Читать книгу Homo Lupus - Thomas Kiehl - Страница 16

7

Оглавление

Das Licht in dem fensterlosen Raum war stark gedimmt. Die Wände bestanden aus unverputztem Beton. An ihnen hingen vier riesige Monitore und dazu ein durchsichtiges belichtetes Whiteboard, auf das mit Neon-Markern ein Flussdiagramm aufgezeichnet war. In der Mitte des Zimmers stand ein langer Besprechungstisch, an dem zehn Personen Platz finden konnten, jedoch nur drei saßen: zwei Männer, eine Frau.

Der Mann, der in der Mitte saß, stand jetzt auf und ging langsam auf sie zu. Jetzt erst erkannte sie ihn wieder. Er war älter geworden, sah aus wie gute sechzig, obwohl Lena wusste, dass er jünger war. Seine vollschlanke Statur hatte sich nicht groß verändert sowie auch sein Haarschnitt, wenn man Haare mit der durchgehenden Länge von einem Zentimeter als solchen bezeichnen wollte. Nur waren sie jetzt grau.

»Lena Bondroit und die Sonne geht auf!«

Es wurde etwas heller. Jemand musste an dem Dimmer für die Deckenbeleuchtung gedreht haben.

»Herr Ewald.«

Er sah aus, als könnte er dringend etwas Schlaf gebrauchen. Sie hatte Ewald vor sechs Jahren im Rahmen von ziemlich brisanten Ermittlungen kennengelernt. Es ging um ein internationales Komplott, das bis in höchste politische Kreise reichte und das Ewald schließlich mit ihrer Hilfe aufdecken konnte. Und genau das, befürchtete sie, holte sie jetzt wieder ein. Aufgrund seines Ermittlungserfolges hatte man Ewald damals zum Präsidenten des Verfassungsschutzes befördert. Sie hatten nicht wirklich engen Kontakt gehalten, doch Ewald schickte ihr jedes Jahr zu Weihnachten eine Karte, für die sich Lena anschließend in einem Telefonat bedankte. Ein jährliches Ritual, das sich zwischen ihnen eingespielt hatte. Vor drei Jahren hatte sie von ihm erfahren, dass er aufgrund eines Patzers, so unbedeutend er auch gewesen sein mochte, hatte zurücktreten müssen. Seitdem war er für eine neue Abteilung zuständig, die sich mit Terrorakten im Inneren beschäftigte und in Berlin am Treptower Park angesiedelt war. Lenas Ansicht nach war diese »Degradierung«, wie es Ewald damals wutentbrannt bezeichnet hatte, zwar hierarchisch gesehen ein Rückschritt. Allein auf den Tätigkeitsbereich bezogen sah sie darin aber eine Entwicklung, die seinen Fähigkeiten viel gerechter wurde. Ewald war kein politisch, geschweige denn rhetorisch oder strategisch geschickter Mensch. Dafür hatte er ein Händchen dafür, in kniffligen Fällen mit unkonventionellen Ermittlungsmethoden Verbrechern das Handwerk zu legen.

»Was soll das alles? Geht es um die Geschichte von damals?« Noch immer hatte man Lena nicht darüber aufgeklärt, was der Verfassungsschutz von ihr wollte und warum man sie an einem Sonntag von zu Hause abgeholt und hierhergebracht hatte. Nur dass ein gewisser Herr Ewald sie umgehend in Berlin sprechen wolle, das hatte man ihr verraten.

Ewald lachte laut los. »Nicht Ihr Ernst?«

»Mein voller Ernst«, korrigierte Lena. »Und was gibt es da so blöd zu lachen?« Es ärgerte sie, dass Ewald ihre Bedenken nicht ernst nahm. Um was sollte es schließlich sonst gehen?

