Читать книгу SPIEGLEIN politisches Jahrbuch 2020 - Thomas Röper - Страница 7
ОглавлениеDemo Moskau
Im Sommer war es in Moskau zu Demonstrationen gekommen, über die in Deutschland intensiv berichtet wurde. Um zu verstehen, was in Moskau vor sich gegangen ist und um die Berichte der deutschen Medien einordnen zu können, müssen wir uns zunächst mit den Hintergründen beschäftigen. Danach kommen wir zu den deutschen Medien.
In Moskau fanden im September Wahlen zum Stadtparlament statt. Russland ist wie Deutschland ein föderaler Bundesstaat. Die Bundesländer heißen „Oblast“ (auf Deutsch: Region). So wie in Deutschland gibt es auch in Russland Stadtstaaten, also Städte, die gleichzeitig auch ein Oblast sind: Moskau und St. Petersburg.
Allerdings funktionieren die Wahlen in Russland anders. Zu den Oblast-Parlamenten werden keine Parteilisten gewählt, sondern Direktkandidaten. Um als unabhängiger Kandidat zugelassen zu werden, braucht es eine bestimmte Anzahl an Unterschriften, die von der Bevölkerung im Wahlkreis abhängt. Es sind einige tausend Unterschriften pro Kandidat, die man einreichen muss. Dabei dürfen höchstens zehn Prozent der Unterschriften fehlerhaft sein.
Bei einigen der Kandidaten hat die Wahlkommission mehr als zehn Prozent Fehler gefunden, so unter anderem auch Unterschriften von Verstorbenen, und ihnen deshalb die Zulassung verweigert. Das kann man trefflich kritisieren, nur muss es ja irgendwelche Regeln geben. Und während die deutschen Medien solche Formfehler in Russland lautstark kritisieren, sehen sie es in Deutschland anders.
In Sachsen ist der AfD 2019 das Gleiche passiert: Wegen eines Formfehlers wurden Dutzende Kandidaten von der Parteiliste gestrichen, und möglicherweise bekommt die AfD am Ende weniger Abgeordnete, als ihr dem Wahlergebnis nach zustehen.
Es geht hier nicht um Sympathie für die AfD oder die russischen Kandidaten, ich will lediglich aufzeigen, wie unterschiedlich die deutschen Medien auf vergleichbare Vorgänge reagieren. Putin und Russland sind für sie böse, da wird ein solcher Vorgang lautstark kritisiert. Die AfD hingegen mögen die deutschen Medien nicht, und ein solcher Vorgang wird mit einer gewissen Häme zur Kenntnis genommen. Wenn die Medien sich als objektive Beobachter und Berichterstatter verstehen würden, müssten sie in beiden Fällen gleich reagieren.
Tun sie aber nicht, wie zwei Artikel im Spiegel zeigen. Zum Thema AfD titelte der Spiegel „AfD in Sachsen — Ein Formfehler und seine Folgen“ und schrieb als Einleitung19:
„Wegen eines Formfehlers umfasst die Landesliste der AfD für die Wahl in Sachsen nur noch 18 Plätze — die Partei wird aber wahrscheinlich mehr Mandate gewinnen. Was bedeutet das für die Rechtspopulisten?“
Zur Situation in Moskau lautete der Titel: „Opposition in Russland — ‚Sie stehlen unsere Wahlen‘“. Der Artikel begann so20:
„Russlands Regierungspartei ist im Umfragetief. Vor den Regionalwahlen im September werden Oppositionelle deshalb erst gar nicht zugelassen — wie in der Hauptstadt Moskau.“
Dabei könnte diese Einleitung auch für Sachsen gelten, denn dort wird die Wahlkommission von den etablierten Parteien dominiert, die gerade im Umfragetief sind und ihren, in den Umfragen führenden, Gegner aus der Opposition enorm geschwächt haben.
Wie gesagt, ich unterstütze keine Partei und stehe keiner Partei nahe, aber dieses Beispiel macht deutlich, wie in den deutschen Medien ein Formfehler mal okay ist und mal ein Skandal.
Nun könnten die Oppositionellen in Moskau, so wie in Sachsen auch, zum Gericht laufen und die Entscheidung anfechten. Tun sie aber nicht. Stattdessen riefen sie zu Protesten auf.
