Читать книгу SPIEGLEIN politisches Jahrbuch 2020 - Thomas Röper - Страница 12

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Frankreich

Das beherrschende Thema in Frankreich 2019 waren soziale Proteste. Zuerst waren es die Gelbwesten, die seit November 2018 jedes Wochenende demonstriert haben, und zum Jahresende 2019 kam noch der Generalstreik gegen die Rentenreform hinzu.

Bemerkenswert war dabei, dass die Regierung nicht, wie man es in einer Demokratie erwarten sollte, auf die Forderungen der Menschen eingegangen ist, sondern mit einer Mischung aus Polizeigewalt, Einschüchterung und Verschärfungen des Demonstrationsrechts reagiert hat. Davon war in den deutschen Mainstream-Medien jedoch kaum etwas zu hören.

Und es sieht so aus, als hätte diese Taktik des Aussitzens funktioniert, denn die Teilnehmerzahlen bei den Protesten gingen immer weiter zurück. 2020 wird sich zeigen, ob die Taktik endgültig aufgeht oder nicht und ob sie auch beim Generalstreik gegen die Rentenreform funktioniert.

In diesem Kapitel sehen wir uns daher die Chronologie der Ereignisse in Frankreich 2019 an.

Anfang Januar 2019 wurden die Demonstrationen wieder stärker, nachdem sie sich zum Jahreswechsel abgeschwächt hatten. Umso härter wurde die Tonart der Regierung, die nun verschärfte Gesetze gegen Demonstranten ankündigte, statt sich ihrer Forderungen anzunehmen, die laut Umfragen in Frankreich mittlerweile ca. 75 Prozent der Menschen teilten.

Macrons Beliebtheitswerte fielen derweil von einem Tiefstand zum nächsten. Das Placebo, das Macron den Franzosen im November angeboten hatte, also eine Verschiebung der Steuererhöhungen und eine kleine Erhöhung des Mindestlohns, wurde von den Menschen als Hohn empfunden. Und wenn selbstherrliche Minister danach den Demonstranten sagten, die Regierung hätte ja ein Paket auf den Weg gebracht, nun sollten sie mit dem Demonstrieren doch mal wieder aufhören, dann klang das in ihren Ohren einfach nur abgehoben und arrogant.

Während im Dezember die Teilnehmerzahlen der Demonstrationen zurückgegangen waren und zwischen den Feiertagen nur noch 32.000 Menschen demonstriert hatten, hatte die Regierung wohl die Hoffnung, dass der Bewegung die Luft ausgehen und sich die Sache langsam von alleine erledigen würde. Das erste Januar-Wochenende machte diesen Hoffnungen ein Ende, denn die Zahl der Demonstranten stieg wieder an. Es waren erneut 50.000.

In einem Interview mit dem Fernsehsender TF1 sagte der Premierminister: „Wir müssen das Demonstrationsrecht in Frankreich schützen, wir dürfen nicht die bestrafen, die dieses Recht friedlich nutzen. Darum ist die Regierung dafür, dass das Gesetz ergänzt wird.“

Das klang nach einer Liberalisierung des Demonstrationsrechts, das Gegenteil war jedoch der Fall, es ging um höhere Strafen für alle, die an nicht genehmigten Demonstrationen teilnehmen. Das erinnert an den Maidan genau fünf Jahre vorher. Da hatte die Regierung in Kiew ebenfalls im Januar das Demonstrationsrecht verschärft, nachdem Kiew seit November von Demonstrationen erschüttert worden war. Genau wie in Frankreich, wo die Gelbwesten seit November protestieren.

Der Unterschied ist nur, dass alle Regierungen des Westens die Verschärfung des Demonstrationsrechts in der Ukraine damals scharf verurteilt und von „Diktatur“ und „Unterdrückung Andersdenkender“ gesprochen hatten. Was Kiew gegen den Maidan auf keinen Fall tun durfte, war in Frankreich nun auf einmal gegen die Gelbwesten völlig in Ordnung.