Ewald stellte sein Lachen ein. »Na ja. Das Ganze ist eine Ewigkeit her!« Er wandte sich an seine Kollegen. »Wie Sie wissen, kenne ich Frau Bondroit bereits aus einem früheren Fall.« Ewald sah zu ihr zurück. »Entschuldigung, Frau Bondroit.« Er mimte einen zerknirschten Gesichtsausdruck. Dass er wirkliches Mitleid empfand, nahm ihm Lena nicht ab, dazu kannte sie ihn zu gut. Die einzige Person, für die Ewald Mitleid empfinden konnte, war er selbst. »Für mich klingen Ihre Bedenken ein wenig paranoid. Aber wenn ich Sie erschreckt habe, dann tut mir das ausgesprochen leid.«

»Paranoid?«, fragte Lena ungläubig. Auch die Art, wie er das Wort »ausgesprochen« betont hatte, zeigte Lena, dass er ihre Angst nicht ernst nahm. »Da tauchen zwei bewaffnete Beamte vom Verfassungsschutz unangekündigt bei mir auf! Entschuldigen Sie, Herr Ewald! Für Sie mag das der Normalfall sein. Für mich nicht! Sie hätten mich persönlich abholen können oder zumindest anrufen und vorwarnen.«

»Ist ja gut!« Ewald hob beschwichtigend die Hände. »Ich habe verstanden. Es ist nur so: Für diesen Fall gilt die höchste Geheimhaltungsstufe. Was wir besprechen, bereden wir am liebsten in abhörsicheren Räumen wie diesem hier.«

Er zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und bot Lena den Platz an. Dann zeigte er auf die Frau und den Mann, die am Ende des Tischs saßen. »Übrigens, nur der Vollständigkeit halber, zwei meiner Mitarbeiter. Ignorieren Sie sie einfach. Die sitzen nur hier, weil ich später keine Lust habe, den Wiederkäuer zu spielen.« Er lachte dreckig.

Lena nickte den beiden zu. Es handelte sich um einen Mann um die dreißig, der aussah, als würde er eigentlich lieber auf Bali am Strand mit einem Surfbrett in der Hand rumhängen als hier im halbdunklen Raum, und eine Frau um die fünfzig, die in ihrem grauen Hosenanzug, mit der Mireille-Mathieu-Frisur, den leicht herausstehenden Augen, die auf eine Schilddrüsenfehlfunktion hindeuteten, und dem blassen Teint sicherlich eine gute Chance gehabt hätte, als Klischee-Stasi-Mitarbeiterin fürs Kino gecastet zu werden. Beide nickten freundlich zurück. Dann setzte sie sich.

»Um was geht es denn?« Lena konnte sich beim besten Willen nicht erklären, was es Geheimes mit ihr zu besprechen gab, wenn es nicht um die Geschichte von damals ging.

»Die kurze oder lange Version?«

»Die kurze, wenn es geht«, bat Lena. »Wir haben Wochenende, es ist Sonntag. Mein Sohn Jean und ich haben heute Morgen Wölfe beobachtet. Wahrscheinlich erzählt er meinem Mann gerade von diesem Erlebnis. Und ich bin nicht dabei.«

»Verstehe.« Ewald räusperte sich. »Zum Thema und direkt zum Punkt: Es gilt einen Anschlag zu verhindern. Der Anschlag soll von einem libanesischen Clan verübt werden, an dessen Spitze Vahid Aziz steht. Sie kennen ihn bestimmt aus den Nachrichten. Er wird immer mal wieder im Zusammenhang mit Drogengeschäften und Bandenkriegen erwähnt. Zuletzt wurde in den Medien die Beschlagnahmung mehrerer seiner Immobilien gefordert, die er wahrscheinlich mit gewaschenem Geld gekauft und mit ungewaschenem renoviert hat. Hier lässt sich aber nichts beweisen. Außerdem hat er die schon wieder verkauft«, erklärte Ewald weiter. »Seit Jahren versuchen wir, diesen Clan mit V-Leuten und verdeckten Ermittlern zu unterwandern. Leider eher erfolglos. Den letzten V-Mann, den die Kollegen von der Drogenfahndung aus seinem inneren Kreis für sich gewinnen konnten, fanden wir vor einigen Wochen tot auf der Toilette einer Diskothek. Details erspare ich Ihnen.« Ewald sah zu dem Sunnyboy, der den Blickkontakt mit ihm zu meiden versuchte. »Eine der letzten Informationen von dem verstorbenen V-Mann war, dass größere Mengen Sprengstoff beschafft werden sollten«, setzte Ewald fort. »Und dann konnten wir vor drei Wochen folgendes Telefonat abfangen.« Er drückte auf einen Knopf, und auf einem der riesigen Fernseher erschien ein gekürztes Abhörprotokoll. Unter dem Datum war vermerkt, dass es sich um eine Übersetzung handelte.

