Читать книгу SPIEGLEIN politisches Jahrbuch 2020 - Thomas Röper - Страница 5
ОглавлениеBrexit
Der Brexit war eines der beherrschenden Themen in 2019. Verlässt Großbritannien die EU oder nicht? Und wenn ja, wird es ein harter Brexit oder nicht? All das hat uns durch das Jahr begleitet, inklusive mehrerer Aufschübe des EU-Austritts.
Irgendwo habe ich dazu gelesen: „1. Januar 2035: Wieder hat das britische Parlament bei der EU einen Aufschub beantragt. Aufschub von was und woher der putzige Brauch stammt, weiß heute niemand mehr genau, aber der Anlass wird jedes Mal ausgiebig gewürdigt.“
Sei‘s drum. Nachdem Boris Johnson Ende 2019 seine Wahl gewonnen hat, ist der Brexit (wohl) beschlossene Sache. Ich schreibe diese Zeilen Anfang Januar 2020, und wenn Sie dies lesen, wissen Sie bereits, ob Johnson am 1. Februar die EU verlassen hat oder nicht.
Bevor wir auf die wichtigsten Ereignisse des Jahres 2019 kommen, möchte ich zunächst einmal ganz allgemein analysieren, wem der Brexit – oder besser gesagt, das ganze Theater um den Brexit – genützt hat.
Seit der Entscheidung für den Brexit wundere ich mich über die Naivität der Briten. Nicht weil sie für den Brexit gestimmt haben, das war ihre freie Entscheidung, und es gibt und gab gute Gründe für den Brexit und dagegen. Fakt ist, dass auch in anderen Ländern wie zum Beispiel Frankreich oder Italien Politiker laut über einen Austritt aus der EU nachdenken.
Und es gibt ja auch Gründe dafür. Die EU ist inzwischen zu einem bürokratischen und undemokratischen und wahrscheinlich sogar unreformierbaren Moloch geworden. Jedenfalls hat die heutige EU nicht mehr viel mit dem Friedensprojekt zu tun, für das vor 60 Jahren die Menschen demonstrierten. Ein Staat, der so aufgebaut ist wie die EU, würde niemals in die EU aufgenommen werden, weil er zu undemokratisch ist. Deshalb ist es durchaus nachvollziehbar, wenn manche Menschen sagen, lieber keine EU als so eine EU.
Andererseits hat die EU auch viele Vorteile gebracht. Der Binnenmarkt ist durchaus ein Vorteil, der für Länder wie Griechenland erst zum Nachteil wurde, als sie den Euro einführten. Die Tschechen und Polen haben die Einladung, dem Euro beizutreten, abgelehnt und werden das danach sicher nicht bereut haben. Aber über den Binnenmarkt freuen sie sich.
Auch die Reisefreiheit ist positiv. Es ist doch etwas Schönes, ohne Grenzkontrollen zu reisen oder sich, wenn man will, auf Mallorca niederlassen zu können, wenn man es möchte.
Das sind ohne Zweifel Vorteile der EU. Aber sie hat eben auch Nachteile. Fragen Sie mal die Griechen, denen es heute besser ginge, wenn sie dem Euro nicht beigetreten wären.
Es ist selbstverständlich die alleinige Entscheidung der Briten, die EU zu verlassen, aber dass die Briten so naiv sind, zu glauben, mit der EU ein faires Abkommen aushandeln zu können, das verstehe ich nicht. Scheinbar haben sie zum einen die Motive der EU nicht verstanden und zum anderen immer noch den Größenwahn einer Kolonialmacht, die der Meinung ist, andere würden sich schon beugen, wenn London es will. Jeder gute Vorschlag der Briten würde und wurde von der EU abgelehnt, denn wenn die EU es zulässt, dass ein Land die EU verlässt und es geht dem Land danach nicht schlechter als vorher in der EU, dann könnten andere diesem Beispiel folgen. Und das will Brüssel um jeden Preis verhindern. Ich kann kaum glauben, dass die Briten die Hoffnung auf ein Abkommen hatten.
Dabei muss man keineswegs in der EU sein, um in Wohlstand und Freiheit zu leben. Die reichsten Länder, die nach verschiedensten Umfragen den höchsten Lebensstandard und die zufriedensten Bevölkerungen haben, sind die Schweiz und Norwegen. Beide sind nicht in der EU. Trotzdem haben beide zahlreiche Kooperationsverträge mit der EU geschlossen, und das wäre mit etwas gutem Willen auch mit Großbritannien möglich gewesen. Das Problem: Die EU hatte keinen guten Willen, sie hat stattdessen ein Motiv, den Brexit zu einem abschreckenden Beispiel für alle zu machen, die ebenfalls mit dem Gedanken spielen, die EU zu verlassen.
