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Es war bereits später Abend, als Ewalds Männer Lena bei ihr zu Hause absetzten. Im Wohnzimmer brannte noch Licht. Während Lena in ihrer Tasche nach dem Haustürschlüssel suchte, fielen ihr ein paar Fußspuren im frisch gefallenen Schnee auf. Ein näherer Blick sagte ihr sofort, dass diese eindeutig nicht von Ewalds Leuten oder ihr stammten. Es waren Abdrücke von Schuhen mit Absätzen, die tief in den Schnee eingedrungen waren, wahrscheinlich Damenstiefel.

Hatte Michael etwa noch Besuch? Und wenn ja, von wem?

Lena ging zum Wohnzimmerfenster und spickte durch die Scheiben. Es dauerte einen Augenblick, bis sie ihn in seinem Lieblingssessel entdeckte – einem aus ihrer Sicht hässlichen amerikanischen Giganten, den man mit einem seitlich angebrachten Hebel in eine Art Liege verwandeln konnte. Der Fernseher lief, sonst war aber niemand zu sehen. Dafür fiel Lena etwas anderes auf; die Schauspieler im Fernseher, obwohl allesamt keine Hollywoodstars, waren ihr wohlbekannt.

Dieser Schuft!

Sie ging zur Haustür und öffnete sie leise. Dann riss sie die Tür zum Wohnzimmer auf.

»Verräter!«

Michael zuckte erschrocken zusammen. »Lena!« Er hielt sich die Hand ans Herz. »Hast du mich erschreckt!«

»Zu Recht«, schimpfte Lena. »Schaust einfach unsere Serie weiter. Ohne mich!«

Es war in der letzten Zeit zu ihrem abendlichen Ritual geworden. Sie kümmerte sich um das Abendbrot, brachte Jean ins Bett und las ihm noch eine kurze Geschichte vor, dann schlüpften sie und Michael in ihre Pyjamas, holten eine Tüte Chips oder eine Tafel Schokolade aus dem Schrank und setzten sich vor den Fernseher. Diese neuen Serien waren wirklich schlimm, so gut waren manche von ihnen. Am liebsten hätten sie oft zwei Folgen hintereinander angesehen, doch das sprach gegen ihre zwei Regeln: nur eine Folge pro Abend. Und man wartete auf den anderen.

»Sorry!« Michael grinste verlegen. Er kam auf sie zu, küsste und drückte sie kurz. »Wir schauen sie noch mal gemeinsam. Von vorn. Okay?«

»Aber wehe du spoilerst!«

»Keine Sorge.«

Sie ließ sich erschöpft auf die große englische Ledercouch fallen, einem wirklichen Schmuckstück im Gegensatz zu Michaels Sessel. Kein Wunder, dass sie es mit in die »Ehe« gebracht hatte. Sie schätzte Michael für vieles, aber nicht für seinen Möbelgeschmack.

»Und?«, fragte er. »Was wollte Ewald?«

Lena erzählte ihm von dem wahrscheinlich bevorstehenden Anschlag, Ewalds Problemen bei der Unterwanderung des Clans und dass sie ihm leider auch nicht hatte weiterhelfen können. Und sie berichtete davon, wie das Treffen geendet hatte.

Für einen Moment war es im Raum totenstill gewesen. Lena hatte zu dem »Sunnyboy« gesehen, der an seinen Fingernägeln fummelte, während er auf die Reaktion von Ewald wartete. Die »Stasi-Statistin« hatte sich mal wieder etwas notiert.

»Wie, es gibt in Wolfsrudeln kein Omega-Tier?« Fallender reagierte vor Ewald. Seine Pupillen hatten sich geweitet. Und auch wenn er seine Stimme unter Kontrolle hatte, merkte Lena, dass er sich innerlich darauf vorbereitete, auf sie loszuspringen.

»So ist es.«

Fallender sah zu Ewald, dann lachte er hohl. »Sie wollen also die Ergebnisse jahrzehntelanger Wolfsforschung infrage stellen?« Jetzt wurde sein Ton schon schärfer.

»In der Tat.«

Wieder lachte Fallender kurz auf. »Wo haben Sie denn die ausgegraben?«, fragte er Ewald gespielt brüskiert.

Lena fuhr ein kalter Schauer über den Rücken. Das konnte sie am wenigsten ausstehen, Menschen die über sie redeten, als wäre sie gar nicht anwesend. Wer meinte dieser Typ eigentlich, wer er war? Wollte ausgerechnet er ihr erzählen, wie Wolfsfamilien funktionierten, nur weil er ein populärwissenschaftliches Buch über sie gelesen hatte?