Ewald gab Lena etwas Zeit, sich die Zeilen durchzulesen.

NI: »Alles abgewickelt?«

V. Aziz: »Natürlich. Danke! Am 17. Januar dann …«

NI (unterbricht ihn): »Nicht am Telefon!«

V. Aziz: »Alles klar.«

NI: »Ich melde mich.«

V. Aziz: »Inshallah.«

NI: »Inshallah.«

»›NI‹ bedeutet übrigens ›not identified‹«, erklärte die Dame mit dem Pagenschnitt. »Aber wir glauben zu wissen, wer hier mit Aziz gesprochen hat. Ein gut vernetzter arabischer Finanzberater namens Issam bin Hisham Al-Tayer, auch genannt ›die Fliege‹. Er berät die halbe arabische Welt in Finanzdingen, deswegen wahrscheinlich dieser Spitzname. Er geht unter anderem beim saudischen König aus und ein, hat aber auch gute Kontakte nach Israel und in den Westen. Die CIA vermutet, dass er seine Kontakte nicht nur in Finanzangelegenheiten nutzt. Beweise dafür gibt es aber nicht. Vielleicht ist er den Amerikanern auch aus anderen Gründen ein Dorn im Auge, das kann man leider nie so genau wissen. Aziz und ›die Fliege‹ kennen sich über ihre Kinder. Eine Tochter von Vahid Aziz ist mit dem dritten Sohn von Issam liiert. Sie haben sich in Berlin kennengelernt. Issams Sohn studiert hier Betriebswirtschaftslehre. Er …«

»Ist ja gut«, fuhr Ewald seiner Kollegin ins Wort. »So weit müssen wir für Frau Bondroit jetzt wirklich nicht ausholen. ›Die Fliege‹ ist außerdem gerade nicht unser Thema. Dass wir vor dem Anschlag noch an die Hintermänner kommen, ist nämlich leider nahezu ausgeschlossen. Bis zum 17. Januar sind es schließlich keine zwei Wochen mehr. Wir sollten uns daher primär auf die Vereitelung des Anschlags konzentrieren. Bislang haben wir dazu nur sehr wenige Informationen. Der Clan hält sich seit ein paar Wochen bedeckt wie nie, kein Fehltritt, keine Auffälligkeit, alles brave Buben, wie sie im Buche stehen. Es ist zum Verrücktwerden!« Er zeigte auf den Bildschirm. »17. Januar. An dem Tag findet ein großer Journalistenkongress statt. Wir nehmen an, dass sie deshalb diesen Tag gewählt haben. Der Clan, aber vor allem auch die saudische Krone haben hier noch Rechnungen offen – Sie wissen schon, schlechte Presse, angeblich Verleugnung und Propaganda, das Übliche. Unsere Aufgabe ist es, den Anschlag zu verhindern. Wir konzentrieren uns daher auf den Aziz-Clan.« Er sah mit süffisantem Blick zu seiner Kollegin. »Und um ›die Fliege‹ sollen sich mal schön die braun gebrannten Kollegen vom Auslandsdienst kümmern. Was die für Budgets …«

»Moment«, bremste Lena Ewald, denn die für sie wichtigste Frage hatte er immer noch nicht beantwortet. »Und weswegen bin ich jetzt hier? Ich bin Biologin, Verhaltensforscherin. Ich kenne mich weder mit Clans noch im Drogenmilieu oder mit Anschlägen aus.«

