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Es war, kurz nachdem die Dotcom-Blase im Jahr 2002 geplatzt war. Sie studierten im zweiten Jahr Wirtschaft an der London School of Economics. Obwohl in ihren Interessen und Persönlichkeiten durchaus unterschiedlich, hatten sie sich aufgrund ihrer deutschen Herkunft sofort angefreundet. Die gemeinsame Sprache und Kultur verband. Doch weder die Herkunft noch die Sprache waren es am Ende, die aus ihnen einen Bund fürs Leben schmieden sollten.

Berger erinnerte sich an den Abend, an dem ihnen Coppenfeld seine Misere gestand, als wäre es gestern gewesen. Während er, Saum und Wittkowski zur Finanzierung des Studiums üppige monatliche Zuwendungen von ihren Eltern erhielten, stand Coppenfeld eine nicht unbeträchtliche Summe aus einem Treuhandfonds zur eigenen Verwaltung zur Verfügung, mit der er die Jahre in London auskommen sollte. Dem recht streng erzogenen Coppenfeld, der seine neuen Freiheiten in vollen Zügen genoss, war jedoch recht bald klar geworden, dass ihm das von seiner Familie überlassene Geld nicht auf Dauer für seinen Lebensstil ausreichen würde. So verdiente er sich ein zusätzliches »Taschengeld« mit spekulativen Geschäften an der Börse. Alles lief optimal – bis die Dotcom-Blase platzte.

»So eine verdammte Scheiße!«, jammerte Coppenfeld. »Ich bin komplett am Arsch. Selbst wenn ich ab jetzt nur noch in meinem Zimmer rumhänge und meinen Kopf in die Bücher stecke, habe ich in vier Monaten keinen Cent mehr.«

»Ruf deine Eltern an«, schlug Wittkowski vor. »Sie werden vielleicht nicht begeistert sein. Aber am Ende werden sie dich nicht hängen lassen.«

»Das meinst du!«, jammerte Coppenfeld weiter und riss sich vor Verzweiflung fast die Haare aus. »Mein Vater duldet keine Fehler, und schon gar nichts, was nicht seinem konservativen Weltbild entspricht. Er holt mich sofort nach Hause. Und das war’s dann mit London, Party und der LSE.«

»Gibt Schlimmeres«, gab Wittkowski zu bedenken.

Coppenfeld sah ihn entgeistert an. »Wieder zu Hause einziehen? Was soll es denn da bitte schön Schlimmeres geben?!«

Um ihren Freund auf andere Gedanken zu bringen, gingen sie später in einen Club. Doch das stürzte Coppenfeld in eine noch viel größere Krise, da ihm immer bewusster wurde, auf was er bald würde verzichten müssen.

»Was hältst du davon, wenn du dir das Geld einfach an der Börse zurückholst?«

Wittkowskis Vorschlag kam wie aus dem Nichts. Es war bereits früher Morgen, sie lagen gemeinsam auf einer tiefen Ledercouch des Clubs und warteten darauf, rausgeschmissen zu werden. Coppenfelds Problem war eigentlich schon lange nicht mehr ihr Thema gewesen.

»Sehr witzig«, lallte Coppenfeld. »Mit dem bisschen Rest, das noch übrig ist? Um das am Ende auch noch zu verlieren? Dann holt mich mein Alter nicht nur nach Hause, sondern enterbt mich.«

Berger und Saum reagierten erst gar nicht. In der Regel waren Wittkowskis Ideen nicht gerade die besten, schon gar nicht um diese Uhrzeit.

»Nein. Keine Spekulation. Dieses Mal sicheres Investment!«

Keiner reagierte.

»Einer meiner Kumpels aus dem Computerclub hatte da neulich so eine Idee. Ein wenig verrückt, aber ich glaube, sie könnte funktionieren. Und die Sache ist nicht mal illegal.«

»Und warum macht er es dann nicht selbst?«, warf Coppenfeld mit glasigen Augen ein.

»Weil er anders ist. Geld interessiert ihn nicht.«

»So ein Quatsch.«

Alle lachten, außer Wittkowski.

»Es ist so. Vielleicht fehlt ihm auch einfach das nötige Kleingeld.«

Drei komplett betrunkene Mädchen torkelten an ihnen vorbei. Einfache Beute. Wittkowskis Idee war damit erst mal vom Tisch. Doch schon am nächsten Abend präsentierte er sie ihnen erneut. Diesmal gelang es ihm, ihre ungebrochene Aufmerksamkeit zu erlangen.

Berger hatte nie so ganz verstanden, wie das, was Wittkowski vorgeschlagen hatte, wirklich funktionierte. Am Ende ging es um einen Informationsvorteil von Millisekunden, den man mithilfe von speziellen Programmen zur Platzierung von eigenen Ordern nutzen konnte. Voraussetzung für diesen Informationsvorteil war der elektronische Handel an der Börse, der in London bereits wenige Jahre nach dem sogenannten Big Bang von 1986 eingeführt worden war. Wittkowskis Plan beruhte auf der einfachen Logik, dass die Informationen an der Börse im elektronischen Handel nicht mehr über klassische Makler, sondern über ein Netz geteilt wurden. Und dieses Netz hatte nicht unbedingt an allen Stellen dieselbe Geschwindigkeit. Anleger, die einen schnellen Rechner und noch dazu schnellen Internetzugang hatten, konnten diesen Informationsvorteil nutzen, um den Börsenkurs leicht zu manipulieren und sich zwischen einzelne Geschäfte zu schalten. Die Margen waren zwar nicht hoch, dafür aber zu hundert Prozent sicher, da es immer einen Abnehmer gab, den man durch den Informationsvorsprung bereits kannte. Und spielte man mit genug Geld, dann addierten sich die geringen Margen zu beträchtlichen Summen.