Und wie reagiert der böse russische Staat? Er lässt die Demonstration zu. Nur eben nicht dort, wo die Organisatoren es wollten.
Moskau ist eine Zwölfmillionen-Metropole mit Staus wie in New York. Die Demonstranten wollten auf dem Gartenring demonstrieren, einem innerstädtischen Autobahnring rund um das Moskauer Stadtzentrum. Er ist zwölfspurig und eine der wesentlichen Verkehrsadern der Innenstadt. Ihn zu blockieren, würde zum Verkehrsinfarkt führen.
Daher schlugen die Behörden eine andere wichtige Hauptstraße im Moskauer Zentrum für die Demo vor. Aber das lehnten die Organisatoren ab. Der Grund ist einfach: Es finden in Russland immer wieder genehmigte Demonstrationen gegen die Regierung statt, nur sind diese für die westlichen Medien uninteressant, weil es dabei zu keinen kamerawirksamen Zwischenfällen kommt. Daher wird selbst über große Demonstrationen in Moskau in den westlichen Medien nicht berichtet. Dass die Opposition in Moskau ungestört demonstrieren kann, würde die Legende vom Unterdrückungsstaat Russland beschädigen. Das muss der Zuschauer der Tagesschau also auch nicht erfahren.
Statt also am genehmigten Ort zu demonstrieren, versammelten sich die Demonstranten am 3. August an verschiedenen Orten und versuchten, zum Gartenring durchzukommen, um sich dort zu vereinen.
Warum haben die Demonstranten im Unterdrückungsstaat Russland keine Angst, zu einer nicht genehmigten Demonstration zu gehen?
Der Grund liegt — das wird viele überraschen — im liberalen Versammlungsrecht Russlands. Während in Deutschland Verstöße gegen das Versammlungsrecht Straftaten sind und mit bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft werden können, sind das in Russland nur Ordnungswidrigkeiten — also wie Falschparken.
Wer bei so einer nicht genehmigten Demonstration festgenommen wird, der wird nur zur Feststellung der Personalien auf die Wache gebracht und ist nach ein paar Stunden mit einem Bußgeldbescheid wieder auf dem Weg nach Hause. Erst im Wiederholungsfall drohen bis zu 30 Tage Ordnungshaft. Auch das ist aber keine Straftat und gilt nicht als Vorstrafe. Es bleibt eine Ordnungswidrigkeit. Wer es sich also leisten kann, mal 30 Tage lang nicht erreichbar zu sein, hat auf einer nicht genehmigten Demonstration in Russland nichts zu befürchten und kann immer wieder gegen das Versammlungsrecht verstoßen, zum Beispiel als Student in den Semesterferien.
Oder auch als „Oppositionspolitiker“, der diese Festnahmen medial ausschlachten kann.
Das zeigen auch Fotos von Demonstranten, die von der Polizei am 3. August abgeführt wurden. Sie scheinen das Ganze recht lustig zu finden. Solange man keinen Widerstand gegen die Staatsgewalt leistet, kann einem nichts passieren.
Übrigens ist das auch die Masche von Alexei Navalny. Der ruft immer an Feiertagen zu Demonstrationen auf, und zwar an Orten, an denen Volksfeste stattfinden. Das wird natürlich abgelehnt, und die von der Stadt angebotenen alternativen Standorte lehnt er ab. So wird er immer an russischen Feiertagen kamerawirksam festgenommen, sitzt danach 14 bis 30 Tage Ordnungshaft ab, und das Spiel beginnt von vorne. Aber dieses Vorgehen garantiert ihm ständige Aufmerksamkeit in den westlichen Nachrichten.
Was in Deutschland ebenfalls nicht berichtet wurde, ist, dass bei den Demonstrationen in Moskau circa die Hälfte derer, die vorübergehend in Gewahrsam kamen, gar nicht in Moskau leben. Man fragt sich also, warum Leute, die von der regionalen Wahl nicht betroffen sind, dort hinreisen, um zu demonstrieren.
