie?«

»In groben Zügen.« Fallender hatte sie bereits in der Talkshow im Fernsehen erwähnt. Er beriet Manager mit seinem selbst entwickelten »Alpha-Tier-Ansatz«, einer Methode, die er angeblich aus der modernen Wolfsforschung abgeleitet hatte. Und da spielte auch diese »Omega-Theorie« eine gewisse Rolle. Lenas Ansicht nach der letzte Schwachsinn.

Sie sah zu Fallender, der sie gelassen angrinste, an dessen leicht hochgezogenen Schultern sie jedoch erkannte, wie sich alles in ihm spannte. Er schien zu ahnen, wenn nicht zu wissen, was Ewald vorhatte. Und auch Lena wurde es immer klarer: Ewald wollte Fallenders Thesen von Lena testen lassen. Er wollte sie beide einen argumentativen Arenakampf vollziehen lassen, um am Ende mit besserem Gewissen seine Entscheidung treffen zu können. Sie war für Ewald nur Mittel zum Zweck.

»Vielleicht wären sie noch mal so nett.« Ewald nickte Fallender zu.

»Aber natürlich.« Fallender blickte in die Runde. Jedem sah er dabei in die Augen, nicht wirklich lange, aber länger als üblich. Ging es ihm um die ungeteilte Aufmerksamkeit? Die hatte er bereits. Wohl eher um Einschüchterung, mutmaßte Lena.

»Eigentlich kennt es jeder«, begann Fallender und beugte sich nach vorn. »Nicht nur Tiere, sondern auch Menschen bilden eine Hackordnung.« Er schlug einige Male mit der senkrechten Hand hintereinander auf die Tischplatte. »Alpha, Beta, Gamma … Es fängt in der Schule an und hört im Altersheim auf. In der Schule entsteht sie über Cliquenbildung, Ausgrenzung, Mobbing und Schlägereien. Die schönsten und stärksten Kinder sind es in der Regel, mit denen jeder spielen möchte, die auf alle Geburtstage eingeladen werden, die das Sagen haben. Später spielen auch die materielle Ausstattung, Intelligenz und vor allem die Kommunikationsfähigkeit eine immer größere Rolle. Sperrt man daher Manager von derselben Ebene für zwei Tage in ein Hotel, natürlich unter dem Vorwand eines exquisiten Workshops«, Fallender lächelte überheblich, »dann hat man nach zwei Tagen was?« Er sah in die Runde. »Eine Hackordnung«, beantwortete er seine eigene Frage. »Am einfachsten lässt sich das Alpha-Tier identifizieren. Es ist die Person, die plötzlich den Ton angibt, die mehr oder weniger allein entscheidet, wer was präsentieren darf. Besonders schön lässt sich das Alpha-Tier – wie übrigens auch bei den Wölfen – beim Essen identifizieren. Während die anderen Manager unsicher das Restaurant betreten und darauf warten, wo sich wer hinsetzt, hat das Alpha-Tier hier kein Problem. Es sucht sich selbstbewusst einen Tisch aus, und kaum hat es sich gesetzt, wird es von den anderen umringt, manchmal sogar mit mehr oder weniger explizit ausgetragenen Streitigkeiten um die unmittelbaren Nachbarplätze. Männliche Alpha-Tiere nutzen gern kernige, despektierliche Sprüche gegenüber anderen Männern, um ihre Position zu festigen und zu betonen. Weibliche Alpha-Tiere hingegen arbeiten hier ein wenig subtiler. Sie …«

»Vielleicht kürzen wir das alles ein wenig ab«, unterbrach Ewald Fallender. »Ich denke, Frau Bondroit kennt sich mit Hackordnungen ebenfalls sehr gut aus.«

Lena konnte sich ein Grinsen nur schwer verkneifen. Das, was Ewald sagte, stimmte zwar, doch Lena war klar, dass Ewald Fallender aus einem anderen Grund unterbrochen hatte. Er selbst war ungeduldig geworden. Und er wollte zeigen, wer in diesem Raum das Sagen hatte und entscheiden durfte, worüber und wie lange geredet wurde. Er war genau das »Alpha-Tier«, von dem Fallender gerade sprach.

