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Der Wolf sah Jean einfach nur an. Kein Zähnefletschen, kein wildes Knurren oder Heulen, wie man es aus Horrorfilmen kannte. Alles war gespenstig ruhig.

»Nicht bewegen!«, flüsterte Lena. Vor allem nicht wegrennen, dachte sie, sprach es aber nicht aus, damit Jean gar nicht erst auf die Idee käme.

Sie hob den Stock, den ihr Jean gegeben hatte, über den Kopf und ging langsam auf den Wolf zu. Der Wolf sah verunsichert zu ihr herüber. Dem vollen Fell und der Größe nach zu urteilen, war er einer der Jährlinge. Jetzt blickte er zu seinem Rudel zurück.

Auch Lena sah zu dem Rudel. Sie merkte, wie angespannt sie war. Dabei gab es eigentlich keinen Grund. Menschen werden von Wölfen nicht als Beutetier angesehen. Und Wölfe gehören auch nicht zu den Tierarten, die sofort angreifen, dazu sind sie viel zu scheu. Solange es eine Möglichkeit gibt zu flüchten, werden sie das tun. Ihr schlechter Ruf basiert mehr auf den Märchen und Geschichten, die man sich seit Jahrhunderten über sie erzählt. Fakt ist allerdings, dass es um ein Hundertfaches wahrscheinlicher ist, auf einer Weide von Kühen zertrampelt, als von einem Wolfsrudel verletzt zu werden. Doch all das Wissen beruhigte Lena nicht wirklich, denn leider konnte man nie hundertprozentig ausschließen, dass sich ein Wolf nicht doch anders verhielt und dass dieser hier ihrem Sohn etwas antun könnte. Wer wusste schon, was das Rudel für Erfahrungen mit Menschen gemacht hatte? An Tollwut wollte sie gar nicht erst denken.

Den Stock so über ihrem Kopf platziert, dass sie damit sofort zuschlagen konnte, bewegte sie sich langsam weiter auf den Jährling zu.

Der junge Wolf blickte jetzt zu dem größten Tier des Rudels, als wartete er auf Anweisung. Der Leitwolf sah kurz zu Lena, dann zu Jean. Dann ging er einfach weiter. Das Rudel folgte ihm. Auch der Jungwolf drehte ab und sprang seiner Familie hinterher. Kurz darauf waren sie im Gebüsch verschwunden und nicht mehr zu sehen.

Lena sprang auf ihren Sohn zu, der immer noch wie angewurzelt dastand und in die Richtung starrte, in die die Wölfe verschwunden waren. Sie umarmte ihn, drückte ihn so fest an sich, wie sie ihn noch nie gedrückt hatte. »Oh, Jean. Das hast du toll gemacht.« Tränen schossen ihr in die Augen.

Auch Jean presste sich an sie. Doch dann versuchte er, sich aus ihrer Umarmung zu lösen. »Mensch, Mami. Du verdrückst mich ja!«

Lena ließ ihn los. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. »Ich verdrück dich nicht. Ich habe dich nur so unendlich lieb.« Sie streichelte ihm über die Wange. »Hattest du gar keine Angst?«

»Quatsch.« Er schüttelte den Kopf. »Mama, waren das echte Wölfe?«

Sie nickte.

»Und wollte der mich essen?«

Lena schüttelte den Kopf. »Nein. Der Wolf war nur neugierig. Er war noch sehr jung. So wie du.«

Jean grinste. »Komm, Mama. Das müssen wir Papa erzählen! Unbedingt!« Er lief sofort los, blieb dann jedoch wieder stehen und rannte zu ihr zurück. Er ergriff ihren Stock. »Brauchst du den noch?«