Ewald nahm einen Kugelschreiber vom Tisch und zeigte damit auf sie. »Sie erinnern sich noch an unser Telefonat an Weihnachten?«

»Natürlich. Ich habe mich für Ihre nette Karte bedankt.«

»Genau. Und Sie erzählten mir von ihrem neuesten Forschungsprojekt. Sie haben ja inzwischen von Ameisen auf Wölfe umgesattelt, genauer gesagt auf die Beobachtung von Wolfsrudeln. Bei den Ameisen ging es ihnen darum, das System Staat besser zu verstehen. Dieses Mal geht es ihnen um Familienstrukturen, also auch wieder ein System, nur ein sehr viel kleineres, wenn ich das mal so salopp sagen darf. Ihrer Ansicht nach hat sich diesbezüglich in der Forschung in den letzten Jahren wenig getan. Sie wollen unter anderem besser verstehen, wie Wölfe miteinander kommunizieren und was sie zusammenhält. Vor allem das Thema Rituale hat es Ihnen angetan. So weit noch alles richtig?«

»Ja, das stimmt.« Das Gespräch mit Ewald hatte ihr viel Freude bereitet, da er an ihren Ansichten aufrichtig interessiert schien. Sie wandte sich an Ewalds Mitarbeiter. »Ich bin Verhaltensforscherin und ein großer Freund der Ethologie, also der vergleichenden Verhaltensforschung. Auch wenn sich mein Projekt auf Wölfe beschränkt, erhoffe ich mir von diesen Beobachtungen neue Antworten auf die Frage, was den Gruppenverband einer Familie ausmacht, wie Herr Ewald schon sagte, was sie zusammenhält oder auch auseinandertreibt. Familienstrukturen sind ein biologisches Phänomen gegenüber anderen Verbänden wie Herden oder Staaten. Das Zusammenleben in einer Familie hat viele evolutive Vorteile. Letztlich geht es mir um klassische Grundlagenforschung. Da ich das Familiensystem an sich analysiere, könnten bestimmte Rückschlüsse durchaus auch für uns Menschen interessant sein.«

»Ganz genau«, sagte Ewald. »Und daran wollte ich anknüpfen. Sie sagten in unserem Gespräch, dass wir Menschen zwar eine gesetzlich normierte und auch kulturell tradierte Vorstellung davon haben, wie eine Familie sein sollte. Doch die bildet schon lange nicht mehr die Realität ab, wie beispielsweise die hohen Scheidungsraten, Patchworkfamilien und polyamoren Beziehungen zeigen. Vielleicht hat sie das auch noch nie.«

»Stimmt«, gab ihm Lena recht. »Aber leider verstehe ich immer noch nicht, was Sie von mir wollen?«

Ewald atmete tief durch. »Ganz konkret: Wie infiltriert man am schnellsten eine Wolfsfamilie?«

Lena sah Ewald überrascht an. »Wie bitte?«

Ewald nickte nur, anscheinend um ihr zu verstehen zu geben, dass sie ihn richtig verstanden hatte.

»Aber Sie stellen mir jetzt hoffentlich nicht diese Frage, weil Sie meinen, dass Ihnen die Antwort bei der Infiltrierung des Clans behilflich sein könnte! Denn dann haben sie etwas an meiner Forschung grundsätzlich nicht verstanden. Sie sollten lieber Clanspezialisten oder Psychologen befragen.«