Früher wäre sie spätestens jetzt ausgerastet. Noch als Studentin wäre sie aufgestanden, hätte nach etwas gesucht, mit dem man Fallender bewerfen könnte, und hätte genau das dann auch getan, während sie ihn übelst beschimpft hätte. Doch mit der Zeit hatte sie gelernt, sich mit unterschiedlichen Methoden halbwegs im Zaum zu halten. Eine davon war, sich Fallender als kleinen Jungen vorzustellen, der ihr so dermaßen unterlegen war, dass es einfach nicht richtig erschien, ihn anzufluchen. Genau das tat sie jetzt.

»Frau Bondroit.« Ewald hatte sich ihr zugewendet. »Das, was Sie da behaupten – ist das bewiesen oder nur ihre persönliche Meinung?«

Was für eine Frage? Was war denn in den Naturwissenschaften schon bewiesen? Selbst große Biologen und Nobelpreisträger hatte man immer wieder widerlegt. Aber natürlich war es der aktuelle Stand der Forschung. Mit etwas anderem würde sie – im Gegensatz zu diesem Quacksalber – nicht hausieren gehen.

»Es ist das Ergebnis meiner neuesten Beobachtungen, aber nicht nur von mir, sondern auch von vielen Kollegen. Es gibt Veröffentlichungen dazu. Früher war man da in der Tat anderer Ansicht.« Lena ärgerte sich, dass sie es für nötig empfunden hatte, auf die Meinungen anderer zu verweisen.

Sie konzentrierte sich wieder auf Fallender und musste feststellen, dass sie sich ihn erschreckend gut als Kind vorstellen konnte. Sie sah es förmlich vor sich, wie er auf dem Schulhof von seinen Mitschülern verprügelt wurde.

»Ha!« Fallender lachte erneut. »Ihre Beobachtungen!« Er sagte das, als würden ihre Beobachtungen nun wirklich keine Rolle spielen. »Für welche Universität oder Forschungseinrichtung arbeiten Sie noch gleich?«

»Gar keine.«

Alle im Raum starrten sie an. Zumindest kam es Lena so vor. Sie beschlich sofort ein ungutes Gefühl. Eigentlich war es ihr egal, dass sie gerade ihr eigenes Forschungsprojekt betrieb und selbstständig war. Für die Familie und Jean war es zumindest das Beste. Jetzt wäre es ihr anders lieber gewesen.

»Hatten Sie nicht dieses Angebot vom Max-Planck-Institut, nachdem Sie Ihren Lehrauftrag an der Universität in Berlin gekündigt hatten?«, fragte Ewald nach.

»Ja«, sagte Lena. »Aber das habe ich abgelehnt. Denn dafür hätten wir nach Bayern ziehen müssen.«

Sie musste schlucken. Sie wurde von zwei Naturschutzverbänden bei ihrer Wolfsforschung finanziell unterstützt, die ihre Arbeit sehr schätzten. Doch wenn sie auf Menschen wie Fallender traf, dann merkte sie, dass das Einzige, was auf dieser Welt zählte, die Schulterklappen waren, die man trug. Arbeitete man für eine prominente Universität, war jeder Schwachsinn angesehene Forschung. Arbeitete man für sich selbst, wurde man sofort als Hobbybiologe abgestempelt.

Sie atmete tief durch. »Die bisherige Annahme einer strikten Hackordnung in Wolfsrudeln beruhte auf der Beobachtung von gefangenen Wölfen. In der Freiheit hingegen …«

»Und so weiter und so fort«, unterbrach sie Fallender.

»Herr Ewald!« Lena war kurz davor, doch noch zu explodieren. Sie sah ihn Hilfe suchend an. Er wusste doch, dass sie eine hervorragende Biologin war. Warum sonst hatte er um ihre Hilfe gebeten?

»Vielleicht erklären Sie einfach noch mal weiter Ihren Ansatz«, bat Ewald Fallender, anstatt sie zu unterstützen.