»Nein. Nimm nur.«

»Wegen der Wölfe. Wenn sie wiederkommen.«

Eine knappe Stunde später hatten sie die große Weide, die an ihr Haus angrenzte, fast erreicht. Im Sommer grasten dort die Kühe des Nachbarn. Lena drückte sich durch das den Wald umgebende Gebüsch und bahnte den Weg für Jean. Und schon tauchte sie vor ihnen auf, die weite weiße Fläche, und dahinter, rund hundert Meter entfernt, das kleine alte Bauernhaus mit dem rauchenden Schornstein. Sie hatten es kurz nach Jeans Geburt gekauft. Michael und sie waren das Berliner Großstadtleben leid gewesen, die vielen Menschen und Touristen, die zunehmende Kriminalität, den Schmutz. Vor allem aber waren sie wegen Jean hier rausgezogen, da sie ihrem Kind ein Aufwachsen in der Natur, mit Tieren und weniger Schadstoffen ermöglichen wollten. Obwohl ihnen klar gewesen war, dass es viel Mühe machen würde, das Haus vernünftig zu renovieren, hatten sie sich sofort verliebt. Dass sie allerdings drei Jahre später immer noch nicht mit dem Renovieren fertig sein würden – die neue Küche kam erst in vier Wochen –, das hätte sich Lena selbst in ihren übelsten Träumen nicht vorstellen können. Und dass sie das anderthalb Stunden entfernte Berlin so häufig vermissen würde, auch nicht.

»Runter!«, forderte Jean. Er war die überwiegende Strecke des Heimwegs selbst gelaufen, doch vor rund einem Kilometer hatte er Lena dann doch gebeten, wieder in die Kraxe zu dürfen. Sie nahm sie vom Rücken und ließ ihn herausklettern.

»Aber Mama! Das mit dem Wolf, Mama, das erzähle ICH!«

»Ist doch klar.«

Hoffentlich hatte Michael schon das Mittagessen vorbereitet. Sie hatte einen wahnsinnigen Hunger. Und auch wenn Jean sich bisher noch nicht beschwert hatte, er sicherlich auch. Da konnte die gute Stimmung schnell kippen.

»Mama!« Jean zeigte auf die kleine Landstraße, die auf der einen Seite der Wiese vorbeiführte. Ein schwarzer Van fuhr dort entlang. »Besuch!«

»Der will nicht zu uns«, erklärte Lena.

Obwohl auf der Straße, die die zwei benachbarten Dörfer miteinander verband, sonntags eher wenig Verkehr war, war sich Lena sicher, dass sie keinen Besuch erwarteten. Michael hätte ihr auf jeden Fall gesagt, wenn er jemanden eingeladen hätte. Die Sonntage waren Familientage, die sie am liebsten allein verbrachten. Das war eine unausgesprochene Regel, die nur in den seltensten Fällen gebrochen wurde. Und nur nach Absprache.

»Schade.« Jean wandte sich von ihr ab. »Denen hätte ich auch vom Wolf erzählen können.« Er rannte durch das Gebüsch weiter in Richtung Weide. Dann stoppte er.

»Schau!« Er zeigte wieder auf den Van, der nun tatsächlich in den kleinen Schotterweg eingebogen war, der zu ihrem Haus führte. »Der will doch zu uns!«

Lena holte zu ihrem Sohn auf. Gemeinsam beobachteten sie durch das Gebüsch hindurch den Wagen, der auf dem großen Hof vor der alten Scheune zu stehen kam. Kaum hatte er geparkt, wurden auch schon die Seitentüren aufgeschoben, und zwei schwarz gekleidete Männer verließen den Wagen.

Lena merkte, wie ihr plötzlich ganz anders wurde.

»Wer ist das?«, fragte Jean.

»Keine Ahnung«, sagte Lena, was auch der Wahrheit entsprach. Aber sie überkam eine üble Vorahnung. Alte Bilder stiegen in ihr auf. Die Geschichte vor sechs Jahren. Damals war sie aufgrund ihrer Forschung in eine gefährliche Politintrige geraten, bei der sie nur knapp mit heiler Haut davongekommen war. Die Verantwortlichen hatte man zur Rechenschaft gezogen, allerdings waren die Hintergründe nie an die Öffentlichkeit gelangt, geschweige denn vollständig verarbeitet worden. Bislang hatte sie sich damit sicher gefühlt. Doch sie wusste zu viel. War heute der Tag, an dem sie die Sache einholte?