Die Problematik bei den Briten ist natürlich kompliziert, vor allem in Bezug auf Nordirland. Aber wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg.
Die EU ist in keinem Punkt auf die Briten zugegangen, sondern hat von Anfang an gesagt, was alles für sie nicht verhandelbar ist. Und das war so ziemlich alles. So wurden alle britischen Vorschläge abgelehnt, wobei man fairerweise sagen muss, dass viele der britischen Vorschläge auch nicht eben hilfreich waren. Es saßen sich zwei Partner gegenüber, die von ihren Maximalforderungen nicht abrücken wollten. Aber auch vernünftige Vorschläge der Briten wurden zurückgewiesen.
Hätte die EU ihre Verhandlungen mit der Schweiz oder Norwegen in einem Tonfall geführt wie jetzt mit Großbritannien, diese beiden Länder hätten bis heute keine Verträge mit der EU. Aber wie gesagt, Länder an die EU zu binden ist ein Ziel von Brüssel, und deshalb spricht man mit derartigen Kandidaten höflich, mit Austrittskandidaten hingegen am liebsten gar nicht.
Daher war und ist der harte Brexit – wenn es ihn denn unbedingt geben soll – für die EU in meinen Augen das Ziel, trotz aller Lippenbekenntnisse aus Brüssel. Denn ein für England erfolgreicher Brexit würde andere Länder ermutigen, das Gleiche zu versuchen.
Sogar in der Presse kann man das zwischen den Zeilen lesen, wie etwa heute im Spiegel:1 „May hat die schlechteren Karten. Ein ‚No Deal‘-Brexit würde die EU wirtschaftlich hart treffen, für Großbritannien wäre er eine Katastrophe. Schon deshalb ist es unwahrscheinlich, dass die EU in letzter Minute doch noch einknickt.“
Mit anderen Worten: Die EU wird nicht einknicken, auch wenn es sie selbst hart trifft, Hauptsache, es trifft die Briten noch härter.
Wie war das mit den westlichen Werten? Also zum Beispiel die Anerkennung des demokratischen Willens der Mehrheit beim Brexit-Referendum? Fehlanzeige. Solidarität mit langjährigen (Nato-)Partnern? Keine Spur.
Wer solche Freunde hat, der braucht keine Feinde mehr, das wird sich Theresa May wahrscheinlich öfter gedacht haben.
Im Februar 2019 konnte man im Spiegel lesen, dass Brüssel die EU-Länder zur Geschlossenheit aufgerufen und gefordert hat, London nicht im Alleingang entgegenzukommen2. Deutlicher konnte die EU gar nicht zugeben, dass es ihr um eine Niederlage Großbritanniens geht: „Die EU-Kommission warnt die verbleibenden Mitgliedstaaten der Gemeinschaft davor, den Briten bei den Notfallplanungen für einen harten Brexit ohne Austrittsabkommen zu weit entgegenzukommen. Entsprechende Mahnungen trägt nach SPIEGEL-Informationen unter anderem die stellvertretende Generalsekretärin der Behörde, Céline Gauer, bei ihren Besuchen in verschiedenen EU-Hauptstädten vor, darunter am Mittwoch auch in Berlin. Die Notfallmaßnahmen dürften auf keinen Fall so komfortabel sein wie die im Austrittsabkommen getroffenen Regeln, lautet die Botschaft der Beamtin. (…) Die Sache ist auch deswegen pikant, weil sich im Falle eines zu weiten Entgegenkommens der verbleibenden EU-Länder im Falle eines Brexit ohne Abkommen am Ende doch noch die Sichtweise der harten Brexiteers bestätigt [sic] würde. Sie hatten schon immer gesagt, dass die verbleibenden EU-Länder in letzter Minute die Nerven verlieren und den Briten weitreichende Zugeständnisse machen würden, um eine wirtschaftliche Katastrophe zu verhindern.“
Man sollte also meinen, dass London genug Probleme hatte und sich auf eine wirtschaftlich sehr harte Landung hätte vorbereiten müssen. Stattdessen träumten im Februar 2019 jedoch viele Politikerin London von der Wiedererrichtung des British Empire. Der Verteidigungsminister legte in einer Rede, die RT-Deutsch ausführlich zitiert hat, dar, dass Britannien wieder mit einer großen Armee und Flotte an seine Vergangenheit als Weltmacht anknüpfen sollte3.