Alle europäischen Regierungen? Nein, eine unbeugsame Regierung leistete dem Widerstand: Der italienische Innenminister Salvini hatte den Gelbwesten Mut zugesprochen und sie ermuntert, weiter für ihre Rechte auf die Straße zu gehen, wie unter anderem der Spiegel berichtete:78 „Italiens Regierung schlägt sich nun öffentlich auf die Seite der Demonstranten, die seit Wochen gegen die Politik von Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron protestieren. ‚Gelbwesten – bleibt standhaft!‘, schrieb der stellvertretende italienische Regierungschef Luigi di Maio im Blog seiner Fünf-Sterne-Bewegung. Der Vize-Regierungschef und Innenminister Matteo Salvini von der „fremdenfeindlichen“ Lega-Partei pflichtete seinem Kabinettskollegen bei und erklärte, er unterstütze „ehrenhafte Bürger“ in einem Protest gegen einen Präsidenten, der „gegen sein Volk“ regiere.“

Das war harter Tobak und wurde von Macron nicht mit Freude aufgenommen. Und auch von anderen Regierungen der EU nicht, die sich gegen die neue italienische Regierung gestellt hatten.

Medien und Politik fanden auch den ganzen Januar hindurch kein Mittel gegen die Gelbwesten. Schließlich versuchte Macron, eine Gegenbewegung zu bilden, die sich „Rote Schals“ nannte. Ende Januar haben sie zum ersten Mal demonstriert, und der Spiegel konnte seine Begeisterung nur mühsam unterdrücken.

Die Überschrift im Spiegel sprach Bände: „Rotschal“-Demonstration in Paris – „Wir haben die Gelbwesten gründlich satt“79

Der Spiegel schrieb, die „Rotschals“ seien Anhänger von Macron. Und dabei war der Spiegel sichtlich bemüht, nicht die Frage zu stellen, die sich dabei als erstes aufgedrängt hätte: Hatte Macron selbst diese „Gegenbewegung“ organisiert? Seine Beliebtheitswerte waren im Keller, fast 80 % der Franzosen waren mit seiner Politik nicht einverstanden. Man fragte sich also spontan, ob die „Rotschals“ von selbst entstanden sind oder von der Regierung gefördert wurden. Eine Frage, der der Spiegel aus dem Weg ging.

Im Gegensatz zu den Gelbwesten, die selbst an ihren schlechtesten Tagen über 30.000 Menschen auf die Straßen brachten, kamen die Rotschals gerade mal auf 10.000 Demonstranten. Und ob die offiziellen Schätzungen korrekt waren, ist fraglich, denn während das französische Innenministerium am vorherigen Samstag von 69.000 Gelbwesten in Frankreich gesprochen hatte, hatten die Organisatoren 400.000 gemeldet. Wem soll man glauben?

Während die Gelbwesten für soziale Reformen demonstrierten, wurde in den Medien immer der Schwerpunkt auf Ausschreitungen gelegt. Da passten die Parolen der Rotschals ins mediale Bild: „Sie marschierten am Sonntag für ‚Ruhe und Ordnung‘ und ‚gegen Gewalt‘ durch Paris, viele von ihnen Anhänger des Präsidenten.“

Der Spiegel stellte es so dar, als ob die Rotschals für Macron ein weiteres potenzielles Problem seien und berichtete ausführlich, wie Macron Distanz zwischen sich und die Rotschals bringen wollte: Macron „betrachtete das offenbar mit gemischten Gefühlen. Kein Regierungsmitglied durfte mitmarschieren, um nur ja kein weiteres Chaos zu provozieren.“

Aber warum hätte es zu Chaos kommen sollen, wenn jemand aus der Regierung mitmarschiert wäre? Diese Frage beantwortete der Spiegel nicht. Dabei könnte der Grund sein, dass dann die Verbindung zwischen Regierung und Rotschals allzu augenscheinlich geworden wäre, was den Gelbwesten in Zukunft eher Zulauf gebracht hätte.

Wenn man also davon ausgeht, dass die Rotschals von der Regierung oder zumindest mit deren Hilfe geschaffen worden sind, dann war diese (vermeintliche) Distanz nachvollziehbar. Aber das würde auch die Verzweiflung der Regierung zeigen, die die Bewegung der Gelbwesten nicht eindämmen konnte, obwohl sie schon alles versucht hatte. Zuerst wurden die Gelbwesten ignoriert, dann wurden kleine Zugeständnisse gemacht, ihnen wurde mit einem verschärften Demonstrationsrecht gedroht. Nichts half. Da wirkten die Rotschals wie ein letzter verzweifelter Versuch, den Gelbwesten den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Aber letztlich war all das unwichtig, denn die Rotschals demonstrierten nur ein einziges Mal, danach hörte man nie wieder von dieser „Gegenbewegung“, die von den deutschen Medien so euphorisch gefeiert worden war.