»Sehr gern.« Fallender warf Lena einen vernichtenden Blick zu. »Denn ganz ehrlich, unabhängig davon, was diese Biologin für ›Beobachtungen‹«, die Gänsefüßchen waren mehr als deutlich herauszuhören, »gemacht hat – letztlich sind mir Wölfe schnuppe. Sie bieten eine schöne Metapher, wenn ich in meinen Seminaren etwas erklären möchte. Das, was ich jedoch ganz sicher weiß – und was für Ihren Fall entscheidend bleibt: Beim Menschen gibt es das Omega-Tier. Ich treffe sie täglich in meinen Seminaren, ausgegrenzte Individuen, auf deren Kosten sich lustig gemacht wird, Männer, bei denen die Frauen vom Tisch aufstehen, wenn sie sich dazusetzen, Frauen, über deren fette Hintern noch während ihres Vortrags hinter vorgehaltener Hand gelästert wird und die sofort unterbrochen werden, wenn sie auch mal etwas sagen wollen …«

Lena schloss die Augen, während sie weiter zuhörte. Ja, man konnte es sich einfach machen. Man konnte alles über einen Kamm scheren, Äpfel mit Birnen vergleichen und mit einfachen Interpretationen versuchen, die Welt zu erklären. Da riss man sich als Forscher ein Bein aus, stellte Thesen auf, um sie jahrelang in akribischer Arbeit zu falsifizieren, bis sie standfest untermauert waren. Doch wozu? Damit am Ende Scharlatane wie Fallender mit ihren einfachen Lösungen die Entscheidungsträger berieten? Wie wütend sie das machte.

Wieder spürte sie, wie es in ihr brodelte, wie sie am liebsten aufgesprungen wäre, um Fallender schreiend eines Besseren zu belehren. Doch sie schaffte es erneut, sich im Griff zu halten. Sie atmete tief in den Bauch und hielt ihre Augen geschlossen, damit Fallenders arroganter Blick sie nicht zusätzlich provozieren konnte. Gleichzeitig suchte sie krampfhaft nach einer Idee, wie sie ihm seine Unverschämtheiten heimzahlen konnte.

»Frau Bondroit!« Es war die Stimme von Ewald.

Sie ließ ihre Augen noch einen Moment geschlossen, spürte jedoch, dass sich etwas im Raum verändert hatte. Als sie die Augen öffnete, sah sie, dass Ewald aufgestanden war und sich vor ihr aufgebaut hatte.

»Jetzt spielen Sie mal nicht die beleidigte Leberwurst. Verstehen Sie denn mein Problem nicht. Wir haben nur noch elf Tage bis zum Anschlag. Und drei Tage später wird gewählt. Können Sie sich vorstellen, was dieser Anschlag neben den direkten Schäden für politische Auswirkungen haben könnte? Sofort haben wir wieder die elende Diskussion darüber, dass alle Einwanderer und Muslime Kriminelle sind. Und welche Parteien davon profitieren, wissen Sie auch. «

An die Wahl hatte sie noch gar nicht gedacht. Dennoch. »Klar, ich verstehe Sie. Und Sie müssen machen, was Sie für richtig halten. Aber wenn Sie dazu meinen Segen wollen, kann ich Ihnen den nicht geben. Nur weil man etwas unter Zeitdruck macht, heißt das nicht, dass es richtig ist, einem pseudowissenschaftlichen Vorschlag eines selbst ernannten Wolfsspezialisten zu folgen.« Keine wirklich vernichtende Retourkutsche, aber hoffentlich doch zumindest ein kleiner Schlag in die Magengrube.

»Jetzt hören Sie aber mal!«, echauffierte sich Fallender.

»Verstanden.« Ewald ging auf seine Beschwerde zum Glück nicht ein. »Haben Sie einen besseren Vorschlag?«

Ewalds Leute arbeiteten jetzt seit Monaten an dem Fall, aber von ihr erwarteten sie einen brauchbaren Vorschlag innerhalb von Minuten. Natürlich hatte sie keinen. »Leider nein.«

»Ach, ne!« Fallender suchte den Blickkontakt zu Ewald. »Die Masche ist mir ja am liebsten.«

Wiederum ignorierte Ewald Fallenders Kommentar, was ihm Lena hoch anrechnete. Er wandte sich an seine Kollegen. »Was meinen Sie?«

»Wir sollten es zumindest probieren«, sagte der Sunnyboy nach kurzem Überlegen. »Ich denke, der Zeitpunkt könnte günstig sein. Sie wissen schon, wegen dem familieninternen Streit.«

Wie süß, dachte Lena. Er kann sogar sprechen. Sie richtete sich an ihn. »Wie war noch mal Ihr Name?« Lena war sich nicht sicher, ob Ewald ihn überhaupt namentlich vorgestellt hatte.

