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PROLOG - G -

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Das Leben ist ein fremder Ort, weit aus der Zeit. Bis es dich unversehens packt, mitreißt und in eine Gegenwärtigkeit schießt, die dein Innerstes nach außen kehrt, dein Herz rasen lässt, dich an Neuland schwemmt.

»An Neuland wie einen Lurch?«

»Oh ja, wie einen Lurch. Einen, der japsend froschig erwacht und um sich blickt und staunt, als wär’s sein erster Tag, und der die neue Welt vor lauter Glück gar nicht glauben kann.«

So blödelten wir, doch das war später, als wir einander schon besser kannten. Zuvor steckten wir noch in einer anderen Atmosphäre fest, lief es noch so: »Ein Froschmännchen denkt vierundsechzigmal am Tag an Sex, ein Froschweibchen einmal öfter.« Wie beiläufig sagte er das so dahin. Als hätte er zufällig einmal mitgezählt! Ich beließ den Blick auf dem Spiegel des Teichs, umschlang meine zur Brust gezogenen Knie und überlegte einen Konter.

»Der Mensch«, sagte ich und sah ihn an, »ist die einzige Tierart, die so tut, als dächte sie überhaupt nicht daran. Ein Menschenweibchen trifft auf ein Menschenmännchen, denkt an Sinnlichkeit und beginnt in der Sekunde danach ein Gespräch übers Wetter. Oder ein Menschenmännchen: trifft auf ein Menschenweibchen und erzählt irgendwelche Fantasiegeschichten über Frösche.«

Die Parade saß. Er blickte mich stutzig an, machte »hm« und schwang sich auf die Beine.

Lange saß ich allein. Über mir stand der zunehmende Halbmond und wunderte sich kein bisschen.

An jenem Abend war ich seit etwa zwei Wochen in der Gegend. Seit zwei Wochen auf Recherche für einen Roman, von dem ich noch nicht wusste, ob ich ihn schreiben würde. Begonnen hatte es mit diesem Brief.

Sehr geschätzte Aliza Berg!

Erlauben Sie, dass ich sofort zu meinem Anliegen komme. Mein Wunsch ist, Sie mögen in meinem Auftrag, doch in völliger literarischer Freiheit, einen Roman schreiben. Zwei Bitten erlaube ich mir zu äußern. Der Roman soll das Leben zum Thema haben. Ist das nicht ohnehin das Größtmögliche, das sich eine Schriftstellerin vornehmen kann, liebe Aliza Berg? Und ist es nicht auch so, dass Literatur geradezu die Pflicht hat, aufs Ganze und gegen jede Vernunft immer nur aufs Ganze zu gehen? Die höchsten Gipfel, die hellsten Himmel? Das Leben – seine Geheimnisse, die offenkundigen und die verborgenen.

Ich kenne und liebe Ihren Roman »Selatura«, daher bin ich gewiss, dass Sie, geschätzte Aliza Berg, mehr als nur ausreichend Verstand und Gefühl mitbringen für dieses Vorhaben, und darüber hinaus etwas Entscheidendes: einen frischen, unvoreingenommenen Blick.

Beiliegend finden Sie eine Landkarte, und damit komme ich zu meiner zweiten Bitte. Mein Wunsch ist, dass Sie das Leben exemplarisch anhand der auf dieser Karte markierten Region und aller ihrer Bewohner beschreiben, dass Sie dem Leben hinter die Kulissen blicken, es erforschen, gleichsam mit Mikroskop und Teleskop, es mit unbestechlichen Augen wie neu entdecken – und damit womöglich erstmals wahrhaftig.

Sehr geschätzte Aliza Berg, Geld spielt in dieser wichtigen Sache keine Rolle, es wäre mir eine Ehre, die Sie mir hoffentlich gewähren, mich gebührend für Ihre Arbeit zu bedanken. Vorerst habe ich mir erlaubt, einen fünfstelligen Geldbetrag auf Ihr Konto zu überweisen. Sie alleine entscheiden, ob es sich dabei um eine erste Anzahlung handelt oder – sollten Sie zu meinem Bedauern kein Interesse für dieses Romanprojekt hegen – um ein Geschenk, eine symbolische Wertschätzung Ihres bisherigen literarischen Werkes.