Parallel versuchte Macron, mit der „nationalen Debatte“ wieder die Oberhand zu gewinnen. Denn Debatte hin oder her, auf die von den Gelbwesten gestellten Forderungen ging er nicht ein. Im Spiegel stand dazu: „‚Es ist ein Moment der Wahrheit, es geht um die Neuerfindung der Demokratie‘, fügte er hinzu und kündigte ‚tiefgreifende Konsequenzen‘ der von ihm angestoßenen Debatte an.“

Wie schon erwähnt war Macron über die Sympathiebekundungen aus Italien für die Gelbwesten gar nicht begeistert. Aber die hatte er noch murrend geschluckt.

Das änderte sich, als sich der italienische Vizepremier Luigi di Maio Anfang Februar öffentlich mit den Gelbwesten traf und sie weiter unterstützte. In den deutschen Medien wurde darüber und über die Konsequenzen gar nicht berichtet.

Vorher hatte di Maio es bei Tweets und öffentlichen Äußerungen zur Unterstützung der Gelbwesten belassen. Schon das fand die französische Regierung nicht witzig, und es hatte zu heftiger Kritik geführt. Di Maio hatte von seinem Treffen mit führenden Köpfen der Gelbwesten ein Foto bei Twitter veröffentlicht80.

Das hatte in Paris das Fass zum Überlaufen gebracht, schließlich forderten die Gelbwesten den Rücktritt von Macron. Für Frankreich war das nun der Grund, den Botschafter zu Gesprächen aus Italien zurückzurufen.81 Das ist eine sehr heftige Reaktion, die man eigentlich nur bei Staaten anwendet, die man recht offen als „Feinde“ ansieht.

Diese französische Reaktion zeigt erneut die Doppelmoral westlicher Staaten. Wenn Frankreich in Venezuela nicht bloß Sympathie für die Opposition bekundet, sondern auch gleich einen Putschisten als Präsidenten anerkennt, ist das in Ordnung. Wenn aber ein italienischer Politiker Sympathie für Kritiker des französischen Präsidenten zeigt, ist man schockiert und ruft den Botschafter ab. Oder wie war das in Ukraine, wo die Europäer ebenfalls offen die Gegner des demokratisch gewählten Präsidenten unterstützt haben? Oder in Ägypten bei den Protesten gegen Mubarak? Und so weiter und so fort.

Wenn westliche Länder sich woanders offen einmischen, ist das in ihren Augen in Ordnung, wenn aber jemand auch nur mit Kritikern ihrer eigenen Regierungen spricht, dann verbittet man sich jede Einmischung von außen.

Aber Fakt ist auch, dass dies ein bisher in der EU einmaliger Fall war, der zeigte, wie blank die Nerven in Frankreich zu dem Zeitpunkt lagen.

Wie blank die Nerven in Paris lagen, zeigte sich auch, als Macron im Februar daranging, offen die Pressefreiheit einzuschränken. Man konnte sogar einmal im Spiegel lesen, dass Macron nicht nur ein Problem mit der Pressefreiheit hatte, sondern sogar gegen unabhängige Medien vorging.

Schon im Dezember 2018 hatte ein französischer staatlicher Fernsehsender Bilder gefälscht. Auf einer Gelbwesten-Demo hatte ein Demonstrant ein Schild mit der Aufschrift „Macron DEMAGE!“, also „Macron, tritt zurück!“ hochgehalten, aber der Sender hatte das Wort „DEMAGE“ in seinem Bericht wegretuschiert, sodass der Eindruck entstand, ein Demonstrant hätte ein pro-Macron-Plakat hochgehalten.82 Das schlug in Frankreich einige Wellen und der Sender musste sich entschuldigen. In den deutschen Medien wurde darüber natürlich nicht berichtet.

