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ОглавлениеMilenas Wut
Mit erhob‘nem Scheinen
Steht der Mond auf totenstillen Hainen,
Seufzend streicht der Nachtgeist durch die Luft.
Nebelwolken schauern, Sterne trauern
Bleich herab, wie Lampen in der Gruft.
Gleich Gespenstern, stumm und hohl und hager,
zieht in schwarzem Totenpompe dort
ein Gewimmel nach dem Leichenlager
unterm Schauerflor der Grabnacht fort …
Friedrich Schiller, aus »Eine Anthologie auf das Jahr 1782«, Gedichte
I
Montag, 7. Juli 2008
Kloster Veßra, Südthüringen
In der Klausur des Klosters standen fassungslos die drei Frauen vom Museum, neben ihnen stand etwas unschlüssig ein Uniformierter.
Als Milena zu der kleinen Gruppe stieß, waren die wichtigsten Fakten bereits von dem Uniformierten notiert. Renate sah Milena kommen, lief auf sie zu und umarmte sie. Dabei fing sie zu weinen an und brabbelte etwas Unverständliches in ihrem Dialekt in Milenas Achselhöhle.
Elvira und Elke standen mit geröteten Augen neben dem Polizisten, der dem Gefühlsausbruch von Renate hilflos ausgeliefert war. Er wusste nicht, was er vor lauter Verlegenheit machen sollte. Die Frauen waren allesamt in einer bedenklichen Verfassung. Bereits als er eintraf, standen zwei Frauen weinend vor dem groben Mauerwerk, tasteten an den Steinen herum, als ob noch etwas von dem Bild übrig geblieben war.
Selbst der Fußboden, blank gescheuerte Dielen, war blitzsauber, so als ob das Abschlagen des Wandbildes keinerlei Spuren hinterlassen hätte.
Milena stand fassungslos vor dem leeren Rechteck, an dem sie noch vor drei Tagen sorgsam gearbeitet hatte, stets darauf bedacht, kein Farbpigment zu beschädigen. Und jetzt war alles einfach weg, verschwunden, so als ob ein Maurer eine brüchige Wand abgeschlagen hätte.
Was war hier los?
Renate hatte ihre Bluse nassgeweint. Sie traute sich auch nicht, die kleine Frau von ihrer Seite weg zu schieben. Ihre Beine wurden plötzlich wackelig wie Zitterpudding. Ein Stuhl! Wo war ihr Stuhl?
Elvira bemerkte Milenas suchenden Blick.
»Woort emau, ich hau där ebbes zu setze!«
Milena verstand zwar nicht, was sie gesagt hatte, spürte aber, dass Elvira das Richtige machen würde.
Mit einem Seufzer ließ sie sich auf die kleine Holzbank niedersinken, Renate dicht neben sich, die ebenfalls noch Platz fand auf dem schmalen Bänkchen.
Der Polizist befragte nun sie.
»Was genau wurde hier entfernt? Die Frauen erzählen mir etwas von einer »Henneberger Grafenparade«. Was kann ich mir darunter vorstellen?«
Sie holte tief Luft, erklärte ausführlich, was für ein einzigartiger Schatz die »Grafenparade« war, wie sie direkt auf den Putz gemalt wurde und was für ein barbarischer Akt der Diebstahl war. Möglicherweise wäre das gesamte Wandbild unwiederbringlich zerstört. Sie berichtete auch, dass nur wenige Eingeweihte überhaupt Kenntnis von dem Kunstwerk hatten und sie damit beschäftigt war, es vor dem Zerfall zu schützen. Dass der Zustand des Wandbildes kritisch war, bedroht durch abbröckelnden Putz, ausblühenden Salpeter und Schwarzschimmel. Dann berichtete sie dem Polizisten noch von dem ominösen Todesfall letzte Woche.
Der Uniformierte stutzte.
»Ominöser Todesfall? War der unbekannte Tote auf dem Sofa etwa hier gefunden worden?«
»Ja, natürlich! Stand doch sogar in der Zeitung!«
Der Polizist zuckte mit den Schultern.