Zuletzt verzeihen Sie bitte, dass ich meinen Namen nicht nenne. Er spielt keine Rolle, nie spielen Namen eine Rolle, nur das Werk zählt, nur das Leben. Doch das, liebe Aliza Berg, wissen Sie wohl besser als jede andere.

Hochachtungsvoll!

G.

Zuerst reagierte mein Körper. Ein Schauer strich über meinen Nacken, meine Arme. Ich duckte mich.

Dieser Brief war ein Überfall, eine Grenzübertretung und: eine verführerische Möglichkeit. Der Mensch mag aus tausend widersprüchlichen Teilchen bestehen, mein draufgängerischstes war drauf und dran, die Sache im Alleingang für mich zu entscheiden. Spring! Zögere nicht! Nimm die Einladung an! Ohne Geldsorgen und Zeitdruck tun, was du ohnehin tun willst: dem Leben ins Innerste schauen, es dir schreibend unter die Haut jagen. Spring!

Dann reagierte mein Verstand: Das Ganze ist ein Scherz, irgendein Schriftstellerkollege versucht, dich zum Narren zu halten!

Ich stieg ins Onlinebanking ein.

Der Kontostand betrug zwanzigtausendsiebenhundertfünfzehn Komma zwölf. Nach dem Eingang von zwanzigtausend. Jemand hatte mir, einfach so, zwanzigtausend überwiesen!

Wie ich mich freute! Wie es mich erleichterte! Und: welchen Schauer es mir versetzte.

Wer war dieser Mensch?

Ich griff nach dem zweifach gefalteten Brief. Wer schrieb überhaupt noch Briefe? Diesmal las ich die Zeilen langsam. Erlauben Sie, dass ich sofort zu meinem Anliegen komme. Mein Wunsch ist, Sie mögen in meinem Auftrag, doch in völliger literarischer Freiheit, einen Roman schreiben. Wie direkt, wie selbstsicher! Und das in diesem altmodisch höflichen Ton: Mein Wunsch ist, Sie mögen in meinem Auftrag … Ich stellte mir den Schreiber als älteren Herrn vor. Schon beim ersten Mal, als ich die Zeilen nur überflogen hatte, war vor meinem inneren Auge das Bild dieses sonoren Herrn mit Weste und Lesebrille aufgetaucht. Und er saß in einem Ohrensessel, ja, einem Ohrensessel wie in diesen alten Krimis, und vor ihm, das musste sein, loderte Feuer im offenen Kamin. Den Brief hatte er seinem Sekretär diktiert, der ihn auf einer museumsreifen Schreibmaschine getippt hatte, mit seinen knochigen Fingern hatte er auf die Tasten eingeklopft. Tack. Tack tack, tack.

Weil das freilich Unsinn war, beschloss ich, den Text möglichst unvoreingenommen zu lesen, in der Hoffnung, herauszufinden, wer sich dahinter verbergen mochte. Abgeklärt wie eine Forensikerin wollte ich vorgehen, wie eine Profilerin, um dahinterzukommen, was dieser Mensch tatsächlich von mir wollte, abgesehen von einem Roman, und ob ich ihm über den Weg trauen konnte. An Stil, Wortwahl und Satzmelodie wäre abzulesen, was von ihm zu halten war. Ich würde das Schreiben röntgen, Satz für Satz, Wort für Wort, und dahinter käme, nach und nach, er zum Vorschein. An seinen Worten würde ich ihn erkennen.

Zwei Bitten erlaube ich mir zu äußern. Welch zurückhaltende Höflichkeit! War sie aufgesetzt oder echt?

Gleich danach der unmissverständliche, fast gebieterisch erteilte Auftrag: Der Roman soll das Leben zum Thema haben. Ist dies nicht ohnehin das Größtmögliche, das sich eine Schriftstellerin vornehmen kann? Natürlich war es das Größtmögliche. Es abzulehnen, vom Leben zu schreiben, wäre absurd gewesen, noch dazu, weil sich unter dem Arbeitstitel Leben ohnehin über alles schreiben ließe, jede Autorin musste da zustimmen. Wo war also der Haken an der Sache?

Und dann, im ersten Absatz schon diese freundschaftliche Anrede: Nicht mehr wie zu Beginn sehr geschätzte, sondern mit einem Mal liebe Aliza Berg – was für eine Handreichung, was für eine zuckersüße Einladung. Hier schrieb jemand, der mit Worten und Stimmungen umzugehen verstand. Wozu aber brauchte er dann mich? Wieso schrieb er seinen Roman nicht selbst?