Im Februar 2019 hetzte Macron dem französischen Nachrichtenportal Mediapart die Staatsanwaltschaft auf den Hals, weil es über einen Skandal um einen Leibwächter von Macron berichtet hatte. Dazu stand im Spiegel:83 „Dieser hatte am 1. Mai vergangenen Jahres in Polizeiuniform Demonstranten verprügelt, Videoaufnahmen zeigen das. Dafür wurde er im Juli vom Dienst suspendiert und ein Verfahren gegen ihn eingeleitet.“

Der Staatsanwalt kam dann aus recht fadenscheinigen Gründen zu Mediapart: „Im Rahmen dieses Verfahrens wurde Benalla verboten, Gespräche mit in den Fall verwickelten Personen zu führen. Ein solches aber führte er Ende Juli mit dem Reserve-Gendarm Vincent Crase. In dem Gespräch betont Benalla, immer noch über die Unterstützung des Präsidenten zu verfügen. Eine Aufnahme des Gesprächs veröffentlichte Mediapart vor zwei Wochen. Drei Arbeitstage später stand der Staatsanwalt vor der Tür. (…) Die Staatsanwaltschaft, so weiß Plénel heute, erhielt noch am Tag nach der Mediapart-Veröffentlichung einen Brief des Büroleiters von Premierminister Edouard Philippe, der Nummer zwei hinter Macron. Darin berichtet der Büroleiter dem Staatsanwalt im Detail von den Ermittlungen der Mediapart-Journalisten im Fall Benalla.“

Die Anweisung kam also direkt aus dem Umfeld von Macron, der nun die Staatsanwaltschaft auf missliebige Journalisten hetzte.

Aber es kommt noch besser: In den alternativen Medien gab es zu dem Zeitpunkt schon seit Wochen Berichte über unglaublich harte Polizeigewalt gegen die Gelbwesten und über ungerechtfertigte, massenhafte Festnahmen. Die deutschen Mainstream-Medien berichteten darüber jedoch nicht. Nur vereinzelt fanden sich Berichte über Demonstranten, die durch Polizeigranaten schwer verletzt wurden. Das wurde aber als Einzelfälle dargestellt.

Dabei war das nur die Spitze des Eisberges, viele derartige Vorfälle haben unsere Mainstream-Qualitätsmedien verschwiegen. Französischen Aktivisten sammelten alle ihnen bekannten Fälle von Verletzungen durch Polizeigewalt und veröffentlichten sie mit Namen.84 Ende Februar waren es bereits 141. RT-Deutsch schrieb zusammenfassend:85 „Insgesamt haben 20 Menschen mindestens ein Auge verloren, fünf Hände wurden teilweise oder ganz abgerissen, eine Person verlor ihr Gehör durch eine mit TNT gefüllte GLI F4-Blendgranate.“

Aber die deutschen Medien stellten die Zusammenhänge dabei nicht her, wenn sie ab und an einmal über einen „Einzelfall“ berichteten. Diese Unglücke konnten nur geschehen, weil Polizisten, die dafür nicht ausgebildet sind, das Granatwerfer-Gewehr LBD-40 benutzen.

Auf die Verhaftungswelle in Frankreich gab es in dem genannten Spiegel-Artikel zumindest einen Hinweis: „Plénel spricht von ‚einer Tendenz zur Unterwerfung der Staatsanwaltschaft‘ unter Macron. Er erinnert daran, dass Macrons Wahl des Obersten Staatsanwalts der Republik zuletzt mehrmals von einem richterlichen Beirat abgelehnt wurde, Macron sich mit seiner Wahl aber dennoch durchsetzte. Er spricht von den von der Staatsanwaltschaft gebilligten Massenverhaftungen im Zusammenhang mit den Gelbwesten-Protesten der letzten Wochen.“

Wie der Spiegel am Ende des Artikels selbst verschämt schrieb, warf das kein gutes Licht auf Macron. Und der Chef von Mediapart wurde im Spiegel so zitiert: „Vor allem aber verweist Plénel auf ein Grundschema im Fall Benalla. ‚Ein sehr enger Mitarbeiter des Präsidenten, mit guten Verbindungen zur Polizei, verprügelt einen politischen Gegner: Normalfall in einem autoritären Regime, würde jeder Demokrat sagen‘, so Plénel. Weiter spricht er nicht. Den Rest soll man sich denken.“