Um das zu verstehen, muss man nur die deutschen Medien aufmerksam lesen. Im Zusammenhang mit den Demonstrationen war immer wieder die Rede von der „Bürgerrechtsorganisation OVD“. Klingt gut, oder? Diese Organisation meldet den deutschen Medien die Zahlen der Festgenommenen, die regelmäßig höher sind als die Zahlen der Polizei.
Das Problem dabei: Die OVD ist keine russische „Bürgerrechtsorganisation“, sondern ein vom Westen finanziertes Propagandainstrument.
Und das ist keine russische Propaganda, wie die Organisation sich selbst auf ihrer Webseite darstellt.21 Nach ihren eigenen Angaben wird die OVD von der EU-Kommission, der Heinrich-Böll-Stiftung und der französischen Botschaft in Moskau finanziert. Und mit Bedauern stellt die OVD auf ihrer Seite auch fest, dass das National Endowment for Democracy und die Open Society Foundation von George Soros in Russland nicht mehr tätig sein dürfen, denn diese hätten die OVD früher finanziell unterstützt.
Diese Feinheiten werden dem Leser der westlichen Medien jedoch vorenthalten. Und wer sich mit dem Maidan und ähnlichen Farbrevolutionen beschäftigt hat, erkennt an der Liste der Sponsoren der OVD das Who‘s who der Farbrevolution-Unterstützer. Auch damals haben diese dafür gesorgt, dass reichlich Demonstranten aus dem Land zum Beispiel zum Maidan kamen, so wie wir nun auch viele Auswärtige bei den Moskauer Demonstrationen sehen. Nach den Erfahrungen der Orange Revolution, dem Maidan oder auch der Rosenrevolution in Georgien hat Russland allen Grund, schnell durchzugreifen. Wie wir sehen: nicht hart durchzugreifen, sondern einfach nur schnell und konsequent.
Denn im Gegensatz zu den Demonstrationen der Gelbwesten in Frankreich, wo die Polizei Tränengas, Wasserwerfer und Gummigeschosse gegen die Demonstranten einsetzt, geht es in Russland friedlich zu. Die Polizisten führen die Leute ab, und selbst Gummiknüppel kommen praktisch nie zum Einsatz. Tränengas und Wasserwerfer haben die Demonstranten in Russland noch nie erlebt, von Gummigeschossen ganz zu schweigen.
Wie friedlich es in Moskau zuging, sieht man daran, dass der einzige, der nach der Demonstration eine Nacht im Krankenhaus verbringen musste, ein Polizist war, dem bei der Verhaftung eines Demonstranten die Schulter ausgerenkt worden war.
Ein weiteres Klischee über Russland ist, dass die Medien über solche Proteste nicht berichten. Das stimmt ebenfalls nicht, weil das russische Fernsehen ausführlich und landesweit berichtet hat. Das ist erstaunlich, denn im Grunde waren es kleine und unwichtige Demonstrationen, die es in den vergangenen Wochen in Moskau gegeben hat. In einer Stadt mit mehr als zwölf Millionen Einwohnern haben sich zwischen 1.000 und 4.000 Demonstranten eingefunden. Zum Vergleich: Berlin hat vier Millionen Einwohner, das wäre entsprechend so, als wenn sich in Berlin circa 300 bis 1.300 Demonstranten versammeln.
Wäre das ein Bericht in bundesweiten Nachrichtensendungen wert? Oder würden die Medien gar von einem „Massenprotest“ gegen Merkel sprechen? Wohl kaum! Aber die deutschen Medien bauschen die Proteste in Moskau zu Massenprotesten gegen Putin auf. Dabei geht es nicht einmal um Putin, sondern um eine Regionalwahl.
Aber das russische Fernsehen berichtet trotzdem ausführlich. Einen Bericht über die Demonstration vom 3. August habe ich übersetzt.22 Wie man sieht, waren viele Demonstranten bewaffnet, das passt so gar nicht ins Bild der „friedlichen Demonstranten“, das die deutschen Medien zeichnen wollen. Die Tagesschau traute sich deshalb auch nicht, von unbewaffneten Demonstranten zu sprechen. In ihrem Bericht hieß es sinngemäß, sie hätten keine bewaffneten Demonstranten gesehen — das klingt nach der Methode der drei Affen: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. So kann man sich immer herausreden.