»Ich komme aus Lengsfeld. War da nicht mit bei.«
»Gibt es denn keine Kommunikation untereinander bei euch? So was spricht sich doch rum!«
Etwas verlegen trippelte er hin und her, erzählte etwas von viel zu tun und Lappalien, wenn mal ein Toter gefunden wurde. Dann wandte er sich wieder dem freiliegenden Mauerwerk zu.
»Scheint ein Profi gewesen zu sein. Alles ganz sauber abgetragen. Aber da schicke ich ihnen noch mal einen Kollegen von der Abteilung »Einbruch & Diebstahl« vorbei.«
Er grüßte kurz, froh, den weinenden Frauen entkommen zu können und setzte sich auf seinen Motorroller, eine uralte »Simson-Schwalbe«, die immer noch laut knatternd ihren Dienst versah.
»Boos mache mer nu?«, Elke schien als erste ihre Fassung wiedergewonnen zu haben.
»Erschde moa än Kaffee!«, Elvira wirkte plötzlich entschlossen und setzte sich in Bewegung. Renate hatte aufgehört zu weinen, musste sich bloß andauernd in ein riesiges, kariertes Taschentuch schnäuzen. Und Milena trabte hinter den drei Frauen wie eine mechanische Aufziehpuppe her, vollkommen schockiert über die Untat.
In der Kantine begann Elvira gleich herumzuwirtschaften, suchte Tassen und Teller, holte aus dem Kühlschrank eine große Tüte, die sie wohl für den Nachmittagskaffee mit anbieten wollte. In der Tüte lagen Quarktaschen und Mohnschnecken. Sie verteilte auf jeden Teller etwas davon. Die Kaffeemaschine pfauchte und gluckerte, der große Glaspott füllte sich mit dem tiefbraunen Elixier.
Dankbar griffen alle zu, bissen herzhaft in die Teilchen und schlürften den heißen Kaffee.
»Un nu?«, ergriff Elke wieder das Wort.
»Wir müssen den Stiftungsrat informieren. Alles Weitere liegt nicht mehr in unserer Hand.«
Milena hatte sich inzwischen auch wieder gefangen. Sie musste unwillkürlich an den Toten aus Haus 11 denken. Vor dem standen auch ein Teller und eine Tasse, die aus der kleinen Kantine stammten. Wie war der Mann an die Utensilien gekommen? Renate schloss abends immer ab. Hatte er einen Nachschlüssel?
»Au, das wird noch Mecker geben.«, Renates erster Satz seit ihrer Heulattacke war nicht gerade optimistisch. Milena wurde aus ihren Gedanken gerissen.
»Ob die uns nausschmeße?«
»I wo! Doa kööme mii dooch ned dafüür. Dos worn Brofis, kooste geglooi.«, Elvira war entrüstet. Milena verstand wieder mal nichts. »Wer hat‘s denn entdeckt?«
Elke meldete sich. »Ich hab doch früh immer meine Runde, schließe alles auf und schau nach den Lichtern in den einzelnen Sälen. Und da hab ich es entdeckt. Mir war schon so komisch beim Reingehen. Die Tür war nämlich nicht verschlossen. Dabei bin ich mir sicher, gestern abgeschlossen zu haben.«
»War der Dieb also mit einem Schlüssel ausgestattet?«
Renate und Elvira zuckten mit den Schultern.
Woher sollte der Dieb denn den Schlüssel haben? Am Schlüsselbund fehlte keiner. Milena musste an den Teller und die Tasse denken. Es musste Nachschlüssel geben!
»Ob das einer allein war?«, Milena fragte sich das schon die ganze Zeit. »Überlegt mal, das Bild ablösen von der Wand, den Schutt wegräumen, saubermachen … und das alles in einer Nacht?«
Elke nickte ganz langsam mit dem Kopf. Renate schaute etwas verdutzt zu den anderen Frauen. »Wäre gut möglich. Für einen allein schon eher eine Mammutarbeit. Aber wo ist denn der ganze Schutt? Sollten wir vielleicht mal das Gelände absuchen?«
Elvira schüttelte den Kopf. »Gleich hinter der Klausur fließt die Werra. Wenn ich der Dieb wäre, würde ich alles über den Fluss entsorgen.«
Milena stimmte ihr zu. Soviel Spuren wären sowieso nicht vorhanden. Es sehe eher nach der Tat von Profis aus, die nichts dem Zufall überlassen würden.