Und weshalb die nächste Passage, warum diese Moralpredigt: Und ist es nicht auch so, dass Literatur geradezu die Pflicht hat, aufs Ganze und gegen jede Vernunft immer nur aufs Ganze zu gehen? Die höchsten Gipfel, die hellsten Himmel? Das Leben – seine Geheimnisse, die offenkundigen und die verborgenen.

Worauf spielte er an? Wollte er sichergehen, dass ich ausreichend motiviert war, um aufs Ganze zu gehen? Welche Neugier sollte bei mir geweckt werden mit der Anspielung von wegen Geheimnisse, die offenkundigen und die verborgenen?

Darauf folgte, dramaturgisch schlau, eine Mischung aus Besänftigen, Ablenken und Honig-ums-Maul-Schmieren: Ich kenne und liebe Ihren Roman »Selatura«, daher bin ich gewiss, dass Sie, geschätzte Aliza Berg, mehr als nur ausreichend Verstand und Gefühl mitbringen für dieses Vorhaben, und darüber hinaus etwas Entscheidendes: einen frischen, unvoreingenommenen Blick.

Der neuralgische Moment in diesem Absatz war die als Kompliment kaschierte Ermahnung: Etwas Entscheidendes also hatte ich mitzubringen, einen frischen, unvoreingenommenen Blick. Als ob das nicht bei jeder ernst zu nehmenden Schriftstellerin vorausgesetzt werden dürfte. Die Botschaft musste also eine andere sein: Hatte der Briefschreiber Sorge, ich könnte die Szenerie vor Ort ebenso voreingenommen sehen wie alle anderen? Wovor warnte er mich?

Danach kam, der Absender machte es deutlich, die wichtigste Passage. Sie enthielt das einzige Wort im Brief, das er für nötig befunden hatte zu unterstreichen: Beiliegend finden Sie eine Landkarte, und damit komme ich zu meiner zweiten Bitte. Mein Wunsch ist, dass Sie das Leben exemplarisch anhand der auf dieser Karte markierten Region und aller ihrer Bewohner beschreiben.

Aller ihrer Bewohner. Er hatte Sorge, ich könnte jemanden übersehen. Jemand für ihn Besonderen. War es das, worauf er es abgesehen hatte? Ging es ihm im Grunde nur um einen besonderen Menschen? Wollte er mich als Spionin einschleusen? War es das, was er meinte, wenn er schrieb: … dass Sie dem Leben hinter die Kulissen blicken, es erforschen, gleichsam mit Mikroskop und Teleskop, es mit unbestechlichen Augen wie neu entdecken – und damit womöglich erstmals wahrhaftig.

Ich legte das Schreiben zur Seite und griff nach der beigelegten Kopie eines Landkartenausschnitts. Das mit Rotstift umrandete Gebiet schien unbewohntes Grenzland zu sein. Wenn ich die Schraffierungen richtig deutete, bestand die Gegend neben Wald aus nichts als Teichen und Wiesen. Großartig, der Typ war ein Spinner.

Wie als Provokation lag unmittelbar außerhalb der roten Markierung eine Ortschaft, innerhalb der von Hand gezogenen Grenze der Romanhandlung aber: nichts. Nichts als Pampagrün in verschiedenen Nuancen.

Ich nahm meine neue Hornbrille. Ich brauchte sie nicht, sah ohne sie sehr wohl noch ausreichend, hatte sie mir auch nur zugelegt, weil mir mein Augenarzt damit auf die Nerven gegangen war, aber meinetwegen, wenn es um Feinheiten ging, machte sie vielleicht einen Unterschied. Als ich mich erneut über die Karte beugte und diesmal genauer hinsah, konzentrierter, war da doch Leben. Mitten im Forst lag ein Haus und, vielversprechender, mein Möchtegern-Auftraggeber hatte mit seiner Linienziehung zwar den benachbarten Ort ausgenommen, etwas am Übergang von Wald und Ortschaft aber verschont. Auf der Landkarte war es mit Kreis und senkrechtem Fähnchen eingezeichnet. Ich brauchte keine Kartenlegende, um das Symbol zu deuten, bei dem Ding handelte es sich um eine Burg oder um ein Schloss.