»Locke.«

»Herr Locke. Eine kleine Familienfehde?« Sie sah ihn ernst an. »Wie häufig streiten Sie sich mit Ihren Eltern und Geschwistern?«

Locke zuckte mit den Schultern.

»Denken Sie mal an Weihnachten. Ist ja noch gar nicht lange her. War da alles harmonisch?«

»Was hat das hiermit zu tun?« Locke sah unsicher zu Ewald und dem Stasi-Pagenkopf.

»Wir kennen sie doch alle, die Streitigkeiten in der Familie. Hoch emotional, beleidigend, scheinbar zerstörerisch. Und dennoch, würden Sie deshalb Ihre Geschwister, Ihren Vater oder Ihre Mutter ans Messer liefern?«

Lena stand auf und hielt Ewald, der immer noch vor ihr stand, die Hand zum Abschied entgegen. »Wiedersehen.«

Sie hatte beschlossen, dass es jetzt das Beste war zu gehen. Nur so konnte sie vermeiden, dass es nicht doch noch zu einem Eklat kam, den sie später bereuen würde.

»Und …« Sie sah noch einmal in die Runde. »Ein arabischer Clan ist sicherlich nicht mit einem Wolfsrudel gleichzusetzen. Vielleicht gibt es ein schwarzes Schaf, das bereit wäre, seine Familie zu verraten. Aber eines kann ich Ihnen sagen: So äußerlich zerstritten und kaputt eine Familie auch erscheinen mag, unterschätzen Sie nie ihre Bindungskräfte.«

Michael hatte sich in der Zwischenzeit neben sie auf die Couch gesetzt und massierte ihren Nacken. Ihn schienen ihre Ausführungen eher zu amüsieren, als zu erschrecken.

»Du bist einfach unverbesserlich«, sagte er kichernd. »Und wie hat Ewald auf deinen grandiosen Abgang reagiert.«

»Das ist nicht witzig!«, beschwerte sich Lena, doch auch sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Ich vermute, dass er es trotzdem versuchen wird. Ein Agent wird jetzt auf das vermeintliche Omega-Tier zugehen, um es zu drehen. Ich nehme mal stark an, dass man Geld anbieten wird. Wofür man für so ein Vorgehen allerdings diesen Idioten brauchte, ist mir schleierhaft.«

»Zur Identifizierung des Omega-Tiers.«

»Ich weiß nicht.«

»Egal. Und wo ist das Problem?«

»Na ja …« Lena drehte sich um und strich Michael ein paar Haare von der Stirn. »Dass dieser von Fallender identifizierte Prügelknabe einfach nicht mitmacht und den Agenten verpfeift. Und was ein Clan mit einem Verräter macht, der versucht, die Familie zu unterwandern, das kann ich mir leider sehr gut vorstellen.«

»Ewald wird schon wissen, welches Risiko er eingeht.«

Lena sah Michael lange an. Sie hatte eigentlich keine Lust mehr auf Diskussionen. »Vielleicht.« Sie atmete tief durch. »Mir erscheint das ganze Vorgehen jedoch eher getrieben und unseriös. Ich bin zwar keine Clanspezialistin oder Psychologin, aber mit Systemen kenne ich mich ein wenig aus. Und die Familie ist ein System, das sich, wie jedes System, selbsterhalten möchte, weil sich daraus erhebliche Überlebens- und damit evolutive Vorteile ergeben. Verrat ist hier eher die Ausnahme als die Regel.« Sie musste an all die Missbrauchsfälle in Familien denken oder Fälle häuslicher Gewalt, die nie zur Anklage kamen; denn wer schickte schon gerne den eigenen Mann, Vater oder Onkel ins Gefängnis. »Und daher fürchte ich, dass Ewald vor ein paar Stunden ein Todesurteil gefällt hat.«

»Möglich«, sagte Michael. »Dennoch kann ich Ewald irgendwie verstehen. Selbst wenn er einen Agenten verliert, darf er diese letzte Chance unversucht lassen? Vor allem wenn es darum geht, einen Anschlag und damit ein noch viel größeres Unglück zu verhindern?«

Lena war zu müde, um weiter zu widersprechen. Sie küsste Michael auf die Stirn, obwohl ihr eigentlich gar nicht danach war. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn er ihr einfach nur zugestimmt hätte.

Sie beschloss, das Thema zu wechseln. Schließlich stand da immer noch Michaels seltsamer Rückzug vom Morgen im Raum. Die Ereignisse hatten sich so überschlagen, dass sie den schon fast vergessen hatte. Und dann die Fußspuren im Schnee.