Die Kaffeemaschine zischte kurz, lenkte die Aufmerksamkeit der Frauen auf den schwarzen Sud, der wie ein Zaubertrank in dem Glaspott schimmerte.
»Ah, ja! Kaffee!«
»Wer will noch eine Tasse?«
Geräuschvoll schlürften die vier Frauen den heißen Kaffee und schwiegen für ein paar Minuten. Milena wurde es schlecht bei dem Gedanken, dass vor wenigen Stunden in diesem abgeschiedenen Raum ein Mörder gestanden hatte.
Der Wochenbeginn war alles andere als gewünscht verlaufen. Sie suchte in ihrer Handtasche ihr Notizheft mit allen Telefonnummern. Als erstes musste sie die Zentrale der Schlösserstiftung in Rudolstadt informieren.
II
Montag, 7. Juli 2008
Schloss Heidecksburg, Rudolstadt
In den Räumen der Thüringer Schlösserstiftung auf der Heidecksburg herrschte eine ungewohnte Stille. Es war Urlaubszeit und die meisten Mitarbeiter waren irgendwo an der Küste oder in den Bergen.
Ein Arbeitsplatz jedoch schien von dem trägen Julinachmittag gänzlich unberührt zu sein. Eine kleine Frau mit wilder Lockenpracht tippte geschäftig auf der Tastatur ihres Computers herum, blätterte in diversen Folianten, schrieb mit einem Stift Notizen auf einen kleinen Papierblock und summte dazu Lieder. Nebenan lief ein Radio, schmetterte Schlager der Siebziger Jahre in die leeren Räume und animierte zum Mitsingen. Gerade hatte das ungarische Energiebündel Kati Kovacs ihr »Wind komm‘, bring den Regen her« voller Leidenschaft durch den Äther geschickt, jetzt stimmte die tschechische Nachtigall Helena Vondrackova ihren »Archimedes« an.
Angela Zeimitzsch fühlte sich sichtlich wohl. Keiner störte sie bei ihrem Tun und niemand beschwerte sich über ihren nostalgischen Musikgeschmack.
Dr. Knobbrich, ihr Chef, war auf einer Fachtagung in Kieslegg am Bodensee, also weit weg. Sie hatte freie Hand, konnte sich ihren Arbeitstag einteilen, wie sie es wollte.
Die neue Stellvertreterin von Dr. Knobbrich, eine österreichische Restauratorin, die bereits Erfahrungen mit Burgen und Schlössern in ihrer Heimat gesammelt hatte, war schon nach Hause gegangen. Sie erwartete eine Lieferung, sagte sie jedenfalls.
Gerade hatte der Moderator einen weiteren Hit von damals angekündigt. Die »Roten Gitarren« sollten ihr Lied vom weißen Segel im Wind anstimmen. Unsanft wurde Angela aus ihren Träumereien geholt. Ein schrilles Geräusch übertönte die sanften Anfangstakte der Ballade. Telefonterror!
Angela sah auf die Uhr, es war kurz nach Vier!
Wer rief da noch an?
Leicht genervt schnappte sie sich den Hörer und flötete im professionellen Sekretärinnenton ihren Spruch: »Düringor Schlösso-un Gordenschdifdung, Sentraale Rudlschdod. Sü schbrächn müdd Ongelo Säimitdsch.«
Ein Lächeln begleitete diese Ansage, das zu einem freundlichen Lachen anwuchs. »Äh, duh bissd das, Mülleno! Äh, bissd du nich in Glosder Väsro?«
Das Lächeln gefror im nächsten Augenblick.
»Wos soggsd duh? Do bin üsch bladd! Och neeh! Das scheene Wondbüld … Isses gans wech? Würglisch?«
Sie schnappte nach Luft. Was ihr da ihre Freundin Milena erzählte war starker Tobak.