»Das habe ich bereits.«

»Und?«

»Natürlich ohne Erfolg. Unsere sogenannten Clanspezialisten wärmen immer nur denselben Brei auf, der uns in diesem Fall gar nichts bringt. Und was bitte soll man von den Ideen einer Berufsgruppe erwarten, deren Theorien sich alle paar Jahre als falsch herausstellen und die dann eine Therapie für die Therapie entwickeln?« Ewald lachte laut, stoppte dann allerdings abrupt, nachdem keiner mit ihm mitlachte. Er sah sie durchdringend an. »Frau Bondroit, ganz ehrlich: Wir sind gerade am Ende mit unserem Latein. Die bewährten Methoden, die wir ansonsten anwenden, sei es bei den Kriminalern oder beim Verfassungsschutz, bringen uns in dieser Situation und in der Kürze der Zeit nicht weiter. Wir haben alle uns zur Verfügung stehenden Mittel ausgeschöpft. Wir müssen neue Wege finden, vor allem weil es schnell gehen muss. Wir müssen herausfinden, was der Clan vorhat. Und da musste ich an unser Gespräch an Weihnachten denken. Clan. Rudel. Sie wissen schon. Da gibt es doch bestimmt Parallelen. Auch das Verhalten der Ameisen damals hat uns bei der Aufdeckung des Skandals geholfen. Ich brauche neue Ideen, Impulse, etwas, an das wir noch nicht gedacht haben. Denn eines ist klar: Wenn wir so weitermachen wie bisher, werden viele unschuldige Menschen sterben.«

Als Lena Ewald das erste Mal begegnet war, hatte sie ihn gehasst. Seine Passion, Mitmenschen ins Messer laufen zu lassen, um Dampf abzulassen, überhaupt die Art, wie er mit anderen Menschen umging, vor allem mit Frauen. Das alles hatte ihr nicht gefallen. Und wenn man nun sah, wie er mit seinen Mitarbeitern umging und sich in den Mittelpunkt drängte oder wie er Lenas Einwände einfach wegwischte, sprach einiges dafür, dass er sich nicht wirklich verändert hatte. Was sie allerdings schon damals an Ewald schätzen gelernt hatte, war seine Unkorrumpierbarkeit, seine Neugierde und die daraus resultierende Offenheit gegenüber neuen Ansätzen und Strategien. Damit machte er sich in seinem Umfeld sicher nicht nur Freunde, eher das Gegenteil. Manchmal musste man aber wahrscheinlich auf unkonventionelle Ermittlungsmethoden zurückgreifen, wenn man etwas erreichen wollte.

»Sie erklärten mir am Telefon«, setzte er nach, »dass der Grund dafür, dass gerade der Hund weltweit zum ›besten Freund‹ des Menschen wurde, in der dem Menschen ähnlichen Familienstruktur seiner Vorfahren zu suchen ist. Der Umgang mit Familienmitgliedern gleicht sich zum Teil sehr – Ihre Worte«, führte Ewald weiter aus.

»Ich sagte, möglicherweise«, korrigierte Lena. Sie war keine Freundin von absoluten Behauptungen. Es gab viel zu viele Beispiele dafür, dass selbst die sichersten Annahmen widerlegt wurden. Die einzige wirkliche Wahrheit war die, dass meistens nicht nur die Behauptung, sondern auch das Gegenteil zutraf.

»Egal.« Ewald machte eine abwehrende Geste. »Erzählen Sie uns von den Wölfen. Vielleicht kommen uns dann neue Ideen. Wie gelingt es zum Beispiel Wölfen, einem fremden Rudel beizutreten? Sie verstehen, was ich meine?«

»Natürlich verstehe ich«, sagte Lena. »Aber ich muss Sie enttäuschen. Es gelingt ihnen gar nicht.«

»Wie?« Ewald wirkte zugleich überrascht und verärgert.

Aus dem Augenwinkel nahm Lena wahr, wie sich die Mitarbeiterin von Ewald eine Notiz machte. Der Surferboy hingegen schien mit etwas anderem beschäftigt, etwas unter dem Tisch. Wahrscheinlich seinem Handy. Dass das Ewald gar nicht störte, wunderte sie ein wenig.