»Hattest du eigentlich noch Besuch?«

Sie hatte das Gefühl, dass Michael kurz ihrem Blick auswich. Doch dann sah er ihr wieder in die Augen.

»Natasha war noch da. Wegen dem möglichen Umzug. Wir haben uns heute Morgen die neuen Räume angesehen. Natasha ist nicht ganz überzeugt. Das Objekt ist zwar moderner und eigentlich genau das, was wir suchen, aber auch leider etwas kleiner.«

Deswegen hatte er also losgemusst. Warum hatte er das nicht auf den Zettel geschrieben? »Und es liegt wahrscheinlich keine hundert Meter von ihrer Wohnung entfernt.«

»Woher weißt du das?« Michael schaute sie überrascht an.

»Weil ich Natasha kenne.« Natasha, die Leiterin der Behindertenwerkstatt, war sicherlich ein guter Mensch. Lena mochte sie trotzdem nicht. Das hatte seine Gründe. Obwohl Natasha viel Wert auf die Gleichberechtigung von Frau und Mann legte, kannte Lena nur wenige Menschen, die mit Frauen und Männern in so unterschiedlichen Tonlagen sprachen. Wenn sie mit Lena oder anderen Frauen redete, bekam Natasha einen seltsam hohen und fast hysterischen Gackerton in der Stimme. In Gegenwart von Männern hingegen »gurrte« sie. Und sie berührte Männer gerne am Arm, an der Hand oder sogar am Bein, wenn es sich anbot. Das war Lena schon häufiger aufgefallen. »Für die Werkstatt ist gut, was für sie selbst gut ist. Oder nicht?«

Michael musste lachen. »Gut beobachtet!«

»Danke. Ich muss jetzt trotzdem ins Bett.«

»Schon?« Michael wirkte ein wenig irritiert.

Sie nickte. »Sorry, ich bin fix und fertig.« Sie stand auf und ging in den Flur, von dem eine schmale Holztreppe in den ersten Stock führte. »Komm doch mit?«

Sie blieb stehen und wartete auf eine Antwort.

»Vielleicht gleich«, kam es nach einer Weile zurück.

Lena überkam ein schlechtes Gewissen. Es war nicht richtig gewesen, jetzt einfach aufzustehen. Michael hätte sich gerne noch etwas unterhalten, das spürte sie. Aber morgen war auch noch ein Tag. Er würde es verstehen.

Nachdem sie sich umgezogen und die Zähne geputzt hatte, ging sie in Jeans Zimmer. Die Tür war angelehnt. So wollte es Jean immer, sonst war es ihm zu dunkel und er hatte Angst. Leise drückte sie sich durch den Türspalt und kniete sich vor sein Bett.

Jean lag auf dem Rücken, die Arme und Beine weit von sich gestreckt. Er atmete ruhig, kaum hörbar. Lena beugte sich über ihn und gab ihm einen Kuss. Dann schaute sie ihn einfach nur an. Etwas Warmes schoss durch ihren Körper. Es war, als hätte man ihr eine heiße Flüssigkeit in die Adern gespritzt, die sich nun langsam in ihr ausbreitete. Und dann merkte sie, wie ihre Augen feucht wurden. Das war erst seit der Schwangerschaft so. Eine bestimmte Melodie im Radio, ein schmalziger Film, Jean, der sie auf eine bestimmte Weise ansah – und schon setzte irgendein unkontrollierbarer biochemischer Prozess ein, und ihr flossen die Tränen.

Kurz überlegte sie, ob sie ihn nicht mit zu sich ins Bett holen sollte. Etwas Warmes, Weiches, Unschuldiges neben sich, das war so unglaublich beruhigend. Doch da gab es auch die kleinen Kinderfüße, die ihr mitten in der Nacht ins Gesicht oder in die Brust traten.

Erneut gab sie ihrem Sohn einen Kuss.

Die eigenen Kinder. Sie machten das Leben nicht gerade einfacher. Berufliche Ambitionen blieben auf der Strecke. Ihre kaum zu sättigenden Bedürfnisse, die schlaflosen Nächte, die viele Aufmerksamkeit, die sie forderten und die einem dann an anderer Stelle fehlte. Doch gab es irgendetwas auf der Welt, was man mehr lieben konnte? Könnte man sie jemals verraten? Und würden sie es tun?


Homo Lupus

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