Wie das gehen soll, blieb sein Geheimnis, denn man muss sich ein großes Militär auch leisten können. Beim BIP (PPP) steht Großbritannien aber nur auf Platz 9 in der Welt und beim Militärhaushalt auf Platz 7, sogar hinter seiner ehemaligen Kolonie Indien.
Mehr noch: Durch den Brexit wird Großbritannien alle Hände voll zu tun haben, nicht auf England zusammenzuschrumpfen, denn beim harten Brexit wird es wieder Unabhängigkeitsbestrebungen in Nordirland geben, was ein Wiederaufflammen des Bürgerkrieges dort möglich macht. Und auch Schottland will in der EU bleiben und könnte ein neues Referendum zu seiner Unabhängigkeit fordern.
Ende März hatte das britische Parlament zum dritten Mal über das Brexit-Abkommen abgestimmt. Weniger als zwei Wochen blieben bis zum fatalen Datum, dem 12. April, den die EU als Ultimatum gesetzt hatte.
Der Hintergrund war, dass die Europawahlen anstanden, es juristisch heikel war und dass Großbritannien an den Wahlen nicht teilnehmen wollte. Daher war der 12. April das Datum, an dem London entweder doch an der Wahl teilnimmt oder die EU verlassen sollte.
Premierministerin Theresa May versuchte verzweifelt, mit Brüssel ein Abkommen zu finden, das in London im Parlament mehrheitsfähig gewesen wäre. Doch sie biss auf Granit.
Da das britische Parlament gegen das vereinbarte Abkommen und gegen den Austritt ohne Abkommen ist, wurde nach einem dritten Weg gesucht. Nur welchen?
Im Gespräch waren Parlaments-Neuwahlen oder die Ankündigung eines neuen Referendums.
Am 29. März schied Großbritannien trotz der Ankündigung, die Premierministerin Teresa May 2017 freiwillig verkündet hatte, nicht aus der Europäischen Union aus. Stattdessen wurde im Unterhaus eine weitere Abstimmung über die Bedingungen für einen Austritt aus der EU abgehalten, die Theresa May krachend verlor.
Zum dritten Mal war die Regierung zu diesem Zeitpunkt bereits mit ihrem Abkommen zum Brexit gescheitert. Das britische Parlament stand damit vor der Wahl: Entweder die EU ohne Einigung zu verlassen oder eine weitere Verschiebung zu fordern.
Der Chef des Europäischen Rates Donald Tusk hatte erklärt, dass die Bedingung für eine weitere Verschiebung des Brexit die Teilnahme Großbritanniens an den Wahlen zum Europäischen Parlament sei, was de facto eigentlich den Abschied vom Brexit bedeutet hätte, weil die Abgeordneten für fünf Jahre gewählt werden.
Man entschied sich einmal wieder für eine Verlängerung und für die britische Teilnahme an der Wahl.
Und so ging es durch das Jahr. May verlor ihren Posten und Boris Johnson folgte ihr als Premierminister nach. Aber auch er wurde im Oktober gezwungen, eine weitere Verlängerung bei der EU zu erbitten, weil das Parlament in London sich nicht einigen konnte. Die Neuwahlen, die Boris Johnson schließlich erzwungen hatte, wurden von der Opposition zu einem neuen „Brexit-Referendum“ verklärt. Die Strategie ging gründlich in die Hose.
Die Ergebnisse der vorgezogenen Parlamentswahlen im Vereinigten Königreich haben viele verblüfft. Auffällig war, wie sehr sich das Ergebnis der Wahl von dem unterschied, was zuvor auf den Straßen los war. Allenthalben gab es Demonstrationen gegen den Brexit, und man konnte den Eindruck gewinnen, dass die Briten gegen den Brexit seien.
Aber es zeigte sich einmal wieder, dass die lauten Massen auf den Straßen keineswegs automatisch die Mehrheit stellen.
Der amtierende Premierminister Boris Johnson riskierte mit der vorgezogenen Wahl viel – und gewann. Er gewann vernichtend. Man benötigt mindestens 326 Sitze im Unterhaus, um eine Regierung zu bilden, und die Konservativen schafften es auf bis zu 370. Nur Margaret Thatcher gewann für die Tories ähnlich überzeugend, aber das war vor drei Jahrzehnten.