Zurück zum Brief. Formvollendet wurde mir darin versichert, dass ich mir um Geld fortan keine Gedanken zu machen brauchte und nicht etwa mir, sondern diesem Briefschreiber einen Riesengefallen täte, es reichlich anzunehmen. Eine Ehre wäre es ihm, dürfte er sich für meine Arbeit gebührend bedanken. Vorerst habe er sich erlaubt, eine erste Anzahlung zu überweisen. Er tat alles, um sich als ergeben und mich als souverän darzustellen. Es war Taktik, sollte mich milde stimmen für das, was nun folgte: Dieser Mensch kannte mich mit Vor- und Nachnamen, hatte über mich recherchiert, wusste meine Adresse, meine Kontonummer, nicht auszudenken, was noch alles, doch selbst verheimlichte er seinen Namen – und rechtfertigte sich mit einem Argument, das er bei mir gestohlen hatte: Nie spielen Namen eine Rolle, nur das Werk zählt. Ja, das waren meine Worte, sie standen auf der Homepage einer Schriftstellerin, die nicht unter ihrem eigenen Namen schrieb, sondern unter dem Pseudonym Aliza Berg.

Ich weiß nicht, ob das zu verstehen ist, aber mein wirklicher Name würde mich von meiner Arbeit ähnlich ablenken wie Lärm, markantes Parfum oder auffällige Kleidung. Alle Aufmerksamkeit sollte ungeteilt der Literatur gelten. Deshalb hatte ich mir auch angewöhnt, wie Bühnenarbeiter in Opern- und Theaterhäusern ausschließlich Schwarz zu tragen. Hell im Licht stehen sollte nur das Werk.

Mit den Jahren gewährte selbst das Pseudonym Aliza Berg zu wenig Freiheit. Es war zur Marke geworden, machte sich wichtig. Meinen jüngsten Roman hatte ich deshalb ganz abgenabelt von mir, von Beginn an war vereinbart, dass er unter der Obhut und dem Tarnnamen eines befreundeten Schriftstellers erscheinen sollte, niemand außer uns und unserem Verleger wusste davon. Der Freund übernahm es sogar, Lesungen aus dem Roman zu halten und Interviews zu geben. Wir hatten kindischen Spaß daran, unser Geheimnis als Innovation zu feiern, als neue literarische Freiheit, nämlich der Freiheit des Buches von seiner Autorin.

Nie spielen Namen eine Rolle, nur das Werk zählt, nur das Leben. Doch das, liebe Aliza Berg, wissen Sie wohl besser als jede andere.

Hochachtungsvoll!

G.

Kein Absender also, das war unangenehm genug. Doch weshalb auch noch dieser provokante Buchstabe G? Was sollte das denn? G wie Gott? Hielt er sich für allmächtig? Am Anfang war das Wort? Und das Wort erschuf das Leben, erschuf einen Roman? Hochachtungsvoll G?

Oder hieß der Typ einfach Gustav? Nannte sich G wie Gönner? War ein mir unbekannter Großonkel, Großcousin? G.

Ich traute ihm nicht. Er versteckte sich zwischen den Zeilen. Dieser ältere, vermögende Herr (mit Kaschmirsakko und Schalkrawatte, im Ohrensessel vor dem offenen Kamin sitzend), dieser Bildungsbürger, Großindustrielle, Schlossherr, Burggraf, dieser wer auch immer, er führte etwas im Schilde. Es war nicht nur der Roman, der ihn interessierte. Er hatte eine versteckte Absicht. Das war meine Analyse. Und diese Analyse ergab: Nein, tu es nicht. Und unmittelbar nachdem meine Analyse das ergeben hatte, stand fest: Ich mach’s.

Sämtliche Zweifel, Argumente, Unwägbarkeiten – sie waren nebensächlich. Ich konnte einen Roman schreiben, in völliger literarischer Freiheit. Und Geld gäbe es mehr als genug.

Ich würde mich nicht von diesem Typen beeinflussen lassen. Ich war unabhängig. Ich war erfahren. Ich würde einen Roman schreiben, ein Werk. Nur das zählte.

Fahrig wie eine Getriebene, wie eine von unbekannter Macht Gehetzte, sah ich mich in der Wohnung um. Und begann zu packen. Ich würde hinfahren, einfach einmal hinfahren, mir ein Bild machen, es verpflichtete mich ja zu nichts, wo war das Risiko? Hatte ich denn groß etwas zu verlieren? Ach, was!

G, ich komme.

Die Erfindung der Welt

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