»Och neeh! Un was machen mer nu? Üs doch nümand mehr doo. Doggdor Gnobbrüsch is unden am Bo’nsee und die Frau Gnibbeldahl had och schon Foieramd.«
Wieder lauschte sie der Stimme am anderen Ende der Leitung. Milena war weniger aufgeregt, hatte sich bereits wieder gefangen.
»Die Bolisei? Ja, nadüürlisch! Hädsch auch sälber draufgomm‘ gönnen.«
Angela nuschelte sich in ihrem ostthüringischen Dialekt in Rage. Milena musste ihre Ohren spitzen, um noch etwas zu verstehen. Warum mussten alle Thüringer so grässliche Dialekte sprechen? Die Frauen von Kloster Veßra verstand sie kaum, aber mit dem Rudolstädter Genuschle kam sie auch nicht wirklich klar.
»Un den Domm sog üsch och beschoid.«
»Was machst du?«
»Na den Tom … kennst du doch! Aus Schmalkalden!«
Plötzlich konnte sie auch Hochdeutsch sprechen.
Milena war verblüfft.
Ja, solle sie machen. Unbedingt! Sie würde Theo, also Linthdorf auch noch benachrichtigen.
»Grüß‘ ühn ma schön von müo, gelle!«
Angela fiel wieder zurück ins Rudolstädter Nuscheldeutsch. Dann legte sie auf, holte aus ihrem Schreibtischschubfach eine Packung Kekse hervor, die sie geräuschvoll knabberte. Zehn Minuten später griff sie zum Telefonhörer.
III
Montag, 7. Juli 2008
Polizeidirektion, Hildburghausen
In den Räumen der Polizeidienststelle stürmte Ali Roggenmüller herum, als ob der Weltuntergang drohte. Wieder war es ein Anruf aus Kloster Veßra gewesen, der seinen Gemütszustand erklärte. Wieder war es die Frau mit dem eigenartigen Namen, Renate Krausgans, die ihn informierte. Wieder war etwas vollkommen Schlimmes und Irrationales passiert.
Ein Unbekannter oder auch mehrere, dazu konnte sie im Moment leider nichts sagen, hatte das Wandbild mit der »Henneberger Grafenparade« abgeschlagen. Ob es nun purer Vandalismus war oder ein gezielter Diebstahl, war ebenfalls im Moment nicht klar festzustellen.
Renate berichtete recht emotionslos und präzise über das Ereignis. Auch, dass schon ein Dorfpolizist aus dem benachbarten Lengsfeld da gewesen war, der aber überfordert mit der Angelegenheit zu sein schien. Ob ein Zusammenhang mit der aufgefundenen Leiche bestehe, könne sie auch nicht ausschließen. Ali Roggenmüller kratzte sich am Kopf.
Soviel Unbehagen die seltsame Leiche bei ihm ausgelöst hatte, konnte er im Moment gerade noch so verdrängen. Aber die neue Untat machte das Maß bei ihm voll. Er war ebenfalls überfordert, einfach schlichtweg überfordert.
Natürlich musste er mit seinen beiden Mitarbeitern ausrücken und sich das Dilemma vor Ort anschauen. Er hatte jedoch keinerlei Idee, was zu tun sei und wie er weiter vorgehen sollte. Diese Art von Verbrechen war nicht das, was er gut bearbeiten konnte.
Ob er nicht gleich die Kollegen in Meiningen oder, noch besser, in Suhl, benachrichtigen sollte? Hatten die nicht auch Erfahrung mit so etwas?
Voriges Jahr hatten die Suhler doch einen spektakulären Kunstraub aufgeklärt. Sollten die doch den Vorgang übernehmen. Und den Toten aus Haus 11 konnten sie auch gleich mit übernehmen. Der gehörte sicherlich dazu. Amtshilfe nannte man das. Roggenmüller griff zum Telefon.