Der Spiegel brachte diese Kritik an Macron nur als Zitat. Aber man stelle sich einmal vor, es gäbe Massendemos gegen Putin und der würde mit Massenverhaftungen reagieren, ein Leibwächter von Putin würde Demonstranten verprügeln und dann von Putin gedeckt werden, und alle Journalisten, die dazu ermitteln wollen, bekämen Besuch vom russischen Staatsanwalt. Würde die deutsche Presse dann auch so verschämt berichten? Oder wäre das nicht tagelang auf den Titelseiten mit Überschriften zu „Putins Polizeistaat“ und Ähnlichem?

In Frankreich wurde so etwas von der deutschen Presse kritiklos hingenommen.

Anfang März zog Frankreich die Daumenschrauben weiter an und verschärfte das Demonstrationsrecht. Mehr noch: Dieses angeblich in der EU heilige demokratische Recht wurde nun in Frankreich offen eingeschränkt.

Unter anderem wurde ein Vermummungsverbot eingeführt. Das war deshalb problematisch, weil nun auch zum Beispiel Helme verboten werden konnten, die die Demonstranten aber brauchten, weil die Polizei mit dem LBD-40 Gewehr bewusst mit Gummigeschossen auch auf die Köpfe der Demonstranten zielte (daher kamen die über 141 schwer verletzten Demonstranten).

Macron setzte nun auf eine Kombination aus Angst verbreiten durch Polizeigewalt und Einschränkungen des Demonstrationsrechts einerseits und andererseits auf die alte Strategie des Aussitzens. Durch die verbreitete Angst ging die Zahl der Demonstranten inzwischen zurück, die Umfragen zeigten jedoch, dass die Unterstützung im Volk ungebrochen war. Trotzdem bestand nun die Möglichkeit, die Protestwelle könnte aus Angst bei den Demonstranten mit der Zeit einschlafen.

Außerdem hatten die französischen Behörden ab März das Recht, einzelnen Personen die Teilnahme an Demonstrationen zu verbieten. Dazu benötigen sie nicht einmal einen Gerichtsbeschluss. Hier wurde das Demonstrationsrecht stark eingeschränkt, was eigentlich mit „europäischen Werten“ völlig unvereinbar ist. Man stelle sich einmal vor, in Russland oder Venezuela würde die Regierung einzelnen Personen das Demonstrieren verbieten – was da in den deutschen Medien los wäre!

Zweifel an den offiziellen Teilnehmerzahlen der Gelbwesten-Demonstrationen gab es immer wieder, denn die Angaben von Polizei und Veranstaltern gingen weit auseinander. Mitte März konnte man in den Medien tatsächlich deutliche Hinweise finden, dass die französische Regierung diese Zahlen gefälscht und zu geringe Teilnehmerzahlen gemeldet hatte.

Die Zahl der Teilnehmer an den Gelbwesten-Protesten war aus den genannten Gründen rückläufig, das war kaum zu bezweifeln. Im Spiegel konnte man am 18. März Folgendes lesen:86 „Das Innenministerium bezifferte die Zahl der Kundgebungsteilnehmer in Paris auf 10.000. Landesweit nahmen nach Ministeriumsangaben gut 32.000 Menschen an den Protesten teil. Vertreter der Gelbwesten sprachen dagegen auf Facebook von fast 231.000 Teilnehmern.“

Man sieht, die Zahlen gingen weit auseinander, wem sollte man glauben? Hier half eine Meldung aus der russischen TASS, die sich auf die französische Nachrichtenagentur AFP berufen hatte.87 Dort wurde berichtet, dass Macron einen Dialog mit dem „radikalen Teil“ der Gelbwesten ausschließt. AFP berichtete über eine Sitzung im Präsidentenpalast, in der Macron über die aktuellen Vorgänge informiert wurde. Der spannende Satz war auch bei der TASS nur in einem Nebensatz versteckt: Man konnte dort lesen, dass laut des Macron vorgelegten Berichtes der radikale Teil der Gelbwesten 40.000 bis 50.000 Menschen umfasste.