Besonders deutlich wurde die Absicht, Russland in ein schlechtes Licht zu rücken, beim Spiegel. Am 3. August titelte Spiegel-Online: „Festnahmen bei Demo in Moskau — Das Volk spaziert, der Staat eskaliert“23
Ich finde es immer interessant, wie sich die Überschriften nach der Veröffentlichung eines Artikels verändern. Das kann man nämlich anhand der Internetadresse des Artikels feststellen. So auch dieses Mal. Der ursprüngliche Titel lautete: „Russland — Opposition spaziert in Moskau gegen die Regierung“. Das war der Spiegel-Redaktion dann aber offensichtlich zu harmlos, man muss Russland ja als böse darstellen. Also wurde die Überschrift dramatischer formuliert. Dass „der Staat eskaliert“, und zwar gegen das „spazierende Volk“, hatte dann den gewünscht bösen Ton. Dass es anders herum war und die Demonstranten Polizisten beschimpften und beleidigten sowie teilweise bewaffnet zur Demo gingen, das braucht der deutsche Leser ja nicht zu erfahren.
Über die Ereignisse vom 3. August habe ich auf meiner Seite Anti-Spiegel.ru ausführlich berichtet. Und alle Medien in Deutschland auch. Aber haben Sie etwas von der Demonstration in St. Petersburg gehört, die am gleichen Tag stattfand? Nein? In Petersburg hatten sich circa 1.000 Demonstranten versammelt und sich mit den Moskauer Demonstranten solidarisiert.24
Warum haben wir in Deutschland davon nichts in den Medien gehört?
Ganz einfach: Die Demonstration war genehmigt und verlief ohne Zwischenfälle, weil die Demonstranten dort protestierten, wo es genehmigt war. Und zwar auf einem großen Platz vor einem wichtigen Bahnhof, direkt am Ufer der Neva gegenüber dem Stadtzentrum.
Natürlich berichteten die deutschen Medien nicht, dass in Russland ganz legal und problemlos demonstriert werden darf, wenn man sich an die Genehmigung der Behörden hält — so wie in Deutschland auch.
Und während die EU am Sonntag nach der Demonstration medienwirksam forderte, alle 600 Festgenommenen sollten sofort freigelassen werden, waren diese fast alle schon wieder zu Hause. Nur einige wenige, denen Widerstand gegen die Staatsgewalt vorgeworfen wird, waren noch auf Polizeiwachen.
Nun noch zu der Wahl, um die es bei den Demonstrationen ging. In Russland gibt es einmal jährlich einen „großen Wahltag“, an dem alle regionalen Wahlen abgehalten werden.
Um die Wahl einzuordnen, muss man aber den Unterschied zum deutschen Wahlsystem kennen. Die Parlamente der Oblaste (in Deutschland wären es die Landtage) werden nicht nach Parteilisten gewählt, sondern es werden Direktkandidaten gewählt, die natürlich zum Teil Parteien angehören und von ihnen unterstützt werden, aber es gibt auch unabhängige Kandidaten. Die Gouverneure (in Deutschland wären es die Ministerpräsidenten der Länder) werden hingegen direkt vom Volk gewählt und nicht vom Parlament.
Vor allem bei den Wahlen zum Gouverneur spielen daher „bundespolitische“ Themen keine so große Rolle wie in Deutschland bei Landtagswahlen. Die Menschen haben in dem Gouverneur jemanden, den sie direkt und persönlich für Erfolge und Misserfolge verantwortlich machen können. Wenn Schulen oder Lehrer fehlen, die Infrastruktur schlecht ist und nicht verbessert wird, wenn es nicht genügend Kindergartenplätze gibt, dann sehen sie die Verantwortung beim Gouverneur – im Guten wie im Schlechten. Und da diese Themen die Menschen direkt betreffen, sind die Wahlentscheidungen bei den Gouverneurswahlen viel stärker abhängig von regionalen Themen als von „bundespolitischen“ Themen.