»Leider ist es so«, erklärte Lena. »Sie müssen wissen, ein Clan ist kein Rudel. Ein Wolfsrudel besteht in der Regel nur aus der Kernfamilie, also Mutter, Vater und ihren Kindern. Ich weiß, dass man lange Zeit davon ausging, dass Mitglieder größerer Wolfsrudel aus unterschiedlichen Familien stammen. Aber das ist falsch. Wölfe von anderen Rudeln werden im Regelfall nicht integriert. Ganz im Gegenteil. Andere Rudel und ihre Mitglieder stellen die Konkurrenz dar, die vertrieben, notfalls sogar vernichtet werden muss. Abgesehen vom Menschen, ist der Wolf dem Wolf der größte Feind.«

»Und dieser Wolfsmann?«, warf er ein.

Natürlich wusste Lena sofort, von wem Ewald sprach: Shaun Ellis – oder »der Wolfsmann«, wie er in vielen Reportagen medienwirksam genannt wurde. Sie kannte ihn nicht persönlich, aber hatte viel von und über ihn gelesen. Ellis hatte Wölfe lange beobachtet, sie gepflegt, Wolfswelpen »adoptiert« und angeblich sogar mit wilden Wölfen zusammengelebt. Auch wenn er und seine Methoden in der Forschung umstritten waren, wenn man es denn überhaupt als solche bezeichnen wollte, konnte man ihm nicht nachsagen, dass er nicht viel Zeit mit Wölfen verbracht hatte. Und glaubte man seinen Erzählungen, dann war es ihm tatsächlich gelungen, das Vertrauen einer wilden Wolfsfamilie zu gewinnen. Dennoch bezweifelte Lena, dass Ewald das Wissen dieses Mannes weiterbringen würde.

»Und?«, fragte Ewald erwartungsvoll.

»Mir scheint es mehr als fraglich, ob sich seine Erfahrungen reproduzieren oder verallgemeinern lassen.«

»Einen Versuch ist es wert.«

»Es wird Ihnen trotzdem nichts bringen.«

»Warum?«

»Weil man Beobachtungen aus der Tierwelt nicht einfach auf den Menschen, geschweige denn auf Clans übertragen kann. Aber vor allem weil Sie bis zu dem Anschlag nur noch elf Tage Zeit haben.«

Ewald schlug mit der Faust auf den Tisch. »Wie lange hat er gebraucht?«

»Monate. Die verwaisten Welpen, die er aufzog, vertrauten ihm als Mutter- und Vaterersatz natürlich schneller, aber das ist ein ganz anderer Fall.«

Ewald legte seinen Kopf in den Nacken und starrte an die Decke. Er stieß genervt oder vielleicht auch nur frustriert Luft aus. »Gut. Verstanden. Wir haben ein Zeitproblem. Aber vergessen wir mal die Zeit. Wie hat er das Vertrauen gewonnen?«

Lena hätte Ewald wirklich gern weitergeholfen. Doch das Vertrauen einer Wolfsfamilie zu gewinnen war eine schwierige Angelegenheit. »Ich rede jetzt nur über Wölfe.«

»Ja, verstanden. Los!«

»Es geht viel um denselben Geruch, dieselbe Art zu kommunizieren, dieselben Rituale und die Bereitschaft, eine bestimmte Rolle einzunehmen. Gerade gemeinsame Rituale halte ich für einen entscheidenden Treiber für Bindungsgefühle und damit auch für Vertrauen.«

Ewald überlegte einen Moment. Dann schüttelte er den Kopf und sprang unvermittelt von seinem Stuhl auf. Als hätte er einen tonlosen Befehl erteilt, packten auch seine Mitarbeiter ihre Papiere zusammen. Der Surferboy zauberte eine selbst gedrehte Zigarette unter dem Tisch hervor, die er auf seine Unterlagen legte. Also doch kein Handy.

Lena war über die überraschende Aufbruchstimmung ein wenig verwundert. »Nicht sonderlich hilfreich, was?«

»Weiß nicht.« Er zeigte auf die Tür. »Ich denke noch mal drüber nach. Doch die Zeit drängt wirklich.« Er öffnete die Tür. »Und daher würde ich Sie gerne mit jemandem bekannt machen.«

Homo Lupus

Подняться наверх