Über seine Kontakte besorgte Wittkowski den Zugang zu drei der schnellsten Rechner der Universität, mit für damalige Verhältnisse hervorragenden Internetzugängen, sowie die entsprechenden Tradingprogramme. Saum und Berger steuerten das nötige »Kleingeld« aus ihren eigenen Vorräten bei. Dann begann das, was die Jungs später als ihre erste »wirkliche Arbeit« bezeichneten. Für rund einen Monat saßen sie von morgens bis abends an der Universität und handelten. Ein Monat, in dem sie jeden Abend fix und fertig ins Bett fielen. Ein Monat, in dem sie kaum aßen. Ein Monat ohne Alkohol. Doch nach diesem Monat hatten sie Coppenfelds gesamtes verspekuliertes Kapital wieder im Kasten – und sogar noch einiges mehr.

Die anschließende Feier artete komplett aus. Saum hatte in einem Umfang Kokain besorgt, mit dem man zehn Elefanten den Todesschuss hätte geben können, Wittkowski guten Whiskey. Zudem hatte Saum »zur Feier des Tages« ein Zimmer in einem Londoner Vorstadthotel gebucht, in dem er eine kleine »Überraschungsparty« organisiert hatte. Jeder, der Saum kannte, wusste, dass seine Überraschungen fast immer mit willigen oder bezahlten Frauen zu tun hatten. Die Vorfreude war entsprechend.

Jeder zog eine oder auch zwei Lines. Dann stiegen sie in den extra für diesen Anlass gemieteten Sportwagen und brausten los. Coppenfeld saß am Steuer. Noch nie hatte ihn Berger so euphorisch erlebt. Das Radio lief auf voller Lautstärke. Je näher sie dem Hotel kamen, umso ausgelassener wurde die Stimmung.

»Gib Gas, Coppi! No dilly-dally!«, brüllte Saum gegen die Musik an. »Wer hat noch nicht, wer will noch mal?« Er saß neben Berger auf dem Rücksitz und versuchte sich gerade noch eine Line zu legen.

Berger wollte es nicht übertreiben. Wittkowski hingegen war ganz heiß darauf. »Her damit! Her damit!«

»Hau du dafür mal den Whiskey nach hinten.«

Wittkowski gab ihm die Flasche. Alle hatten sie schon ziemlich einen intus, außer Coppenfeld.

»Es dankt!«, johlte Saum und nahm direkt einen ordentlichen Schluck.

Sie grölten gemeinsam zu der Musik aus dem Radio.

»Achtung!«, brüllte Wittkowski durch das Auto. Trotz seines Zustands war er der Erste, der sie bemerkte. Die Frau torkelte halb auf der Straße, die an dieser Stelle keinen Bürgersteig hatte. Sie schien betrunken – oder einfach nur sehr alt.

Coppenfeld reagierte sofort. Er riss das Steuer herum. Durch sein abruptes Manöver geriet der Wagen allerdings ins Schleudern. Während er versuchte, den Wagen durch ein Gegenmanöver wieder unter Kontrolle zu bekommen, flog Saums Kreditkarte mit dem Kokain durch den Wagen. Dann gab es einen dumpfen Schlag. Coppenfeld brachte den Wagen zum Stehen. Alle sahen sie nach hinten. Die Frau lag reglos auf der Straße. Ihre Gliedmaßen wirkten seltsam verdreht.

»Fuck.« Coppenfeld schlug immer wieder mit beiden Händen aufs Steuer. »Fuck, fuck, fuck!«

Berger öffnete die Tür. Noch bevor er aussteigen konnte, hielt ihn Saum zurück.

»Bist du verrückt!«, fuhr er ihn an, ehe Berger auch nur einen Fuß auf die Straße setzen konnte. »Sofort wieder Tür zu!«

»Warum?«

»Weil wir keine Spuren hinterlassen werden.« Er wandte sich an Coppenfeld. »Fahr weiter!«

»Aber …«

»Nichts aber! Willst du in den Knast?«

Sie fuhren nicht mehr in das gebuchte Vorstadthotel, sondern in eine kleine unscheinbare Absteige am anderen Ende von London. Erst dort untersuchten sie den Wagen, der, abgesehen von einer Beule auf der Beifahrerseite und einem zerbrochenen Scheinwerfer, nicht sonderlich unter dem Unfall gelitten hatte. Während Berger, Wittkowski und Coppenfeld komplett unfähig waren, Entscheidungen zu treffen, war Saum zu Hochform aufgelaufen. Er hatte vorgegeben, welche Straßen sie nutzen sollten, und zeigte Coppenfeld, wo er den Wagen über Nacht am besten abstellte. Am nächsten Morgen hatte er schon vor dem Frühstück in Erfahrung gebracht, wo sich die nächste Waschanlage befand. Er übernahm jetzt das Steuer. Und er war es auch, der der Mietwagenfirma meldete, dass der Wagen gestohlen worden war. Wo er den Wagen am Ende verschwinden ließ, hatte er ihnen bis zum heutigen Tag verschwiegen.

Keiner hatte gewollt, was passiert war. Doch wegen dieses Vorfalls ihre komplette Zukunft aufs Spiel setzen? Außerdem waren sie sich einig, dass die Frau nicht unschuldig gewesen war. Was torkelte sie nachts am Straßenrand herum! So empfanden sie ihre Tat mit der Zeit durchaus entschuldbar, schließlich hätte ein Geständnis die Frau nicht mehr lebendig gemacht. Und wie jedes schlechte Erlebnis hatte auch dieses seine gute Seite: eine lebenslange, unzertrennliche Freundschaft.

Homo Lupus

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