Es gibt auch einen Amtsbonus, vergleichbar mit dem „Kanzlerbonus“ in Deutschland. Überall auf der Welt wählt ein Teil der Menschen automatisch den Amtsinhaber, frei nach dem Motto „da weiß ich, was ich habe“. Und wenn in Russland im Laufe des Jahres ein Gouverneur – warum auch immer – aus dem Amt scheidet, ernennt der Kreml einen kommissarischen Gouverneur, der sich dann im nächsten September zu Wahl stellen muss. Der hat mit dem Amtsbonus natürlich einen Vorteil, und wenn er in den Monaten zuvor einen halbwegs guten Job gemacht hat, wird er in der Regel auch gewählt.
So kann der Kreml durchaus einen gewissen Einfluss nehmen. Aber das bedeutet nicht, dass alle Gouverneure der „Kreml-Partei“ Einiges Russland angehören. Der Kreml hat ein großes Interesse daran, dass die Leute im Land zufrieden sind, und wenn ein geeigneter Kandidat von einer anderen Partei kommt, wird er zum kommissarischen Gouverneur ernannt – Hauptsache, den Menschen in der Region geht es gut und sie sind zufrieden. Unruhen und Proteste findet keine Regierung der Welt gut, auch der Kreml nicht.
Und so werden viele Gouverneure von anderen Parteien gestellt, und die Gouverneurswahlen haben kaum eine Aussagekraft über die Zufriedenheit mit der Politik der russischen Regierung. Übrigens haben bei den Gouverneurswahlen die Amtsinhaber alle mehr oder weniger deutlich gewonnen.
Anders ist es mit den Regionalparlamenten. Auch wenn die Kandidaten direkt gewählt werden, schauen die Leute durchaus darauf, welcher Partei sie angehören. Aber es ist denkbar schwierig, hier die Wahlen zu 13 Regionalparlamenten und 22 Stadtparlamenten kurz zusammenzufassen. Insgesamt kann man sagen, dass die Regierungspartei Einiges Russland stärkste Partei geblieben ist und dass die Kommunisten ihren zweiten Platz in der politischen Landschaft wieder sicher bestätigt haben. Es gab also keine großen Überraschungen, und auch Protestwahlen haben keine sichtbare Rolle gespielt. Im Großen und Ganzen haben die Kandidaten der „etablierten“ Parteien gewonnen.
Aber in einigen Regionen wurde die Regierungspartei Einiges Russland auch abgestraft und kam kaum über zehn Prozent.
In Moskau, das in den letzten Wochen Schlagzeilen gemacht hat, gingen 25 der 45 Sitze im Stadtparlament an Kandidaten von Einiges Russland. Die Kommunisten bekamen 13 Sitze, und die pro-westliche und wirtschaftsliberale Partei Jabloko erhielt vier Sitze. Einen davon bekam übrigens der zunächst abgelehnte Kandidat Mitrochin, der gegen die Entscheidung der Wahlkommission, die seine Kandidatur ablehnte, erfolgreich Einspruch erhoben hatte. Die Partei Gerechtes Russland bekam drei Sitze.
Was nach einem Wahlsieg für Einiges Russland in Moskau klingt, ist in Wahrheit eine Klatsche, denn sie haben in Moskau 13 Sitze an die anderen Parteien verloren. Das ist jedoch nicht überraschend, denn die Großstädte gelten nicht als Hochburgen der Regierungspartei.
Aber die regionalen Unterschiede bei den Wahlergebnissen sind groß, ähnlich wie auch in Deutschland die Bundesländer oft sehr unterschiedlich wählen, was eine übergreifende Einordnung der Wahl schwierig macht.