IV
Montagabend, 7. Juli 2008
Wieder in der Herderstraße, Weimar
Milena war vollkommen erschöpft und übermüdet nach Weimar zurückgekehrt. Sie brauchte jetzt ihre Wohnung als Refugium. Das war viel zu viel für sie, was heute in Kloster Veßra passiert war. Erst der seltsame Spinner, der still und unheimlich herumschlich, schließlich tot auf dem Sofa saß, dann das penibel zerstörte Wandbild.
Sie hatte bereits viel Herzblut in dessen Rettung investiert. So nannte sie es, wenn sie ein Projekt betreute, das mehr war als nur ein zu restaurierendes Kunstwerk.
Die »Henneberger Grafenparade« war so ein Projekt. Sie hatte die Figuren, an denen sie seit ein paar Wochen vorsichtig herumwerkelte, ins Herz geschlossen, konnte bei geschlossenen Augen jede Linie, jeden Farbtupfer nachvollziehen. Sie war fasziniert davon.
Natürlich hatte sie alles sorgsam dokumentiert und mehrere Ordner angelegt, in denen sie die Arbeitsschritte akribisch auflistete. Dazu hatte sie begonnen, sich mit der Zeit zu beschäftigen, zu jeder Figur eine Vita angelegt, ihr historisches Auftreten, da, wo es belegt war, notiert, um später für eine Präsentation des Wandbildes entsprechende Informationen zu haben.
Mit einem Seufzer strich sie über die drei großen Leitzordner. Sollte das alles umsonst gewesen sein?
Sie musste dringend mit jemandem sprechen!
Theo! Klar, mit wem sonst!
In ihrem Telefon war er gleich als erste Nummer gespeichert. Hoffentlich hatte er Zeit …
Wieder spürte sie, wie die Wut in ihr aufstieg. Die Wut darüber, wieso es solche Vandalen gab. Und dazu die Ohnmacht gegenüber dem nicht Fassbaren, dem Bösen. Milena zitterte.
V
Dienstag, 8. Juli 2008
Heidecksburg, Rudolstadt
Fast eine Stunde hatte Milena mit Linthdorf gesprochen. Es tat ihr gut, sich den ganzen Frust von der Seele zu reden. Nach dem Gespräch fühlte sie sich besser, fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Heute früh war sie spät aufgewacht. Die Kirchenglocken klangen neun Mal. Sie frühstückte und machte sich auf den Weg nach Rudolstadt zur Schlösserstiftung. Rudolstadt war nur eine halbe Stunde Autofahrt von Weimar entfernt.
Angela Zeimitzsch begrüßte sie und fiel ihr gleich an die Brust. Dann begann sie zu schluchzen.
»Och neeh, solangsch hüo bün, isse sowas noch nüschd bassürd! Neeh, gloobsde … Vondoolismus! Dos hoddn mer nu noch würglisch nich.«
Milena versuchte sich vorsichtig aus der Umklammerung der kleinen Frau zu lösen.
»Ist denn schon jemand da?«
»Nu gloor, de Frau Doggder Gnibbedool … Die weeß scho beschoid.«
Milena hatte mit der neuen Stellvertreterin von Dr. Knobbrich bisher kaum zu tun gehabt. Sie wusste nur, dass sie bis vor kurzem in Wien angestellt war.
Mit einem Seufzer, schnappte sie sich ihre drei Ordner und klopfte an das Büro. Auf einem dezent angebrachten Schildchen waren der korrekte Name und Titel sichtbar: Dr. phil. Anita Knippenthal.
Eine angenehme tiefe Altstimme erklang in bestem Hochdeutsch.
»Kommen sie nur herein. Ich habe Sie schon erwartet.«
Vor Milena stand eine hagere Mitvierzigerin, korrekt frisiert, dezent gekleidet in ein hellgrünes Kostüm und in eine kaum spürbare Duftwolke von Chanel No.5 gehüllt. Sie dirigierte Milena zu dem Besuchersesselpaar, das am anderen Ende des Zimmers so etwas wie Gemütlichkeit suggerierte.
Milena packte ihre drei Aktenordner aus. Eine komplette Dokumentation ihrer mehrwöchigen Arbeit in Kloster Veßra, mit entsprechendem Bildmaterial versehen und chronologisch geordnet.