Wenn aber das französische Innenministerium offiziell nur 32.000 Demonstranten meldete, bei einer Sitzung mit Macron aber von 40.000 bis 50.000 „Radikalen“ unter den Gelbwesten die Rede ist, muss man zwangsläufig zu dem Schluss kommen, dass die offiziellen Zahlen des Innenministeriums geschönt waren und nicht stimmen können. Die tatsächliche Teilnehmerzahl musste weit höher liegen.

Das bedeutet nicht, dass die Zahlen der Organisatoren korrekt waren. Sie waren vielleicht überhöht, aber wahrscheinlich waren die Zahlen der Organisatoren weit näher an der Wahrheit als die Zahlen des Innenministeriums.

In Frankreich wurde im März entschieden, den Protesten der Gelbwesten mit brutaler Härte ein Ende zu setzen, wie man sogar im Spiegel ansatzweise lesen konnte.88 Nun waren Demonstrationsverbote möglich, Demonstrationen sollten schneller aufgelöst werden und in Paris wurde ein härterer Polizeichef eingesetzt.

Ein weiterer Hinweis darauf, dass die offiziellen Teilnehmerzahlen viel geringer waren als die tatsächlichen Zahlen, fand sich im April.

Die Proteste der Gelbwesten begannen im November mit weit über hunderttausend Teilnehmern. Im April sollen es gemäß offiziellen Angaben der französischen Polizei schon weniger als 30.000 landesweit gewesen sein, die sich samstags zu Protesten versammelten. Da fragt man sich, wozu bei so wenig Demonstranten ein solches Polizeiaufgebot notwendig war. Immerhin wurden zum Beispiel am 20. April in Frankreich 60.000 Polizisten mobilisiert.

An diesem Tag meldete der französische Sender BFM TV unter Bezug auf das Innenministerium 27.900 Demonstranten landesweit, davon 9.000 in Paris.89 Das wären mehr als in der Woche zuvor, da wurden aus Paris nur 5.000 Demonstranten gemeldet. Allerdings wies der Sender auch darauf hin, dass die offiziellen Zahlen von den Organisatoren immer bestritten werden.

Misstrauisch machte auch, dass die Polizei am Abend des 20. April 9.000 Demonstranten in Paris meldete, aber zum Beispiel der Spiegel schon Stunden zuvor gemeldet hatte, die Polizei habe in Paris 11.000 „präventive“ Personenkontrollen durchgeführt.90 Das würde ja bedeuten, dass die Polizei mehr Menschen kontrolliert hat, als Demonstranten vor Ort waren.

BFM TV meldete am Abend „249 Festnahmen in Paris bis 19 Uhr, mehr als 20.000 präventive Personenkontrollen“91. Landesweit seien 60.000 Polizisten im Einsatz gewesen, während nur 27.900 Demonstranten gemeldet wurden.

Das zeigt wieder, dass mit den offiziellen Teilnehmerzahlen bei den Gelbwesten ganz eindeutig etwas nicht gestimmt hat, und es ist doch vielsagend, dass die deutschen Medien zu diesem Zeitpunkt über die Gelbwesten kaum noch berichtet haben. Und wenn sie es doch einmal getan haben, dann meldeten sie nur die offiziellen Zahlen und verloren kein Wort darüber, dass die Zahlen geschönt gewesen sein könnten.

Auch an den Polizisten, die ja ebenfalls nicht zu den Großverdienern gehören, aber Woche für Woche gegen die Gelbwesten antreten mussten, ging die Sache nicht spurlos vorbei. Die Facebook-Gruppe Citoyen Solidaire veröffentlichte den „Zähler der Schande“, der die Selbstmorde bei Polizisten zählt. Von Januar bis April hatten in Frankreich bereits 37 Polizisten Selbstmord begangen, bis Jahresende waren es 94.92

Trotz dieser dramatischen Entwicklungen verschwanden die Gelbwesten mit der Zeit aus den Medien, auch die alternativen Medien berichteten immer seltener. Aber die Proteste gingen das ganze Jahr hindurch weiter, auch wenn die Teilnehmerzahlen weiter zurückgingen.

Macrons Strategie, die Gelbwesten mit einer Mischung aus Polizeigewalt, härteren Gesetzen und Placebos auszusitzen, ging auf. Macrons medial inszenierter „Bürgerdialog“ brachte zwar keine Änderungen von Macrons Politik, aber die Menschen wurden der Sache langsam müde.

