Читать книгу Die Erfindung der Welt - Thomas Sautner - Страница 14
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ОглавлениеNachdem mir Elli ihr Jawort gegeben hatte, mit eiserner Miene, als meldete sie sich zu einem Selbstmordkommando, und dieses Jawort auf mein ungläubiges Nachfragen hin bestätigte und nochmals bestätigte – ja, sie meine es ernst, ja, sie sei sich völlig sicher –, freute ich mich natürlich. Doch meine Erfahrung sagte mir, dass Elli, sobald es ernst werden würde, einen Rückzieher machen könnte. Es war mir schon oft so ergangen mit Informanten, noch öfter mit möglichen Romanfiguren. Wobei – und das ist gut zu wissen, falls Sie einmal einer Autorin oder einem Autor begegnen – Rückzieher ohnehin zwecklos sind, schon ab dem ersten Aufeinandertreffen. Für Rückzieher ist es zu spät von Anfang an. Sobald Sie als Vorlage für eine Romanfigur ausgewählt werden, und sei es nur ein Aspekt von Ihnen, eine winzige Eigenart oder ein einziges äußerliches Merkmal, ist es um Sie geschehen. Mein Schriftstellerfreund treibt diese unter uns Autoren selbstverständliche Chuzpe gerne auf die Spitze, indem er eigens von jenen nicht ablässt und sie in ein schräges Licht stellt, die sich wehren, Teil seiner Romane zu werden, oder die versuchen, ihm durch Nichtbeantworten seiner Gesprächseinladungen zu entgehen. Antilopentechnik (davonrennen) – zwecklos bei ihm, Igeltechnik (zusammenkauern und verschanzen) – zwecklos, Spinnentechnik (totstellen) – zwecklos, Katzentechnik (wehren, kämpfen, kratzen) – völlig zwecklos. Denn ihre Seele kann nicht davonlaufen, und die hat sich dieser Teufel schon im allerersten Moment des Kennenlernens gekrallt und um sie baut, modelliert, arrangiert er sie im Roman gänzlich neu. Wie einer dieser skrupellosen Labortechniker ist er, wie jene Götter in Weiß, die aus einem Hauch von Information ein Lebewesen zaubern. Ich bin da weicher, ich respektiere Rückzieher, hin und wieder.
Doch Elli, meine Elli, war nicht die Frau, die Rückzieher machte. Elli war die Frau, die sich in jungen Jahren entgegen guten, vielen guten Gründen für die Hochzeit mit Graf Leopold von Hohensinn entschieden hatte – und sie war nach wie vor seine Ehefrau, entgegen vielen guten Gründen. Elli war zudem die Frau, die vor langer Zeit für sich beschlossen hatte, die Rolle der Elisabeth von Hohensinn zu spielen – und sie spielte die Rolle nach wie vor, akzeptierte die auf ihr lastende Entscheidung. Und nun: Nun war sie die Frau, die das Zusammentreffen mit einer eben erst kennengelernten Schriftstellerin zum Anlass genommen hatte, sich in die Tiefen eines Romans fallen zu lassen.
»Ich bin wie gezwungen, es zu tun«, sagte Elli. »Weil: Worauf sollte ich warten? Darauf, dass ich älter und feiger werde? Soll ich so lange zuwarten, bis ich ausreichend vorsichtig bin, um es nicht mehr tun zu müssen, so lange, bis ich vergessen habe, dass mein Leben mir gehört?«
Das war eine starke Antwort. Doch ich traute ihr nicht. Elli traute ich, doch dieser Antwort traute ich nicht. Sie war, wie soll ich das erklären … sie war: zu gut. Zu prall. Irgendetwas Zusätzliches, Verborgenes musste in ihr stecken.
»Wirklich?«, fragte ich. »Das ist die Essenz auf meine Frage, warum du das Risiko eingehst, ausgerechnet jetzt das wahnwitzige Risiko, dein Leben vor mir auszubreiten, Seite für Seite?«
Die Frage war rüde. Als legte ich es darauf an, einen Rückzieher Ellis zu provozieren. Tatsächlich aber gehören derlei Fragen zu meinem Standardprozedere. Es geht darum, einen Überraschungsmoment zu verursachen, einen Rhythmuswechsel im Denken. Wenn ein Gesprächspartner glaubt, alles bedacht und abgewogen zu haben, glaubt, sich alles gefragt zu haben, komme ich. Und stelle hinter allen Fragen: noch eine. Mitunter stellt das alles auf den Kopf.
»Du verschweigst doch etwas, Elli; mir oder dir. Was ist es? Was ist die Ursache, was der geheime Auslöser für deinen Mut?«
Ihre Pupillen. Plötzlich weit! Elli lauf, lauf schnell! Elli renn! Renn davon! Wer ist das hinter dir?! Schau doch, hinter dir! Elli!
Ich sah sie an – und da geschah er, der Moment, in dem sie sich eingestand, was sie längst wusste. Als hätte jemand, wer mochte es sein?, einen Kiesel in hohem Bogen in die Richtung ihres Teiches geworfen. Und jetzt erst, in diesem Augenblick, ließ Elli zu, dass dieses seltsam Handwarme, Weiche – hart in sie fiel. Es ging durch die Oberfläche des Teiches, sank ein, berührte das Wasser, sank, bis auf den Grund. Ein Innehalten, ein Sprung ihres Herzens, sich spiegelnd in blauen Augen.
Und dann?
Dann Ruhe.
Ein schmerzliches Lächeln, Dankbarkeit.