Dr. Knippenthal blätterte interessiert, schaute sich die Bilder an und schob die Ordner beiseite.
»Nun erzählen sie erst mal, was da passiert ist.«
Milena holte weit aus, berichtete von dem seltsamen Besucher, der tagelang wie ein Geist im Museum präsent war, von dessen eigenartigem Tod, den Ängsten der Museumsdamen vor Ort und letztendlich von dem Akt des Vandalismus.
»Können Sie sich vorstellen, dass das Wandbild trotzdem überlebt hat?«
Sie zuckte mit den Schultern, eigentlich sei diese Art der Putzmalerei »al secco« sehr anfällig für Feuchtigkeitsschwankungen, aber was eine mechanische Belastung für die Malerei …, nun dazu gebe es nur wenige Aufzeichnungen.
In Ägypten habe man alte Grabmalereien vorsichtig aus der Wand gesägt und erfolgreich in Museen transferiert, auch Höhlenmalereien aus China hätte man so schon gerettet. Aber ob das vergleichbar sei mit dem vorliegenden Fall …
»Ausschließen können Sie es also nicht?«
Milena nickte.
»Gehen wir also von einem Kunstraub aus. Ein Akt des Vandalismus hätte sicherlich mehr Schutt und Schaden hinterlassen.«
Milena schniefte laut. »Oh, dann hätten wir also noch eine Chance?«
»Möglich ist es. Mal sehen, ob sich der oder die Diebe melden und eine Lösegeldsumme fordern. Es ist eine gängige Masche inzwischen. Solche Kunstwerke kann man auf dem Schwarzmarkt nur schwer veräußern. Meist werden sie den Museen als Rückkauf angeboten. Die Versicherungen gehen darauf ein, denn die Rückkaufspreise liegen meist deutlich unterm eigentlichen Versicherungswert.«
»Das Wandbild ist bisher noch nicht richtig taxiert worden. Es wurde erst vor kurzem bei Renovierungsarbeiten entdeckt. In der Öffentlichkeit ist es noch völlig unbekannt.«
»Oh, das wusste ich nicht. Wer sollte davon Kenntnis bekommen haben? Bei uns im Haus war es auf alle Fälle bekannt. Dazu noch ein paar Leute aus dem Kulturministerium in Erfurt, ein paar Mediävisten. Die drei Damen vor Ort wussten auch Bescheid …«
»Dennoch war es für die meisten Menschen ein Geheimnis. Es sollte erst nach seiner Restaurierung der Öffentlichkeit präsentiert werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich die Existenz des Wandbildes herumgesprochen haben könnte.«
Dr. Knippenthal lächelte maliziös. »Wer aus Ihrer Umgebung weiß denn darüber Bescheid?«
Milena überlief es siedend heiß. Natürlich, Theo! Sie hatte es ihm gezeigt. Er war gegen jedweden Verdacht erhaben, aber sie spürte, dass die Frage genau den Kern des Problems streifte. Man konnte nicht sicher sein, das andere Leute davon erfahren hatten.
Doch wo sollte man ansetzen, wenn es darum ging, den Kunstraub aufzuklären? Sie musste noch einmal dringend mit Theo sprechen. Bis gestern Abend war sie davon ausgegangen, dass das Wandbild unwiederbringlich verloren sei.
»Was machen wir denn nun?«
»Anzeige stellen gegen Unbekannt. Das müssen wir schon allein aus versicherungstechnischen Gründen.«
»Polizei?«
»Natürlich, wer sonst soll das Wandbild wieder auffinden als die Polizei?«
Milena hatte ihre Zweifel. Sie erinnerte sich an die drei Polizisten, die genauso hilflos dastanden wie sie selbst.
Sollten die etwa…?
Wenn es jemanden gab, dem sie so was zutraute, dann war es ihr Theo. Theo Linthdorf war zwar bei der Kripo in Brandenburg, aber das spielte keine Rolle. Sie würde ihn schon irgendwie dazu bewegen, seine Schnüffelnase auch wieder in Thüringen zum Einsatz zu bringen.