Das änderte sich erst zum Jahresende. Da kündigte die französische Regierung eine Rentenreform an, die allen Bürgern die Renten beschneiden und das Rentenalter erhöhen sollte.

Am 11. Dezember war es nicht Präsident Macron, sondern Premierminister Edouard Philippe, der die wichtigsten Bestimmungen der Reform vorstellte, wogegen 1,5 Millionen Menschen im ganzen Land auf die Straße gingen. Danach wurden einige Dinge abgeschwächt, aber das Wesen der Reform hatte sich nicht geändert.

Das Rentensystem in Frankreich soll vereinheitlicht werden. Das bestehende System, bei dem jede der 42 Berufsgruppen ein eigenes Rentensystem hat, soll abgeschafft werden. Es wird ein „universelles“ Rentensystem eingeführt, in dem Rentenbeiträge in Punkte umgerechnet werden. Die Branche, in der der Arbeitnehmer arbeitet, spielt keine Rolle mehr. Die Höhe der Rente hängt von der Anzahl der gesammelten Punkte ab. Wer mehr verdient, zahlt mehr und bekommt mehr.

Was in Deutschland schon immer das Konzept der staatlichen Rente war, ist für Frankreich ein neues Konzept. Das Renteneintrittsalter soll 64 Jahre betragen.

Hier sieht man den Unterschied zwischen Franzosen und Deutschen sehr deutlich. Als in Deutschland vor fast 15 Jahren beschlossen wurde, dass das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre steigt, haben die Deutschen das klaglos hingenommen. Nicht so die Franzosen. Für sie sind 64 Jahre schon ein Grund für einen Generalstreik, der dort das Land lahmgelegt hat.

Ob diese Aktionen und der Generalstreik etwas ändern, oder ob auch sie – wie schon die Gelbwesten – von der Regierung ausgesessen werden, wird 2020 zeigen.

78 http://www.spiegel.de/politik/ausland/gelbwesten-italiens-regierung-stellt-sich-hinter-demonstranten-in-frankreich-a-1246837.html

79 http://www.spiegel.de/politik/ausland/frankreich-rot-schale-demonstrieren-gegen-gelbwesten-und-fuer-emmanuel-macron-a-1250258.html

80 https://twitter.com/luigidimaio/status/1092817232005136384

81 https://deutsch.rt.com/europa/83836-reaktion-auf-treffen-von-di-maio-mit-gelbwesten-frankreich-ruft-botschafter-aus-italien-zurück/

82 https://politikstube.com/gelbwesten-und-medien-france-3-macht-aus-anti-macron-ein-pro-macron-plakat/

83 http://www.spiegel.de/politik/ausland/frankreich-emmanuel-macrons-angriff-auf-die-pressefreiheit-a-1253489.html

84 https://desarmons.net/index.php/2019/01/04/recensement-provisoire-des-blesses-graves-des-manifestations-du-mois-de-decembre-2018/

85 https://deutsch.rt.com/europa/84401-ich-erkenne-mein-land-nicht/

86 http://www.spiegel.de/politik/ausland/frankreich-regierung-gesteht-nach-krawallen-bei-gelbwesten-protest-fehler-ein-a-1258325.html

87 https://tass.ru/mezhdunarodnaya-panorama/6229955

88 http://www.spiegel.de/politik/ausland/gelbwesten-protest-frankreich-will-nach-krawallen-haerter-gegen-gewalt-vorgehen-a-1258498.html

89 https://www.bfmtv.com/police-justice/gilets-jaunes-9600-participants-a-14h-dont-6700-a-paris-selon-l-interieur-1677100.html

90 https://www.spiegel.de/politik/ausland/gelbwesten-proteste-in-frankreich-neue-zusammenstoesse-am-osterwochenende-a-1263791.html

91 https://www.bfmtv.com/societe/gilets-jaunes-70-interpellations-a-paris-a-la-mi-journee-1676973.html

92 https://www.facebook.com/Papy.nemo/?tn-str=k*F&hc_location=group_dialog

SPIEGLEIN politisches Jahrbuch 2020

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