Der Teich. Still nun wieder.
Wie unberührt.
Sie hatte mich nicht belogen. Ihre Antwort hatte bloß versucht, mich und sie, ja, uns beide, dort zu belassen, wo wir nichts anrichten konnten. Doch nun hatte Elli alles durchschaut.
»Ich kann«, sagte sie und sah auf, »ich möchte dir den wahren Grund nicht erzählen, ich will dir nicht sagen, warum ich ausgerechnet jetzt bereit bin, alles zu riskieren. Ich mache Gebrauch von der Ausnahmeregelung.«
Für unsere Gespräche, das hatte ich von Beginn an klargemacht, würden zwei Spielregeln gelten. Erste Spielregel: Auf alle meine Fragen würde Elli rückhaltlos ehrlich antworten. Zweite Spielregel: Wäre ihr das aus einem außergewöhnlichen Grund nicht möglich, würde sie nicht schwindeln, sondern von der Ausnahmeregelung Gebrauch machen und somit nicht antworten müssen. Diese Ausnahmeregelung durfte Elli, so hatten wir es ausgemacht, dreimal anwenden. Nur dreimal, solange meine Romanrecherchen auch immer dauern mochten.
Und nun hatte sie einen ihrer raren Joker eingesetzt. Elli hob den Kopf, drehte das Gesicht ein wenig weg von mir. Ihr Ausdruck war der eines Kindes, eines Kindes, wie ich es einmal gewesen bin. Eines Kindes, das wusste, dass es wegen seines Entschlusses auf Ablehnung stoßen würde, das aber nur so handeln konnte. Und das auch ein wenig überrascht war über sich und stolz und zufrieden, der hinzugekommenen Selbständigkeit wegen.
Ich sah sie an. Wie sehr ich sie mochte, dabei kannte ich sie doch noch gar nicht. Vielleicht war es auch, weil sie mir ihr Kindheitsgesicht gezeigt hatte. Wenn mir jemand sein Kindheitsgesicht zeigt, ohne sich dessen bewusst zu sein, bin ich verloren, dann kann er oder sie alles von mir haben. Gegen diese zarte Verletzlichkeit, diese Unmittelbarkeit, diese Wahrheit komme ich nicht an.
Das Gesicht unserer Kindheit. Alles ist darin enthalten, alles, was noch kommen mag, alles, was wir lieben und fürchten. Und auch alles, was wir uns nicht zu wünschen wagen. Und deshalb nie bekommen.
Das Gesicht unserer Kindheit, es ist auch das Gesicht unserer Herkunft, einerlei woher wir kommen, einerlei wer unsere Ahnen waren. Das Gesicht unserer Kindheit, darin gleichen wir uns.
Ich spielte die Empörte. »Was?! Bei meiner allerersten, ein bisschen tiefer gehenden Frage flüchtest du schon in die Ausnahmeregelung?!«
»Ja, feige, nicht wahr?« Elli hob die Schultern, amüsiert und wie machtlos, als hätte auch sie selbst eben erst erfahren von ihrer Entscheidung.
Die Ausnahmeregelung war nicht nur ein Zugeständnis von mir gewesen. Es war auch eine Möglichkeit, meine liebe Gräfin Elisabeth von Hohensinn unbemerkt zu testen. Ja, so eine bin ich. Und nun wusste ich, Elli würde ehrlich sein. Anstatt zu flunkern, hatte sie von der Ausnahmeregelung Gebrauch gemacht. Für mich war damit eine neue Wahrheit in der Welt: Wenn Elli etwas zusagte, hielt sie sich daran. Im Zweifelsfall würde dieser Frau ihr Wort wichtiger sein als ein rascher Vorteil. Insofern war an ihr eine Schriftstellerin verloren gegangen.
»Nun, Elli, wenn die Ausnahmeregelung jetzt schon notwendig ist, jetzt schon, bevor wir noch richtig losgelegt haben … sei’s drum.« Ich seufzte theatralisch. Und dann, es lag mir schon länger auf den Lippen, und jetzt, jetzt musste es raus: »Scheiß doch der Hund drauf!«
Wir sahen uns an – und prusteten los, Elli befreiter noch als ich.
Aristokraten reden nicht, wie wir uns das ausmalen. So, wie wir uns das ausmalen, reden Aristokraten womöglich, wenn wir dabei sind und sie unter Beobachtung stehen. Dann veranstalten sie für uns so etwas wie einen Maskenball. Dann sind sie wie alle Menschen, spielen die Rolle, die ihnen zugefallen ist, nur dass ihre Rolle außergewöhnlicher ist als die unsere, scheiß doch der Hund drauf. Apropos: Sind Grafen und Gräfinnen unter sich, lernte ich von Elli, sagen sie keinesfalls Toilette. Um Stil bemüht Toilette sagt nur der Pöbel, also unsereins. Unter Fürstinnen und Fürsten heißt der Ort, zu dem selbst der Kaiser zu Fuß sich hinbegab, Klo. Einfach Klo. Oder – Referenz an die Zeit, als das Klo noch ein Holzverschlag außerhalb der Wohnräumlichkeiten war, Häusl. Profan Häusl. So einfach ist das, unter Aristokraten.
Elli führte mich vom Wohnzimmer die geschwungene Steintreppe nach oben, wobei Elli zum Wohnzimmer Salon sagte.
Zur Toilette sagte sie zwar prosaisch Klo oder Häusl, zum Wohnzimmer aber Salon. So kompliziert ist das, unter Aristokraten.