Johnson hatte sofort angekündigt, die EU Ende Januar zu verlassen und keinen weiteren Aufschub mehr zu wollen.
Fotos von Boris Johnson im Moment, als die Hochrechnungen verkündet wurden, erschienen in britischen Zeitungen. Sie sagten den Konservativen einen überwältigenden Sieg voraus.
Das Versprechen des Brexit war sein Köder. Viele Analysten waren verblüfft über die Bilder von Massendemonstrationen im Zentrum Londons, wo zu Protesten gegen einen Austritt aus der EU manchmal bis zu einer Million Menschen kamen. Aber sie spiegelten nicht das wirkliche Bild dessen wider, was im Land geschieht. Oppositionsführer Jeremy Corbyn, der ein zweites Referendum über den Austritt aus der Europäischen Union gefordert hatte, hat das nicht verstanden.
Ein solcher Gegner war ein echtes Geschenk für Johnson. Corbyn hat seine traditionellen Anhänger in Mittel- und Nordengland verloren.
Bei dieser Wahl gewann Johnsons Partei sogar an Orten, an denen die Konservativen immer gegen Labour verloren hatten. Zum Beispiel in der Stadt Peterborough. Beim Referendum 2016 stimmte die Mehrheit dort für den Brexit, und dieses Mal stimmten sie für den, der versprochen hatte, ihn umzusetzen.
Viel wird vom Ergebnis der Verhandlungen über ein neues Handelsabkommen mit der Europäischen Union abhängen. Michel Barnier, der Chefunterhändler aus Brüssel, hat die Frist bis Ende 2020 bereits als unrealistisch bezeichnet. Das bedeutet, dass sich die Zeit der Unsicherheit für das Vereinigte Königreich hinziehen und negative Folgen für die Wirtschaft des Landes drohen könnten.
Aber auf jeden Fall hat Johnsons Sieg den Brexit aus einer Sackgasse befreit und wird viele Veränderungen herbeiführen. Der Austritt des Vereinigten Königreichs wird unweigerlich die Dynamik in der Europäischen Union beeinflussen. Die Balkanländer Serbien, Montenegro, Nordmazedonien und Albanien, die den Status von EU-Beitrittskandidaten haben, können nicht mehr auf die Unterstützung Londons zählen. Die Briten selbst haben eine Reihe akuter territorialer Probleme.
Schottland fordert ein zweites Unabhängigkeitsreferendum. Die Scottish National Party gewann bei dieser Wahl 48 Sitze im britischen Parlament – ein Rekord. Schottland hat gegen den Brexit gestimmt, und die Vorsitzende Nicola Sturgeon sagte bereits in einem Telefonat mit Johnson, dass die Ergebnisse der Wahlen die Notwendigkeit einer weiteren Volksabstimmung zeigen.
Die Situation in Nordirland, das ebenfalls gegen den Brexit gestimmt hat, ist noch komplizierter. Selbst seine Anhänger unterstützen die jetzigen Bedingungen für den Austritt aus der Europäischen Union nicht, denen Johnson zugestimmt hat. Die sogenannten Loyalisten – Befürworter der Aufrechterhaltung der Union mit dem Vereinigten Königreich – fürchten, dass Zollschranken sie vom Rest des Landes abschneiden werden. Darüber hinaus veränderten die Wahlen die Machtverhältnisse in der Region und schwächten die Position der wichtigsten Verbündeten Londons, der Democratic Unionist Party.
Durch seinen überzeugenden Sieg und den garantierten Brexit läuft Johnson Gefahr, die Einheit des Landes zu verlieren. Und es ist nicht bekannt, wie das Königreich bei den nächsten Wahlen aussehen wird, die in fünf Jahren stattfinden werden, wenn nichts Außergewöhnliches dazwischenkommt.
1 http://www.spiegel.de/politik/ausland/grossbritannien-theresa-may-vor-den-truemmern-ihrer-brexit-strategie-a-1229823.html
2 http://www.spiegel.de/politik/ausland/brexit-ohne-deal-eu-mahnt-mitgliedstaaten-zur-haerte-gegenueber-briten-a-1253370.html
3 https://deutsch.rt.com/meinung/84261-grossbritannien-will-wieder-grossmacht-werden/