»Natürlich.« Fallender wirkte durch Ewalds Unterbrechung ein wenig aus dem Konzept gebracht. »Wo waren wir stehen geblieben?«

»Hackordnung«, half Ewald nach. »Und wie sie uns bei unserem Fall weiterhelfen könnte.«

»Richtig«, sagte Fallender. »Wo Menschen eine Gruppe bilden, entsteht eine Hackordnung. Es gibt das Alpha-Tier, für diesen Fall noch viel entscheidender aber auch das sogenannte Omega-Tier. Den Prügelknaben, wie man es auch gerne nennt, das Tier am Ende der Hackordnung. Das Omega-Tier bekommt nicht nur den schlechtesten Platz an der Essenstafel. Es wird auch für niedere Dienste genutzt und von Frauen ignoriert. Und vielleicht am schlimmsten: Es ist das Individuum, an dem die Gruppe ihre Aggressionen auslebt. Eine evolutiv durchaus wichtige Funktion – denn auf diese Weise werden nicht die genetisch höherwertigen Alpha- und Beta-Tiere durch unnötige Kämpfe und Reibereien geschwächt. Es gibt quasi einen institutionalisierten Boxsack, an dem die Gruppe ihren Frust auslässt. Dafür darf das Tier dann auch von der Beute, die es alleine nie fähig gewesen wäre zu erlegen, fressen.«

»Interessant, nicht wahr?«, kommentierte Ewald. »Was meinen Sie?«

»Ja«, sagte Lena. »Es können in Gruppen Hackordnungen entstehen.« Bis zu diesem Punkt gab es keinen Grund, Fallender zu widersprechen.

»Sehen Sie!« Fallender wandte sich an Ewald. Er wirkte sofort um einiges gelassener. Und auch Ewald schien zu gefallen, dass Lena nicht widersprach. »Dann haben wir jetzt einen Plan?« Er sah zu seinen Mitarbeitern.

»Plan?«, fragte Lena. Von einem Plan war bisher zumindest in ihrer Anwesenheit noch nicht die Rede gewesen. »Was denn für einen Plan?«

»Das Omega-Tier im Clan auf unsere Seite zu ziehen.« Ewalds Augen blitzten. »Denn auch wenn das Omega-Tier zur Gruppe gehört und von ihr ernährt wird, so träumt es doch davon, selbst mal Chef zu sein, der Stärkste, derjenige, der gefragt ist. Im besten Fall wurde es sogar so stark erniedrigt, dass es Rachegedanken hegt.«

»Ist das denn nicht ganz normales kriminaltechnisches Vorgehen, was Sie da gerade beschreiben?«, fragte Lena, über diesen Vorschlag doch etwas verwundert. Sie bemerkte, wie sich Ewalds Kollegin ein Lachen verdrückte, während sich Fallenders Schultern wieder zu spannen begannen.

»Ja, schon«, gab ihr Ewald leicht zerknirscht recht. »Das Problem ist nur, dass wir es noch nicht anwenden konnten. Die Jungs von der Organisierten Kriminalität hatten sich als neuen möglichen V-Mann einen Neffen von Vahid Aziz rausgesucht. Doch nach meinem Gespräch mit Herrn Fallender ist mir klar geworden, dass das der komplett falsche Mann wäre. Null Omega-Tier. Irgendjemand aus dem Mittelbau, der mit seiner Funktion eigentlich zufrieden ist. Stimmt’s?«

Er sah in Richtung seiner Mitarbeiterin. »Richtig.« Sie nickte und sah zu Lena. »Vielleicht kurz zu meiner Rolle. Ich koordiniere in diesem Fall die unterschiedlichen Bereiche der Polizei und des Verfassungsschutzes. Eigentlich bin ich auf Wirtschaftskriminalität spezialisiert, doch seit einem guten Jahr bei Herrn Ewald eingeteilt. Und in der Tat haben da die Kollegen nicht wirklich sauber gearbeitet.«

Ewald nickte zufrieden. »Dieses Mal machen wir es richtig. Dank Herrn Fallenders Analysen wissen wir jetzt, wer das Omega-Tier ist – ein Sohn von Vahid Aziz. Was meinen Sie?«

Alle, mit Ausnahme des Sunnyboys, der auf seine Schuhe starrte, blickten gespannt zu Lena.

»Schlechter Plan.«

Sogar der Sunnyboy sah dieses Mal auf. Und Fallender fiel die Kinnlade runter, was ihm gar nicht so schlecht stand, fand Lena.

»Wie, schlechter Plan?« Ewald war direkt lauter geworden. »Warum?«

»Zugegeben, ich kenne mich mit Clanfamilien nicht wirklich aus, und Ihre Idee mag aus kriminalistischer Sicht ein übliches oder gutes Vorgehen sein. Aus biologischer Sicht spricht meiner Ansicht nach jedoch vieles dafür, dass die Regeln einer Hackordnung nicht unbedingt eins zu eins auf einen Clan anwendbar sein müssen. Ich wäre hier vorsichtig. Wolfsfamilien zum Beispiel funktionieren, den neuesten Beobachtungen folgend, nach ganz anderen Regeln.«

»Und zwar?«

Lena sah in die Runde. »Im Wolfsrudel gibt es kein Omega-Tier.«

Homo Lupus

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