Da die deutschen Medien den Ausschluss von Kandidaten gerne als „undemokratisch“ bezeichnen, sei auf eine Meldung des MDR hingewiesen.25 Dort wurde Ende August berichtet, dass zur Landtagswahl in Thüringen zehn Kandidaten und eine ganze Partei nicht zugelassen wurden:
„Zehn Bewerber wurden nicht zugelassen, weil Unterlagen fehlten. (…) Nicht dabei sind die Freien Wähler. Die Partei hatte ihre Landesliste nicht fristgerecht beim Landeswahlleiter eingereicht. Damit kann die Partei nicht mit Zweitstimme gewählt werden. (…) Landeswahlleiter Günter Krombholz hatte MDR THÜRINGEN vor der Sitzung gesagt, über das Thema Freie Wähler werde nicht weiter gesprochen. Wer nicht fristgemäß abgegeben habe, sei automatisch raus.“
Regeln über die Einreichung der nötigen Unterlagen für eine Kandidatur sind also kein russisches Phänomen, aber die Medien in Deutschland zeichnen ein anderes Bild. In Russland sind einige Kandidaten wegen fehlerhafter Unterlagen nicht zugelassen worden, aber sie hatten wenigstens noch ein Einspruchsrecht, und das Beispiel von Mitrochin, der das Recht als einziger Kandidat in Moskau genutzt hatte, zeigt, dass es auch funktioniert.
In Deutschland sind die Regeln strenger, da wurde eine ganze Partei (die Freien Wähler) wegen fehlender Unterlagen gar nicht erst zur Wahl zugelassen, und sie hat kein Recht, das anzufechten.
Nun noch etwas zu Unregelmäßigkeiten bei Wahlen. In Russland werden alle gemeldeten Unregelmäßigkeiten veröffentlicht und verfolgt. In allen Wahllokalen besteht Kameraüberwachung, die Bilder werden auch live ins Internet übertragen, jeder kann also jedes Wahllokal beobachten. Darüber hinaus waren über 10.000 Wahlbeobachter im Einsatz – sowohl Bürgerrechtsgruppen als auch Parteien schicken ganze Armeen von Beobachtern los. Hinzu kommen noch Beobachter ausländischer Organisationen wie der OSZE. Es sind jedoch keine nennenswerten Unregelmäßigkeiten bekannt geworden, obwohl kurz nach der Wahl 3.654 Beschwerden dazu eingegangen sind und elf Strafverfahren eröffnet wurden. Jedoch hatten diese keinen Einfluss auf die Wahlergebnisse.
2018 war das anders. Da hatte, nachdem es zu Unregelmäßigkeiten gekommen war, die Chefin der Wahlkommission, Ella Pamfilowa, die Wahlsiege von Kandidaten der Regierungspartei annulliert und neu wählen lassen.
Bleibt noch die Wahlbeteiligung. Die ist in Russland bei solchen Wahlen generell niedrig und schwankt auch sehr stark. In einigen Regionen lag sie bei kaum über 20 Prozent, in anderen war sie jedoch weit höher. Russlandweit lag sie bei etwas über 41 Prozent, was im Vergleich zum letzten Jahr ein Anstieg um 3,5 Prozent ist. Diese großen Unterschiede sind auch darin begründet, dass die Wahlbeteiligung bei Wahlen von Gouverneuren höher ist als zum Beispiel bei Stadtparlamenten. In Moskau, das angeblich so heftig protestiert hatte, lag die Wahlbeteiligung bei der Wahl zum Stadtparlament bei nur 21,77 Prozent.
Und von den tausenden Demonstranten, die nach Angaben der deutschen Medien verhaftet worden sind, wurde nur gegen weniger als 20 Anklage erhoben, weil ihnen Sachbeschädigung, Widerstand gegen die Staatsgewalt oder andere Straftaten zur Last gelegt wurden, die auch in Deutschland strafbar sind.
Für die meisten anderen war die Sache nach der Zahlung eines Bußgeldes erledigt.
19 https://www.spiegel.de/politik/deutschland/afd-in-sachsen-mit-nur-noch-18-listenplaetzen-was-bedeutet-das-a-1276019.html
20 https://www.spiegel.de/politik/ausland/russland-wie-bei-der-wahl-in-moskau-gegen-oppositionelle-vorgegangen-wird-a-1277466.html
21 https://ovdinfo.org/about/our-partners
22 https://www.anti-spiegel.ru/2019/wie-das-russische-fernsehen-ueber-die-proteste-in-moskau-berichtet/
23 https://www.spiegel.de/politik/ausland/russland-opposition-spaziert-in-moskau-gegen-die-regierung-a-1280350.html
24 https://tass.ru/obschestvo/6730371
25 https://www.mdr.de/thueringen/wahlen-politik/parteien-zur-landtagswahl-100.html