»Komm, Mama!« Jean war bereits dabei, sich aus dem Gebüsch zu kämpfen.

»Nein. Warte!«, zischte sie ihm hinterher.

Er blieb stehen und schaute sie irritiert an. Der Ton in ihrer Stimme ließ ihn zum Glück gehorchen.

Lena ergriff ihr Fernglas. Sie legte es an die Augen und stellte es scharf. Die Männer gingen in Richtung Haus. Was sie schon meinte, ohne Fernglas erkannt zu haben, wurde zur Gewissheit: Beide Männer trugen Pistolengürtel.

Lena griff in ihre Jackentasche und zog ihr Handy heraus. Sie wählte Michaels Nummer. Kein Freizeichen. Sie nahm das Handy vom Ohr und prüfte die Netzqualität. Nicht ein Balken war zu sehen. Diese verdammte Gegend hier draußen!

»Mist!«, fluchte sie leise.

»Was?«

»Ach, nichts. Ich habe nur keinen Empfang.«

»Wen willst du anrufen?«

»Papa.«

»Wegen dem Wolf?«

Lena sah erneut durch das Fernglas. Leider war der Van so geparkt, dass sie von ihrer Position aus die Eingangstür ihres Hauses nicht mehr sehen konnte.

»Mama, ich will das mit dem Wolf …«

»Ich weiß«, unterbrach Lena ihren Sohn herrisch. »Später, Liebling, versprochen.« Sie wollte Jean nicht unnötig Angst einjagen. Sicherlich gab es für diesen »Besuch« eine ganz harmlose Erklärung.

Sie sah erneut auf ihr Handy, als würde der Empfang allein durch das Draufstarren besser werden. Dann überlegte sie, zu den Nachbarn zu gehen, den Tönnes, um Michael vom Festnetz aus anzurufen. Doch bis zum Hof der Tönnes waren es fast zwei Kilometer. Mit Jean auf dem Rücken brauchte sie dafür bestimmt zwanzig Minuten, wenn nicht länger.

Während sie weiter überlegte, was sie tun könnte, sah sie, wie die zwei Männer wieder zum Vorschein kamen und auf den Van zugingen. Lena beobachtete sie durch ihr Fernglas. Der eine öffnete die Seitentür, während der andere über das Feld blickte, als würde er etwas suchen. Zwei Spuren führten über die ansonsten unberührte Schneedecke. Die von Jean und ihre. Geradewegs auf sie zu.

»Bück dich!«, flüsterte Lena Jean zu, der zum Glück sofort gehorchte. Sie selbst ging ebenfalls in die Hocke.

Nun verließ der zweite Mann wieder den Wagen. Er hatte jetzt etwas in der Hand. Lena erhob sich leicht, um besser sehen zu können. Sie legte erneut die Objektive an die Augen.

»Scheiße«, rutschte es ihr heraus, während sie sich wieder zu Jean kniete. Sie hatte genau in die Linsen eines Fernglases gesehen, das auf sie gerichtet war.

»Sagt man nicht! Sagt man nicht!« Jean grinste.

Lena zog ihn hinter sich durch das Gebüsch in Richtung Wald.

»Ich will zu Papa!«, protestierte er.

»Später. Wir gehen erst noch zu den Tönnes.«

»Nein, Mama. Nicht zu den Tönnes. Ich hab Hunger.«

Lena blieb stehen. Sie beugte sich zu ihrem Sohn hinunter. »Jean, bitte, steig jetzt einfach in die Kraxe. Und dann lässt du Mama so schnell laufen, wie es geht. Ich erkläre dir alles später.«

»Wegen der Wölfe?«, fragte Jean.

Wie kam er nur darauf? Aber vielleicht gab er dann Ruhe. »Ja.«

Lena riss sich die Kraxe von den Schultern. Dann half sie ihm beim Einsteigen. Ein letztes Mal blickte sie zu ihrem Haus zurück. Jetzt standen beide Männer vor dem Van. Der mit dem Fernglas in der Hand zeigte genau in ihre Richtung.

Homo Lupus

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